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Aufnahmen mit der Creole Jazz Band
ОглавлениеHier nun beginnt die Geschichte des Jazzmusikers Louis Armstrong, die nicht nur aus Erzählungen und Augenzeugenberichten bekannt, sondern auch durch Aufnahmen dokumentiert ist. Der Jazz als eine improvisierte Musik ist auf die Tonaufzeichnung unbedingt angewiesen. Hätte es diese nicht gegeben, so wäre wahrscheinlich auch der Jazz nicht zu einer so einflussreichen Kunst geworden.
Die ersten Platten der Jazzgeschichte waren 1917 von der Original Dixieland Jazz Band eingespielt worden, einer weißen Kapelle aus New Orleans, deren Engagement im Reisenweber’s Café in New York Schlagzeilen machte. Ihre Musik spiegelt die Brassband-Tradition der Stadt am Delta wider und brachte dabei etwas weitaus Lebendigeres auf die Bühne, als New York es bis dahin gekannt hatte. New Yorks schwarze Kapellen waren zu dieser Zeit eher im Ragtime zu Hause, in einer Mischung aus Polka, Marschmusik, Walzer und Broadwayschlager. Die scheinbar unkontrollierte Polyphonie der Original Dixieland Jazz Band war also etwas Neues und die Tierstimmenimitationen, für die das Quintett bekannt war, willkommene Showeinlagen. Die Musiker behaupteten wie viele spätere Jazzmusiker auch, sie könnten keine Noten lesen und ihre Musik sei jedes Mal neu erfunden. Der Bandleader Nick La Rocca gab Erklärungen ab wie: »Ich weiß nicht mehr, wie viele Pianisten wir ausprobierten, bis wir einen fanden, der keine Noten lesen konnte.«42 Tatsächlich aber belegen verschiedene Aufnahmen derselben Stücke, dass nicht nur der formale Ablauf, sondern auch die einzelnen Stimmen bis ins Kleinste festgelegt waren – vielleicht nicht aufgeschrieben, aber auf jeden Fall eingeübt und gemerkt. 1917 also ging die ODJB, wie sie bald genannt wurde, ins Studio und ihre Aufnahmen von ›Livery Stable Blues‹ und ›Dixieland Jass Band One-Step‹ vom 26. Februar gelten als die ersten Aufnahmen der Jazzgeschichte. Über diesen Ruhm wurde später durchaus gestritten, denn tatsächlich gab es schwarze Bands, die bereits zuvor Aufnahmen vorgelegt hatten, aber sowohl der Erfolg der ODJB als auch ihre Musizierhaltung, die jene der schwarzen New-Orleans-Kapellen der Zeit widerspiegelte, rechtfertigen die historische Bedeutung, die ihren ersten Aufnahmen beigemessen wurde.
Das Schicksal wollte es also, dass die ersten Tondokumente einer afroamerikanischen Musik von einer weißen Kapelle eingespielt wurden. Der schwarze Trompeter Freddie Keppard, so erzählt man sich, sollte noch vor den Aufnahmen der ODJB von der Plattenfirma Victor Records angeheuert werden. Er weigerte sich jedoch – der Legende nach, weil er meinte, Schallplatten würden es Nachahmern erleichtern, seinen individuellen Stil und seine Stücke zu stehlen. Sidney Bechet, selbst ein begnadeter Geschichtenerzähler, relativierte die Legenden um Keppards Plattenengagement:
Irgendjemand hat mal aufgebracht, dass Freddie die Geheimnisse um seine Musik verstecken wolle. Er deckte beim Spielen oft ein Taschentuch über seine Trompete, so dass man seine Finger nicht sehen konnte, und irgendein Kritiker schrieb dann, Freddie habe Angst, Platten einzuspielen. Dabei hatte Freddie nur Spaß gemacht. Jeder Musiker weiß, daß man gar nichts lernt, wenn man die Finger eines anderen Musikers beobachtet. Man lernt, indem man zuhört, es gibt keinen anderen Weg, nicht, wenn du ein wirklicher Musiker bist. Du kannst die Töne nicht finden, indem du sie beobachtest, du musst sie fühlen, wenn du sie spielst. Wir haben oft über das Schallplattengeschäft gesprochen, und aus seinen Antworten kann ich nur schließen: Freddie meinte, wenn er Platten aufnähme, dann würde die ganze Musikmacherei zu einem regelrechten Geschäft, danach würde es ihm einfach keinen Spaß mehr machen.43
Keppard sah in der Schallplatte, folgt man der Erzählung Bechets, einen Grad an Kommerzialisierung, die dem Jazz seine Ursprünglichkeit nehmen und den direkten Kontakt zwischen Musikern und ihrem Publikum verhindern würde. Der Jazz also lebte schon zu seinen Anfangszeiten von seiner Unmittelbarkeit.
