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Absetzbewegungen von Zuhause
ОглавлениеAn die Daheimgebliebenen denkt Adolf Hitler nur selten. Er schickt einige Postkarten, etwa an den Hausarzt und an seinen Freund Kubizek, nur belanglose Floskeln. Über sein Wohlergehen und seinen Misserfolg berichtet der gescheiterte Kunstmaler nichts nach Hause. Die Mutter wird nervös, fragt den Freund ihres Sohnes bei einem Besuch: »Haben Sie Nachricht von Adolf?« Kubizek beschreibt die Situation: »Er hatte also auch der Mutter noch nicht geschrieben. Das beunruhigte mich sehr. Es musste etwas Ungewöhnliches geschehen sein ... Frau Klara kam mir bekümmerter vor als sonst. Tiefe Furchen standen in ihrem Antlitz. Die Augen waren verschleiert, die Stimme klang müde und resigniert. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich jetzt, da Adolf nicht mehr bei ihr war, völlig gehen ließ und älter, kränklicher aussah als sonst.«32 In dem Gespräch bricht der ganze Unmut und die Verzweiflung Klara Hitlers über die Zukunft ihres Sohnes aus. »Wenn er in der Realschule ordentlich gelernt hätte, könnte er jetzt schon bald seine Matura machen. Aber er lässt sich ja nichts sagen. Er ist der gleiche Dickschädel wie sein Vater«, seufzt die Mutter. »Was soll diese überstürzte Fahrt nach Wien? Anstatt das kleine Erbteil zusammenzuhalten, wird es leichtfertig vertan. Und was dann? Mit der Malerei, das wird nichts. Und auch das Geschichtenschreiben trägt nichts ein ... Aber daran denkt Adolf nicht. Der geht seinen Weg weiter, als wäre er allein auf der Welt. Ich werde es nicht mehr erleben, dass er sich eine selbstständige Existenz schafft.«33
Die Mutter leidet darunter, dass sie ihren Ältesten, an dem sie so sehr hängt, nicht bei sich hat. Sie beordert ihn zurück nach Urfahr. Dr. Bloch erklärt der Familie am 24. Oktober 1907, Klara Hitler sei unheilbar krank und habe nicht mehr lange zu leben. Ab Ende Oktober muss die Mutter wegen ihrer Schwäche und der Schmerzen ständig zu Hause das Bett hüten, nur ab und zu gelingt es ihr, sich auf den Lehnstuhl zu ziehen und dort eine Zeit lang zu sitzen. Adolf schafft ihr Bett in die Küche und stellt ein Sofa daneben, auf dem er nachts schläft. Denn die Küche ist der einzige beheizbare Raum. Zum ersten – und einzigen – Mal in seinem Leben beteiligt sich der Sohn bei der Hausarbeit, hilft der Hanni-Tante und der elfjährigen Schwester Paula gelegentlich.
Von November an besucht Dr. Bloch die Hitlers täglich und sieht nach der Patientin. Er wählt eine Jodoform-Behandlung, ein damals üblicher, wenn auch nutzloser Versuch, den Tumor einzudämmen. Dazu legt der Hausarzt Gazestreifen auf die offenen Wunden der Brust und träufelt das Desinfektionsmittel Jodoform darauf, um die Krankheitsherde zu verätzen – was Klara Hitler brennende Schmerzen bereitet. Sie versucht, die gut gemeinten Quälereien still zu erdulden, aber immer wieder erfüllt das Wimmern und das unterdrückte Seufzen die Wohnung. Die Behandlung verursacht ständig Durst, macht es aber zugleich unmöglich zu schlucken. Die Familie muss hilflos mit ansehen, wie die Mutter langsam dahinsiecht. Einzige Linderung für die Leidende ist das Morphium, das der Doktor verabreicht.
Am 21. Dezember 1907, um zwei Uhr früh, stirbt Klara Hitler im Alter von 47 Jahren. Die Tote wird zwei Tage in der Wohnung aufgebahrt, Bekannte und Freunde kondolieren mit Blumen. Adolf Hitler kauft für seine Mutter den teuersten Sarg, poliert mit Metalleinsätzen, für 110 Kronen. Gemäß ihres letzten Wunsches wird die Verstorbene neben ihrem Mann in Leonding beigesetzt. Es ist der 23. Dezember morgens, feuchter Nebel liegt über dem Ort, als sich der Trauerzug auf dem Weg von Urfahr nach Leonding in Bewegung setzt. Ein schäbiges Begräbnis: Nur Kubizek und einige Bewohner der Blütengasse 9 begleiten die Verwandten, Adolf Hitler geht hinter dem Leichenwagen. Er trägt einen langen schwarzen Mantel, weiße Handschuhe und einen Zylinderhut. Neben ihm seine Schwester Paula und sein Schwager Leo Raubal. Die schwangere Schwester Angela folgt in einem geschlossenen Einspänner. Bereits an der Hauptstraße löst sich der Trauerzug auf, Adolf und Paula steigen in einen zweiten Einspänner, Raubal begleitet seine Frau Angela. Die Hitlers fahren alleine weiter, mittags ist das Begräbnis vorüber. In Mein Kampf schreibt Hitler später: »Seit dem Tage, da ich am Grabe der Mutter gestanden, hatte ich nicht mehr geweint.«34
Am 24. Dezember sucht Adolf Hitler den Hausarzt auf und begleicht die Rechnung über 300 Kronen. Dr. Bloch erinnert sich an das Zusammentreffen: »Ich habe in meiner beinahe 40-jährigen Tätigkeit nie einen jungen Menschen so schmerzgebrochen und leiderfüllt gesehen, wie es der junge Adolf Hitler gewesen ist, als er kam, um mit tränenerstickter Stimme für meine ärztlichen Bemühungen Dank zu sagen.«35 Andere Zeugen jener Zeit bestätigen, der 18-Jährige habe sich in ihren letzten Tagen fürsorglich und voller Liebe um seine Mutter gekümmert. Vielleicht ist damals etwas in ihm zerbrochen, denn noch am selben Tag weigert er sich, den Heiligen Abend im Kreise der restlichen Familie zu feiern und eine Einladung seiner Schwester Angela zu ihr nach Hause anzunehmen. Stattdessen wandert er den Abend ziellos durch den Ort. Anfang Januar 1908 geht er mit Kubizek nochmals ans frische Grab nach Leonding. »Adolf war sehr gefasst. Ich staunte über diesen Wandel. Ich wusste ja, wie tief ihn der Tod der Mutter erschüttert hatte, wie er auch körperlich darunter litt ... Ich staunte, wie klar und überlegen er jetzt darüber sprach. Beinahe so, als handle es sich um fremde Dinge«36, berichtet der Begleiter später.
