Читать книгу Die verschollene Beute - Wolfgang Wiesmann - Страница 4

September, 1918

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„Flambert, Jacques, links.“

Jacques verkniff sich ein Grinsen. Hätte er andernfalls wohl teuer bezahlen müssen. Vielleicht mit Karzer oder einer Monatsration Wasser statt Linsensuppe. Ohne Holzschuhe zur Zwangsarbeit war auch möglich. Gerüchte, aber er war besser auf der Hut.

Der dusselige Deutsche hatte nicht gemerkt, dass er vor jedem Neuen strammstand, während er Kostproben seines unfähigen Französischs mit seinem schlechten Atem in die überfüllte Wartehalle skandierte. Die Namen klangen, als würgte er bei jeder Silbe sauren Cider seine Kehle hinunter.

Stramm, Hacken zusammen, Knie gerade im Streckverbund und Kopf in Linie mit dem Rückgrat, Schultern nach hinten. So kam die Brust von allein raus. Alle Achtung, auf die Deutschen war Verlass. Sie standen stramm, sogar vor ihren Gefangenen.

„Der nächste Camenbert!“, trichterte der uniformierte Buchhalter in den Pulk der Wartenden. „Vortreten! L’Autreque, Pierre. Rechts.“

Jacques prustete in seine offenen Hände und spuckte, als hätte er sich verschluckt, stolperte nach vorne und rempelte den in der Reihe vor ihm stehenden unsanft an.

„Excusez moi“, sagte er beherrscht, um sein Amüsement über den zuverlässig unkorrekten Gebrauch seiner Muttersprache zu verschleiern.

Ein adjutierender Soldat schritt auf ihn zu und rammte ihm seinen Gewehrkolben in die Rippen. Jacques heulte auf, suchte Halt bei seinem Vordermann, riss an dessen Hose und fiel dennoch zu Boden, allerdings nicht ohne den Bund der Hose nach wie vor mit seiner Faust zu umklammern. Ihm blieb der Mund offen stehen, als er sich den nackten Hintern ansah. Der Anblick wurde nicht weniger peinlich, als der Mann sich umdrehte, ihm den Bund seiner Hose entriss und sich wieder bekleidete.

„Never mind“, nuschelte der Betroffene und reichte Jacques die Hand. Er nahm das Angebot an und wunderte sich, als sein Gegenüber sich mit Liam O’Flaherty vorstellte.

Sie waren allerdings noch nicht aus der Gefahrenzone heraus. Das Gerangel hatte die Wachen alarmiert, aber das Sprachgenie von deutschem Buchhalter gab Entwarnung, nicht ohne auf das Schild „Ruhe“ hinzudeuten.

„O’Flaherty“, flüsterte Jacques, „die französische Provinz muss noch entdeckt werden, wo Kerle wie du herkommen. Siehst aus wie ein normannischer Abtrünniger. Die Schlacht von Hastings habt ihr gewonnen, aber bei den Briten gab’s nur Fisch und Kartoffeln, nichts für einen Gourmet aus … woher?“

„Eire, wenn dir das was sagt. Du redest viel. Warum lebst du noch?“

„Lass mich raten. Ein verdammtes Tal im Saarland, das niemand kennt. Ihr braut Bier, statt gepflegte Weine zu verköstigen. Ich würd’s auch Eire nennen, damit man nicht gleich draufkommt, dass mein Land nicht dazugehört, zu den normalen Ländern. Unbekannt ist besser als bekannt und seelenlos.“

„Mein Land gehört nicht dazu und wird es nie.“

„Du redest, als wärst du überzeugt von dem Quatsch. Spuck endlich aus, woher du kommst.“

„Wo sind wir hier?“

„Ist es so schlimm?“, betonte Jacques. „Elsass? Normandie? Bretagne? Ist gewiss nur Spaß, dein Eire. Das wette ich. Bist du nicht stolz auf dein Vaterland? Wer kämpft auf unserer Seite, für die Trikolore, die Freiheit und das schönste Land Europas, und kommt aus Eire? Du bist kein Franzose. Sommersprossen auf dem Nasenrücken und rote Pferdehaare auf dem Kopf. Ein schottisches Langhorn, namens O’Flaherty. Warum reichst du kein Gnadengesuch ein? Ein Eire ist versehentlich in die Schützengräben der Franzosen geraten.“

„Wo sind wir hier?“, fragte Liam erneut mit Gleichmut in der Stimme.