Nach den Aufnahmen der ODJB von 1917 folgten ab 1920 Aufnahmen schwarzer Kapellen. So spielte die Sängerin Mamie Smith mit ihren Jazz Hounds am 14. Februar 1920 zwei Seiten für das Label OKeh Records ein und legte sechs Monate später einen veritablen Hit mit dem ›Crazy Blues‹ vor, der sich innerhalb nur eines Monats 75 000-mal verkaufte. Und Kid Orys 1922 in Kalifornien eingespielte erste Instrumentalaufnahmen der schwarzen Jazzgeschichte hatten wir bereits erwähnt. Die jungen Plattenfirmen erkannten einen neuen Markt für afroamerikanische Musik innerhalb der schwarzen Community. Und Olivers Aufnahmen aus dem Jahr 1923 dokumentieren die Weiterentwicklung des Genres Jazz quasi in Echtzeit.
Zwischen dem 5. April und dem 24. Dezember 1923 nahm die Creole Jazz Band insgesamt 37 Titel auf – Dokumente eines kunstvollen New Orleans Jazz, die den Reifeprozess eines der wichtigsten Vertreter dieser Musik nachvollziehbar machen und auch den Unterschied in den ästhetischen Haltungen Olivers, des Mentors, und Armstrongs, des Schülers und Vorreiters dessen, was kommen sollte. Viele der Titel sind in mehreren Versionen erschienen, was uns aufschlussreiche Vergleiche der kollektiven Improvisationspassagen, der Solobreaks und der Ausführung der grundlegenden Arrangements erlaubt.
Die ersten Aufnahmen entstanden in Richmond, Indiana, einer Stadt etwa vierhundert Kilometer südlich von Chicago. Dort befand sich eine Klaviermanufaktur, die Starr Piano Company, die um 1915 jährlich 15 000 Klaviere produzierte. Sie beschäftigte allein in Richmond 750 Menschen und hatte die Gennetts, denen die Fabrik mittlerweile gehörte, zu einer den reichsten Familien der USA gemacht. Überall im Land gab es Läden der Firma Starr, in denen man Klaviere und Flügel, auch Walzeninstrumente und die dazugehörigen Klavierwalzen kaufen konnte. 1877 hatte Thomas Edison seinen Zylinderphonographen auf den Markt gebracht, und um 1910 hatte man einen neuen Standard entwickelt, die Schallplatte. Starr war mit den Vertriebsmöglichkeiten eines großen Konzerns ein idealer Mitspieler auf diesem Markt, und ab 1916 stellte die Firma eigene Phonographen her. Da die Produktion von Hardware nur dann Sinn macht, wenn es auch die zugehörige Software gibt, stieg Starr zugleich ins Plattengeschäft ein. 1917 richtete die Firma ein Presswerk in Richmond, ein Aufnahmestudio in Manhattan und ein zweites ebenfalls in Richmond ein. Da Starr Records so deutlich mit der Klavierbaufirma und ihrem großen Vertriebsnetz verbunden war, entkoppelte Henry Gennett die beiden Abteilungen und änderte den Namen des Labels in Gennett. So, hoffte er mit Recht, würden seine Platten auch von unabhängigen Geschäften verkauft werden, nicht nur in den Starr-Klavierhäusern.