Die elfjährige Paula und der 18-jährige Adolf Hitler sind nun Vollwaisen. Der Bürgermeister von Leonding, Josef Mayrhofer, erklärt sich bereit, für beide als Vormund zu fungieren. Mehrmals versucht er, dem Jungen eine Lehrstelle anzudienen, aber Adolf will nach Wien zurück. Dass er an der Aufnahmeprüfung zur Kunstakademie gescheitert ist, verschweigt er der Familie wohlweislich. Paula und die Hanni-Tante bleiben zunächst allein in der Wohnung in Urfahr zurück, bis Johanna ins Waldviertel zu ihren Verwandten zurückkehrt und Halbschwester Angela die kleine Paula zu sich nimmt.
Adolf zieht wieder in das Zimmer in der Stumpergasse 31, das er sich schon bald mit Freund Kubizek teilt, der ihm nachgefolgt ist. Während Kubizek die Aufnahmeprüfung am Konservatorium besteht und fortan eifrig studiert, lebt Adolf mithilfe einer nun bezogenen Waisenrente und seinem Erbe munter in den Tag hinein, schläft bis in die Puppen und raubt dafür Kubizek halbe Nächte lang mit endlosen Monologen den wohlverdienten Schlaf. Die beiden leben zwar bescheiden, geben jedoch ein Vermögen für Opernbesuche aus.
Nach den Abschlussprüfungen des ersten Jahres fährt Kubizek über die Ferien zu seinen Eltern nach Linz. Adolf macht sich zur gleichen Zeit zu den Verwandten nach Spital auf, um die dort zur Sommerfrische weilende Hanni-Tante anzupumpen, die vielen Opernbesuche gehen doch zu sehr ins Geld. Tatsächlich leiht die gutmütige Tante ihrem erklärten Liebling 924 Kronen. Ein riesiger Betrag, der etwa dem Jahresgehalt eines jungen Juristen oder Lehrers entsprach; dafür ließ sich eine geräumige Drei-Zimmer-Wohnung für zwei Jahre mieten. Die 924 Kronen, die die Tante natürlich nie mehr wiedersah, bedeuteten rund ein Fünftel ihres Vermögens, Geld, das damit für andere Erben unwiederbringlich verloren war. Für Adolf ist es der Garant für ein Leben ohne Zwang zur Jobsuche.
Adolf hofft, im Waldviertel nicht auf Angela zu treffen, die ihn drängt, Paula die volle Waisenrente zu überlassen und selbst für seinen Unterhalt zu sorgen. Dazu hat Adolf nach wie vor nicht die geringste Lust. Genauso wenig Lust wie darauf, sich ordentlich auf seinen zweiten Anlauf zur Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Es kommt, wie es kommen muss: Diesmal sind seine vorgelegten Arbeiten so unzureichend, dass er im Herbst gar nicht erst zur Prüfung zugelassen wird. Seine Hoffnung auf ein alternatives Architekturstudium wird wegen seiner abgebrochenen Schullaufbahn ebenfalls im Keim erstickt.
Als Kubizek nichtsahnend nach seinen Sommerferien nach Wien zurückkehrt, findet er das gemeinsame Zimmer neu vermietet vor, seine Sachen wurden ausgelagert: Adolf hat sich klammheimlich aus dem Staub gemacht, ohne ein Wort der Erklärung. Erst Jahrzehnte später, beim Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, soll Kubizek erfahren, was aus seinem Busenfreund geworden ist. Vorerst bleibt Hitler spurlos verschwunden. Auch die Schwestern in Linz wissen nicht, wo der Bruder steckt und was er macht.
Wie mit einem Beil zertrennt Hitler alle Bindungen zu Freunden und Verwandten. Er haust die nächsten Jahre in Wien in Obdachlosenasylen und Männerwohnheimen, verdient sich etwas Geld durch den Verkauf eigener Zeichnungen. Hitler versteckt sich nicht nur aus Scham über das abermalige Scheitern bei der Aufnahmeprüfung, er entzieht sich auch der Einberufung zum Militärdienst. Der Mann, der später Familiensinn und Vaterlandsliebe predigen wird, hat in seiner eigenen Jugendzeit mit beidem herzlich wenig im Sinn. Im Mai 1913 reist der Fahnenflüchtige heimlich nach München aus. Der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. Adolf Hitler beginnt ein völlig neues Leben. Ein Leben, das auch das Leben der in Österreich zurückgelassenen Hitlers grundlegend verändern wird.