„Er tendiert sich zu wiederholen, der Mann aus Eire. Mein Arsch möchte ein warmes Bad. Seit Sonnenaufgang sitz ich auf dem verdammten Karren. Jedes Schlagloch ein Schuss die Wirbelsäule hoch. Der Kutscher hat gepennt, die ganze Zeit. Wir sind in Wesel los, gestern über den Rhein. Heute hier. Irgendwo stand Haltern, frag mich nicht, was das bedeutet. Barbaren leben hier nicht. Ihr Kirchturm ragt hoch in den Himmel. Sie haben es nötig, Abbitte zu leisten, fallen über ihre Nachbarn her. Gepflegte Stadt, ich sah ein Mädchen über den Marktplatz gehen. Sie winkte mir. Fast hätte ich mich vergessen. Wüsste gern, ob die deutschen Frauen auch so lecker schmecken unter ihren Rö­cken. Weiße Schenkel und ein bisschen weiter oben, dazwischen, du weißt, was ich meine. Zöpfe hatte sie mit Schleifen an den Enden.“

Jacques warf einen verträumten Blick ins Innere des schäbigen Gebäudes, aber seine Augen verrieten, dass seine Gedanken weit entfernt um etwas kreisten, nach dem er sich sehnte. Vielleicht sein geliebtes St. Germain, vielleicht seine Familie, die er unter Tränen verlassen hatte, vielleicht seine Genevieve, die ihm in der letzten Nacht vor seiner Fahrt nach Verdun alles geschenkt hatte, was sie geben konnte, ihre Seele und ein Strumpfband eingeschlossen.

„Sieh dich um“, hauchte er Liam entgegen, „dann weißt du, wo du bist: Am Ende der Welt. Baracken, so weit das Auge reicht und hier drin ein Versailles aus verdreckten Verschlägen, von Pisse zerfressene Holzkisten, die sie Betten nennen und schmierige Decken, an denen Siff aus Seiber und Ergüssen klebt. Bist du nun zufrieden? Das ist dein neues Zuhause. Bleibt zu hoffen, dass eine Seite den Krieg schnell gewinnt. So oder so, wer will Kriegsgefangene durchfüttern? Jetzt bist du dran.“

Liam bewegte sich einige Schritte in der Reihe nach vorne, ohne etwas zu sagen. Jacques trottete mit Frust im Gesicht hinter ihm her. Es würde dauern, bis sie mit Reinigen und Desinfizieren dran waren und mit Einheitskleidung ausstaffiert wurden. Zu Hose und Hemd gab es eine mantelartige Jacke und am wichtigsten: ein Paar Holzschuhe. Alles von Wert hatten sie ihnen direkt nach der Gefangennahme abgenommen und nun war die Uniform dran. Der Ehering, den er schon gekauft hatte, wäre jetzt weg gewesen. Zum Glück hatte er ihn zu Hause gut versteckt. Sicher war er sich allerdings nicht, ob seine Genevieve ihm treu sein würde.

Er ärgerte sich über seine neue Bekanntschaft. Der Mann aus Eire mit seinem roten Filz auf dem Kopf brach sich lieber die Zunge ab, als mit ihm zu reden. Was konnte man Falsches sagen über dieses Nest aus Hunger und Siechtum? Wer aus den Schützengräben kam, wusste jedoch, dass hervorstehende Wangenknochen immer noch besser waren als ein Bajonett im Rücken oder Granatsplitter im Bauch. Wäre Liam nicht einen Kopf größer gewesen, hätte er ihn erneut angerempelt, damit sofort klar war, wer hier das Sagen hatte. Manche Kerle musste man provozieren, um sie zum Sprechen zu bringen.