Das Studio auf dem Fabrikgelände der Klavierbaufirma hatte allerdings ein Problem: Es lag direkt neben einer Eisenbahnlinie, und wenn die Dampflokomotiven keine 50 Meter von der Hütte vorbeidonnerten, machte nicht nur der Lärm die Aufnahmen unmöglich, sondern die Vibrationen zerstörten zugleich die empfindlichen Wachsmatrizen, mit denen damals aufgezeichnet wurde. Das Studio war etwa 38 mal 9 Meter groß und hatte einen durch Doppelglasscheiben abgetrennten Kontrollraum. Man hatte Sägemehl zwischen die innere und äußere Wand gepackt, um den Raum möglichst schalldicht zu machen. Die Wände waren von der Decke bis zum Boden mit Teppichen behängt, und der Sound dementsprechend so trocken, dass die Musiker sich schon mal beschwerten, sie müssten sich anbrüllen, selbst wenn sie nur Meter voneinander entfernt stünden.44
Das Label schickte Scouts nach Chicago, um Bands zu engagieren, die erfolgreiche Produktionen versprachen. Im August 1922 gingen die weißen New Orleans Rhythm Kings ins Gennett-Studio in Richmond. Paul Mares, der Kornettist der Band, hatte sich viel bei King Oliver abgeschaut, vor allem dessen beeindruckende Dämpfertechnik. Im Juli 1923 kam es in Richmond sogar zur ersten Gemeinschaftsproduktion von schwarzen und weißen Musikern in der Geschichte des Jazz, als die Rhythm Kings zusammen mit dem Pianisten Jelly Roll Morton einige Aufnahmen einspielten.
Am 5. April 1923 aber bestiegen erst einmal die Musiker der King Oliver Creole Jazz Band einen Zug, der sie nach Richmond, Indiana, brachte. Sie gingen in ein Studio voll mit akustischen Aufnahmetrichtern und nahmen mehr als zwei Dutzend Takes auf, bevor sie sich am nächsten Tag wieder auf die Rückreise machten.
Die Studiotechnik war damals noch rein mechanisch. Sowohl für die Aufnahme als auch für die Wiedergabe kamen also ausschließlich mechanische Mittel zum Einsatz. Grob erklärt: Die Musiker standen vor einem großen Aufnahmetrichter, der mit einer Nadel verbunden war. Die Vibrationen der Luft sorgten dafür, dass diese Nadel in einen rotierenden Wachszylinder oder eine rotierende Wachsplatte einen vertikalen Schnitt machte, dessen unterschiedliche Tiefe der Schwingungsfrequenz und Amplitude des gespielten Tons und Klangs entsprach. Mit der Zeit wurde die Aufnahmetechnik immer professioneller: In einer Abhandlung über die Geschichte der Schallplatte heißt es:
Das Klavier steht aus schalltechnischen Gründen auf einem Podest; mehrere große und kleine Aufnahmetrichter ragen in den Raum, der einen ziemlich kahlen Eindruck vermittelt. Von der Aufnahmemaschine, die im Nebenraum steht, ist nichts zu sehen: Die Laufgeräusche sollen nicht ›mitgeschnitten‹ werden. […] Die Dynamik, d. h. Lautstärke und Brillanz einer Schallplatte, sind abhängig von der Anordnung der Instrumentengruppen während der Aufnahmesitzung. Eine Korrektur der einmal geschnittenen Matrize ist nicht möglich.45
Erst ab etwa 1925 wurden elektrische Aufnahmeverfahren zum Studiostandard, die ein wesentlich größeres Frequenzspektrum garantierten, die Töne natürlicher und voller aufzeichneten.
