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Belgien, 2020

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Les Bon Villers lag noch im Tiefschlaf, als Marcel Bresson an diesem Morgen aufbrach, um die Strecke bis Haltern am See mit nur einer Pause zu schaffen. Ungünstigerweise gab es keine schnurgerade Autobahn zwischen den beiden Städtchen und gehetzt wollte er nicht ankommen, zu spät aber auch nicht.

Der Heimatverein hatte sich um Bresson bemüht und um einen Vortrag gebeten. Als Schriftsteller war Bresson gescheitert. Seinen Romanen fehlte der originelle Brückenschlag zwischen Wort und Fantasie. Sie lasen sich wie ein Marktstand. Man wusste, dass hinter den Bananen die Apfelsinen lagen und danach die Kirschen kamen. Geschichten dieser Art schrieb das Leben jeden Tag und man war sie leid. Vergiftetes Obst wäre des Rätsels Lösung gewesen, aber diese Erkenntnis kam zu spät. Außerdem gab es ein Erlebnis, das ihn nachdenklich gemacht hatte und weswegen er das Schreiben gänzlich an den Nagel gehängt hatte.

Während einer Lesung in der örtlichen Sparkasse von Les Bon Villers, zu der hauptsächlich Bekannte und Freunde zu seiner moralischen Unterstützung gekommen waren, hatte er mehr oder weniger spontan seinen neuen Roman beiseitegelegt und einfach drauflos erzählt. Der Abend wurde ein voller Erfolg. Zu seiner Verwunderung stellte Marcel im Nachhinein fest, dass er sich ganz und gar nicht an seinen Romantext gehalten, sondern frei nach Gefühl eine mitreißende Geschichte erfunden hatte. Der Zuspruch seiner beeindruckten Hörer veranlasste ihn daraufhin, dem Schreiben den Rücken zu kehren und sich als Geschichtenerzähler ein Zubrot zu verdienen.

Frau Marion Thüner vom Heimatverein Haltern-Sythen war auf einer Urlaubsfahrt nach Les Bon Villers auf Bresson aufmerksam geworden. Das Kulturamt der kleinen belgischen Stadt hatte im Rahmen der deutsch-belgischen Freundschaft zu einem Abend voller ­neckischer Anekdoten eingeladen. „In Deutsch“, verhieß das Plakat, und da Bressons Mutter Deutsche war, sprach Marcel infolgedessen ein französisches Deutsch, wie Fernsehzuschauer es von Alfons in Puschel TV kannten. Zu später Stunde waren Marion und Marcel an diesem amüsanten Abend auch privat ins Gespräch gekommen und man schwor sich beim letzten Glas Merlot, in Kontakt zu bleiben.

Oft sah die Realität am nächsten Morgen anders aus. Marion war ohne große Abschiedsszene zurück in ihre Heimat abgereist. Allein wegen der Distanz wäre eine Beziehung zwischen ihr und Marcel unpraktisch gewesen, obwohl sie ledig war und als Lehrerin in den frühen Sechzigern nicht wählerisch.

Für Marcel gestalteten sich die Ereignisse dieses Abends allerdings zu einem Schlüsselerlebnis. Der Applaus und die aufgeregt gackernde Gesellschaft der weiblichen Zuhörer, von denen sogar eine ein Autogramm auf ihrem Arm von ihm haben wollte, veranlassten ihn, am folgenden Tag auf den Dachboden seines Elternhauses zu steigen und in längst vergessenen und verstaubten Utensilien der Vergangenheit zu wühlen. Er suchte nichts Geringeres als die Tagebücher seines Großonkels Jules Bresson. Wie es der Zufall wollte, hatte Marcel als kleiner Junge von seinem Großonkel erfahren, dass er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Das wollte er genau wissen, vielleicht auch, weil er in den Besitz einer Geschichte gelangen könnte, die am Ende Marions Herz für ihn in Wallung bringen würde.

Die verschollene Beute

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