„Sag ‚aujourd’hui‘“, stichelte Jacques. „Wenn du das Wort richtig aussprichst, bist du entweder Belgier oder Franzose. Mach schon!“

Liam starrte ihn ausdruckslos an und hielt den Mund.

Jacques verdrehte die Augen und stöhnte.

„Wie kann einer nur so bescheuert stur sein?“

„Dia dhuit“, sagte der Mann aus Eire plötzlich.

„Oh Wunder. Eire hat eine eigene Mundart, so wie unsere Bretonen oder die Waliser von der Insel. O’Flaherty. O’, O’, O’. Dia dhuit. Buchstabier das Wort.“

„Es ist ein Gruß und bedeutet: Bonjour.“

„Buchstabier, Junge!“

Liam versuchte es, geriet aber ins Stocken und gab auf.

„Ich habe nie schreiben gelernt. Es ist Gälisch. Ich kann’s besser sprechen.“

„Das lässt du lieber sein. Verstehe nichts, aber ganz so dämlich bin ich nicht. Eire ist auch gälisch und heißt Irland, stimmt’s? Was, um alles in der Welt, hat dich in den Krieg verschlagen? Bist du ein entflohener Sträfling oder gar ein Mörder?“

„Du möchtest eine aufs Maul. Ich bin freiwillig der französischen Armee beigetreten. Freischärler. Bin nicht der Einzige aus meinem Land.“

„Gibt es bei euch nichts zu essen oder schlimmer, habt ihr keine Frauen? Freiwillig in den Krieg, du bist bescheuert.“

„Bürgerkrieg. Die Engländer haben unser Land ausgebeutet und hinterließen Chaos. Ich wollte weg, heuerte auf einer Fähre an, kam so nach Roscoff und habe mich eurem Widerstand angeschlossen. Von irgendwas musste ich leben.“

„Vom Regen in die Traufe nenn ich das. Wie alt bist du?“

„Ich wurde von meiner Mutter getrennt, als ich sechs Jahre alt war. Wir schrieben das Jahr 1894, geboren 1888 als viertes von sieben Kindern.“

„Demnach bist du 30 Jahre alt. Wieso wurdest du von deiner Mutter getrennt? Hat sie deinen Vater um die Ecke gebracht und landete im Gefängnis?“

Liams rechte Hand schnellte vor und griff Jacques am Hals, drückte ihm die Luft ab, sodass er nach hinten auszuweichen versuchte, aber gegen einen anderen Mann prallte. Um einen Tumult zu verhindern und Strafmaßnahmen zu vermeiden, löste der Mann Liams Griff mit beiden Händen und gebot ihm, die Klappe zu halten und sich zu benehmen. Kollektivstrafen waren an der Tagesordnung und sehr gefürchtet, noch schlimmer war nur noch die Isolationshaft.

Jacques rieb sich den Hals und schluckte demonstrativ schwerfällig. Er drehte seinen Kopf zirkulierend in alle Richtungen und bedankte sich bei seinem Retter.

„Was ist in dich gefahren?“, stänkerte er Liam an. „Du bist wahnsinnig, legst jedes Wort auf die Goldwaage. Wo kommen wir hin, wenn man nicht mal einen Scherz machen darf? Idiot. Pack mich ein zweites Mal an und sie werden dir die Eingeweide bei lebendigem Leibe rausreißen. Wie kann man nur freiwillig in den Krieg ziehen? Du könntest einer Frau den Hof machen, den lieben langen Tag Calvados trinken und abends lockst du sie in die Federn. Rosshaar, du hast auf die falsche Karte gesetzt. Willst du wissen, was ich glaube? Du kennst dich nicht mit Frauen aus. Ich wette, du hast noch nie zwischen den Schenkeln einer Frau gelegen, kennst nicht den intimen Duft ihres Geschlechts, du keltischer Bauer. Bumst lieber die Schweine.“

Jacques spielte mit der Versuchung, Liam bis aufs Blut zu reizen, denn er wusste, dass die Mitgefangenen ihm eine zweite Attacke nicht verzeihen würden. Liam blieb gelassen, warnte ihn aber eindringlich.