Für Jazzmusiker war die elektrische Aufnahmetechnik vor allem auch deshalb von Bedeutung, weil sie nun in ihren tatsächlichen Bandbesetzungen ins Studio gehen konnten. Bei mechanischen Aufnahmen wurden die Bandmitglieder in festgelegten Abständen zum Aufnahmetrichter aufgestellt. Der Posaunist George Brunis bei den New Orleans Rhythm Kings etwa musste auf eine seitliche Wand blasen, der Schlagzeuger Baby Dodds durfte auf King Olivers Aufnahmen von 1923 meist gerade mal auf Holzblöcken und den Rändern von Snare und Bass Drum spielen. Kontrabässe und Klavierbegleitungen gingen bei solchen Aufnahmen meist ganz unter, weshalb die Bassstimme oft von Tuba oder Basssaxophon übernommen wurde.
King Olivers Band war in Hochform. Die Musiker hatten zwei Jahre lang im Lincoln Gardens gespielt und kannten ihr Repertoire in- und auswendig. Die gut zwei Dutzend Takes führten schließlich zu neun veröffentlichten Titeln, darunter gleich einige der hörenswertesten Einspielungen dieser Besetzung, der ›Dippermouth Blues‹ etwa, ›Froggie Moore‹, ›Chimes Blues‹ oder ›Weatherbird Rag‹. Die restlichen alternativen Takes sind nie veröffentlicht worden, die Masterplatten wurden Ende der 1920er Jahre vernichtet. Die Besetzung besteht aus Oliver und Armstrong, Kornett; Honore Dutrey, Posaune; Johnny Dodds, Klarinette; Lil Hardin, Klavier; Bill Johnson, Banjo; und Baby Dodds, Schlagzeug. Ein Kontrabass ist nicht zu hören. Lil Hardin erzählte später von der Aufnahmesitzung:
Wir mussten alle in diesen großen Trichter spielen. Joe und Louis standen nebeneinander, wie sie das immer taten, aber man konnte keinen Ton von Joe hören, nur Louis. Dann meinten die: ›Da müssen wir was ändern‹, und positionierten Louis etwa viereinhalb Meter weiter weg in die Ecke.46
Die Anekdote wurde oft wiederholt; ob sie stimmt, ist durchaus fraglich: Armstrong war damals schon Profi genug, seinen Ton der Situation anpassen zu können.
Die Musik dieser Aufnahmen zeigt den Geist des kollektiven Zusammenspiels. ›Just Gone‹ etwa ist ein vollständig im Kollektiv der Band gespieltes Stück, kein Solo, nicht einmal ein kurzer Solobreak, wie sie im frühen kollektiven Jazz sonst oft eingesetzt werden, um die Spannung aufzufangen, die sich in den Takten zuvor aufgebaut hatte. Olivers Musiker kommen sich so gut wie nie in die Quere. Die Aufgabenteilung der Melodieinstrumente – Lead-Kornett, harmonisierende Begleitung der Leadstimme durch das zweite Kornett, Grundierung durch die Posaune, Umspielung im hohen Register durch die Klarinette – ist vorgegeben, und doch wechselt immer wieder die Führung ab. Wenn man den beiden Kornettisten lauscht, meint man die räumliche Entfernung der beiden hören zu können, von der Hardin berichtete. Oliver spielt selbstbewusst, Armstrong darf harmonische Zweitstimmen intonieren, oft nicht mehr als lang gehaltene Harmonietöne, die halb- oder ganztaktig wechseln. Er erfindet aber immer wieder auch kleine Melodien, wie Kontrapunkte zur Leadstimme, die andeuten, wohin es einmal mit ihm gehen wird, schnelle Umspielungen des Themas, rhythmisch mutig, harmonisch die Grundlage ausweitend. Oft füllt er Phrasenenden auf, spielt sogenannte »fills« am Ende von Phrasen Olivers und entspricht damit seinem Part im Ruf-Antwort-Schema, das man in der afroamerikanischen Musik so oft findet. Häufig erzeugt seine Stimme ganz bewusste Dissonanzen zur Kornettstimme Olivers, die aber immer gleich wieder aufgelöst werden.
