Читать книгу Die verschollene Beute - Wolfgang Wiesmann - Страница 9
Freundinnen
ОглавлениеMarion Thüner war stinksauer, dass ihr Chef ihr an diesem Tag, an dem so viel zu erledigen war, eine zusätzliche Aufsicht nach der fünften Stunde aufgedrückt hatte. Der Krankenstand des Lehrpersonals an der Sythener Grundschule machte die Situation immer wieder schwierig. Fehlte nur eine Vollzeitkraft, musste die Last auf die wenigen anderen verteilt werden.
Zwei Jahre bis zur Pension und ihr Chef konnte ihr den Buckel runterrutschen. Marion schluckte die bittere Pille mit stoischer Gelassenheit nach außen und ruppigem Zorn nach innen. Um zwei Uhr stieg sie auf ihr Fahrrad und radelte den Berg hinab zum neuen Baugebiet am Melkenweg, wo sie sich aus eigener Kraft ein kleines Eigenheim geleistet hatte. Wenn nicht mit 63, wann dann?
Am Abend des nächsten Tages erwartete sie viele Besucherinnen. Ihr Cupcake-Kurs stand auf dem Plan. Dieses Event war äußerst beliebt und für Wochen ausgebucht. Diesmal hatte sie allerdings eine Ausnahme gemacht und ihrer neuen Nachbarschaft den Vorzug gegeben. Männer waren auch willkommen, würden aber erfahrungsgemäß nicht teilnehmen.
Sieben Damen hatten sich angemeldet. Der Kurs war nicht billig, 50 €, inklusive aller Zutaten, aber ihren Nachbarinnen hatte sie einen Freundschaftspreis berechnet. Es wurde mehr gequatscht als gebacken, aber genau in dieser Kombination lag für viele Frauen ein Glücksmoment, auch wenn nachher die Cupcake-Kreationen von den Gatten eher belächelt wurden.
Marion hatte sich einen Spickzettel an die Pinnwand geheftet. „Karin anrufen, wegen Erzählabend“ stand darauf. Karin Poggenpohl war ihre beste Freundin. Mit den Jahren war Marion aufgefallen, dass Karin immer öfter Dinge vergaß. Dazu zählten natürlich auch Verabredungen wie zum Beispiel für den heutigen Abend in der alten Mühle Sythen zu Marcel Bressons Vortrag.
Autofahren klappte erstaunlicherweise noch recht gut. Da steuerte ein Automatismus die Abläufe, der nicht ans Erinnern geknüpft war, sondern ans vegetative Nervensystem. Es kam vor, dass Karin losfuhr und sie unterwegs vergessen hatte, wohin sie eigentlich fahren wollte. In einem solchen Fall rief sie Marion an, beschrieb ihr die Gegend und beide klamüserten aus, wo Karin gelandet war. Ein Navi musste her, hatte Marion vorgeschlagen, aber Karin weigerte sich beständig. Sie war ein Technologiemuffel. Außerdem meinte sie, den Weg von Dülmen nach Sythen ohne Hilfe jederzeit zu schaffen. Das wäre ein gutes Zeichen und eine zuverlässige Kontrolle, dass sie nicht dement wurde.
Karin Poggenpohl war wie Senta Berger mit natürlicher Schönheit gesegnet. Der Zahn der Zeit nagte, aber man sah es diesen Diven kaum an. Wie Marion umgab Karin sich gerne mit gut gelaunten Frauen. Marion backte Cupcakes und Karin gab Töpferkurse. Nicht das Ergebnis stand im Mittelpunkt, sondern der Spaß. Das Rezept war so einfach, wie es wirksam war. Alle Frauen sahen nach einem Cupcake- oder Töpferkurs jünger aus. Ihre Lachfalten traten zwar deutlicher hervor, aber ihre zufriedene Ausstrahlung zauberte ein Stückchen echtes Glück auf ihre Gesichter.
Es war also kein Wunder, dass die mit 58 Jahren verwitwete Karin sich aus dem Angebot gut situierter Bewerber den besten herausgefischt hatte. Hans-Günther Kamps, genannt Hannes, war der Glückliche. Seit drei Jahren hofierte er Karin als wäre sie die Queen of Celebs. Hannes bezog gutes Geld als Montageleiter eines branchenführenden Jacuzzi-Herstellers und war in ganz Deutschland unterwegs. Wenn er zu Besuch kam, verwöhnte sie ihn mit Leckereien aus dem eigenen Garten, wozu auch die prächtigen freilaufenden Hühner gehörten. Ihr kleiner Hof zwischen Hausdülmen und Dülmen, nahe der Grenze zu Börnste, zauberte Köstlichkeiten auf den Tisch, die man sonst nur im Dorfladen in Merfeld kaufen konnte, wenn dort mal wieder gebrutzelt und gekocht wurde.
Marion rang seit einiger Zeit mit sich, ein vertrauliches Wort mit Hannes zu sprechen. Er musste auch bemerkt haben, dass Karins Gehirn nicht mehr richtig funktionierte. Oder bildete sie sich das nur ein? Dann wäre es schlimm, Hannes darauf anzusprechen. Sollte sie erst warten, bis etwas passierte? Dann würde sie von Gewissensbissen geplagt werden. Wie man es auch drehte, kein leichtes Kapitel ihrer Freundschaft.
Marion griff zum Telefon und wählte Karins Nummer. Besetzt. Als sie es später erneut versuchte: keine Reaktion. Nach dem dritten Anlauf beendete sie frustriert ihre Versuche. Vielleicht töpferte Karin oder hatte das Handy im Wagen liegen gelassen. Andererseits müsste sie sich langsam fertigmachen, um pünktlich um sieben Uhr in der Sythener Mühle zu sein. Sie versuchte es ein letztes Mal. Keine Antwort.
Dabei hatte Karin sich so sehr auf den Abend mit Marcel Bresson gefreut. Schon als Schülerin hatte sie das Fach Heimatkunde geliebt und laut Ankündigung ging es um die Zeit, als ihre Großeltern gelebt hatten. Karin konnte sich gut daran erinnern, dass ihre Oma immer Schwarz getragen hatte und Marion wusste, dass damals alle Männer eine Kopfbedeckung trugen, sonntags einen Hut und sonst eine Kappe.
Enttäuscht dekorierte Marion sieben kleine Tischkärtchen und das Sortiment an Verziermasse für die Teilnehmer ihres morgigen Cupcake-Kurses. Sie wischte einmal durch die Küche, damit alles blitzblank war, schnappte sich ihre Steppjacke und fuhr mit dem Rad zur Mühle.