„Du kannst mich ruhig beleidigen, Franzose, aber Hände weg von meiner Familie.“

Endlich kehrte Ruhe ein. Jacques schlurfte hinter Liam her und beide wurden endlich zum Waschen in die mit morschen Brettern verkleidete Kammer beordert. Zu sechst standen sie in einer Reihe und wie erwartet war das Wasser kalt. Sie waren nicht verwöhnt, hatten im Winter 1917 Feuergefechte im offenen Feld überlebt und im wochenlangen Partisanenkampf Straßenzüge erobert und wieder verloren. Kalt duschen kostete trotzdem Überwindung, aber wer wollte sich das anmerken lassen? Liam hatte keine Berührungsängste mit dem frostigen Nass. Er duschte ausgiebig und nahm immer wieder eine Handvoll von der braunen mit Sand vermengten Seife und rieb sich damit ein. Die Männer links und rechts von ihm schnaubten wie Pferde, als sie sich unter den kalten Strahl stellten und rieben kräftig an ihrer Haut. Wohl eher um sich zu wärmen, als zu waschen.

Jacques schnaufte auch, nachdem er sich nur kurz nass rieseln ließ und schnell das einzige Handtuch zum Abtrocknen in Besitz nahm. Liam würde das triefende Handtuch als Letzter in die Finger kriegen. Wieso fror der Mann nicht? Und dieses genüssliche Einseifen, als hätte er noch nie geduscht. „Rosskopf“, rief ihm Jacques zu, „vergiss deine Mähne nicht. Dort sitzen die Läuse und der kleine Pimmelmann ist kaum zu sehen, hat sich in seinem Pelz verkrochen.“

Keiner der anderen Männer zeigte sich belustigt und da die Wache für einen Moment den Raum verlassen hatte, sah Liam seine Chance, packte Jacques von hinten, umschloss ihn mit einem stählernen Griff und zerrte ihn unter die Dusche. Jacques fluchte, allerdings nur eine Sekunde, bis einer der Männer ihm den Mund verschloss. Liams Körper glühte vor Hitze, während Jacques’ Haut immer blauer wurde. Die Lektion hatte gesessen. Lächelnd ließ Liam ihn los. Jacques schnappte sich das Handtuch, fluchte Kaskaden von Verwünschungen und zog die Einheitskleidung an.

„Schade um die schöne Uniform“, sagte Liam bedauernd. Er meinte es ehrlich auf seine ganz naive Art. Liam verließ die Dusche und Jacques warf ihm das durchnässte Handtuch zu. Diesmal ohne blöden Kommentar. Liam wrang das Handtuch aus und rieb es minutenlang über seinen Körper, der von dieser Massage so viel Wärme entwickelte, dass die feuchte Schicht auf seiner Haut schnell verdunstete und er getrocknet seine Kleider überwarf.

Zum Anprobieren der Holzschuhe mussten sie in den Nebenraum. Man hatte sie gewarnt, sich ja die richtige Größe auszusuchen, denn es wartete Zwangsarbeit draußen in den Feldern auf sie. Beulen, Blasen und blutende Wunden würden niemanden interessieren und das Holzschuhlager war kein Modeladen. Erst wenn das ausgesuchte Paar zerbrochen oder zerschlissen war, bekam man ein neues.

Der Lagerkommandant war kein Samariter, aber er wusste um die Notwendigkeit, seine Gefangenen gesund für die Arbeit zu halten. Schuhe und Kleidung waren da essenziell und die Nahrung durfte nicht zu dürftig sein. Verletzte wurden behandelt, aber wer durch sein eigenes Verschulden arbeitsunfähig wurde, musste büßen. Um generell die Zahl der Verletzten und Schwachen gering zu halten, hatte er befohlen, dass die anderen für die Arbeitsunfähigen mitarbeiten mussten, was in der Konsequenz härtere Arbeitsbedingungen bedeutete, was niemand wollte.

Die verschollene Beute

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