Im ›Canal Street Blues‹ hört man im fünften Chorus ein rhythmisch besonders mitreißendes Arrangement, in dem insbesondere die beiden Kornette harmonisch parallel gehen. Es folgt ein Klarinettensolo über einer vom Banjo gespielten Basslinie (Johnson war ja eigentlich Bassist), mit harmonischer Begleitung des Klaviers und Baby Dodds an den Holzblöcken. In ›Weatherbird Rag‹ (aber auch im ›Snake Rag‹) sind jene legendären Duo-Breaks zu hören, mit denen Armstrong und Oliver im Lincoln Gardens ihr Publikum begeisterten. Solche harmonisierten Duo-Breaks mögen eingespielte Klischees gewesen sein; ihren Ursprung hatten sie den Aussagen von Zeitzeugen gemäß aber in der Improvisation. »Joe spielte am Ende des ersten Teils, was er im Break machen wollte«, berichtet etwa der Klarinettist Buster Bailey, der Anfang 1924 mit der Band spielte. »Louis hörte zu und behielt das im Kopf, und wenn der Break dann kam, dann spielten sie den Break einfach zusammen.«47 Armstrong erzählt, dass Oliver sich zu ihm hinüberbeugte, wenn die Band in vollem Schwung war, vielleicht vier oder fünf Takte vor dem Break, und ihm auf seinem Instrument die Positionen der Töne zeigte, die er im Break spielen wollte.48 Im ›Weatherbird Rag‹ lassen sich solche Zeitzeugenberichte noch heute nachvollziehen: Der Duo-Break orientiert sich an einer chromatischen Phrase, die Oliver hier zum Ende des ersten Achttakters eines jeden Chorus spielt, unmittelbar bevor der Break den zweiten Achttakter beginnt. Das kleine Duett, das man hier hört, war sicher schon etliche Male von den beiden Kornettisten genauso gespielt worden, und doch ist es ein gutes Beispiel dafür, wie solche Breaks aus der Improvisation heraus geboren wurden. Vor allem kann man sich in ›Weatherbird‹ gut vorstellen, wie sehr das Publikum nach solchen Breaks getobt haben wird – sie sind nicht etwa zirzensische Kunststücke, sondern dramaturgische Höhepunkte eines musikalischen Ablaufs, der von Beginn bis Schluss geplant ist und im kollektiven Erspielen des Stücks immer neue Wandlungen und Steigerungen erfährt.
Neben solchen aus der Improvisation heraus geborenen Duo-Breaks gibt es übrigens auch zahlreiche, die offenbar auf Vorabsprachen basierten, quasi Teil des Arrangements waren, wie sich nachweisen lässt, wenn man die verschiedenen Aufnahmen der Stücke vergleicht, etwa in ›Sweet Lovin’ Man‹, ›Where Did You Stay Last Night? ‹, ›Sobbin’ Blues‹, ›Alligator Hop‹, ›Working Man Blues‹, ›Camp Meeting Blues‹, ›The Southern Stomps‹ oder dem ›Riverside Blues‹.
Ein kurioses Beispiel findet sich in ›I Ain’t Gonna Tell Nobody‹, aufgenommen im Oktober 1923. Es handelt sich um einen Titel, der in seiner Schmissigkeit sicher auf dem Tanzparkett gut ankam, in dem Armstrong allerdings nicht sonderlich zur Wirkung kommt. Im drittletzten Chorus jedenfalls findet sich ein weiteres Beispiel eines Duo-Breaks: Etwa bei 2: 12 Minuten hört man Oliver eine Phrase hervorheben, die gleich darauf zweimal als Duo-Break erklingt. Im vorletzten Chorus ist offenbar ein ähnlicher doppelter Duo-Break geplant, aber beim ersten der beiden (etwa bei 2: 40) ist nur ein Kornett zu hören, und statt Olivers Stimme wie zuvor in Terzparallelen zu spielen, nimmt Armstrong sie beim zweiten Break gleich danach im Unisono. Was da genau passiert war, darüber kann man nur spekulieren: Hatte Armstrong den ersten Break verpasst und wollte im zweiten auf Nummer sicher gehen, wie Brian Harker vermutet?49 Oder war das, was uns beim genauen Hinhören wie ein Fehler erscheint, für die Musiker der Creole Jazz Band gar nicht so schlimm, weil sie eh aus einer improvisatorischen Haltung heraus musizierten, in der es, sofern der Drive des Rests stimmte, auf solche Details nicht ankam?
Man denkt gerade beim frühen Jazz oft an Musiker, die vor allem improvisierten und keine Notenvorlagen benötigten. Und tatsächlich ist die Fähigkeit zum improvisatorischen Umgang mit dem musikalischen Material grundlegende Voraussetzung für diese Art von Musik. Doch auch die frühen Jazzmusiker waren nicht einfach »Naturbegabungen«, auch sie waren professionelle Musiker, und neben improvisatorischen Fähigkeiten gehörte zu ihrem Handwerkszeug auch die Fähigkeit, Noten lesen zu können. Olivers Band war gewiss kein »Brillenorchester«, seine Creole Jazz Band nutzte Notenvorlagen meistens nur als Erinnerungsstütze. Wenn es aber Noten gab, dann hatte Oliver dafür gesorgt, dass die Titel der Stücke nicht zu lesen waren, damit andere Musiker im Publikum ihm nichts abschauen konnten. Um der Band klarzumachen, welches Stück als nächstes drankam, spielte er einfach den Beginn, und der Rest stimmte ein.50 Während des Stückes gab er durch Fußstampfen Signale, etwa, um einen Break oder einen weiteren Chorus einzuzählen.51 In New Orleans hatte Oliver auf beides Wert gelegt: das Notenlesen genauso wie die Fähigkeit zu improvisieren. In der Creole Jazz Band war Johnny Dodds, heißt es, ein mäßiger Notist mit exzellentem Gedächtnis, und von Honore Dutrey ist überliefert, dass er schon mal Cello-Parts von populären Schlagern zur Hilfe nahm, wenn es keine Posaunenstimmen gab. Der Musikwissenschaftler Lawrence Gushee vermutet, dass etwa ›Sweet Lovin’ Man‹ oder zumindest die Posaunenstimme in ›Jazzin’ Babies Blues‹ (beide vom Juni 1923) von Noten gespielt wurden.52
Tatsächlich gibt es zwischen »improvisiert« und »notiert« allerdings eine Reihe an Zwischenstufen. Im Jazz spricht man beispielsweise von »Head Arrangements«, wenn Arrangements nicht niedergeschrieben, sondern von den Musikern so verinnerlicht werden, dass sie auch ohne Noten den gleichen Ablauf, die gleichen Stimmen spielen. Solche Head Arrangements sind insbesondere in den blueslastigen Bigband-Arrangements etwa des Orchesters von Count Basie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren üblich gewesen, in dem sich ursprünglich improvisatorisch erfundene Riffs in der Erinnerung der Musiker zu Head Arrangements verfestigten. Nicht anders wird es bei Oliver gewesen sein, dessen Band ihr Repertoire ja bereits seit zwei Jahren Abend für Abend im Lincoln Gardens gefestigt hatte – da bedurfte es für die Plattenaufnahme keiner Niederschrift, sondern allerhöchstens einer klaren Absprache, was die Länge und den genauen Ablauf der Einspielung betraf.
Solche Head Arrangements also entstanden in der Absprache zwischen den Bandmitgliedern. Man kann sich das ganz bildlich vorstellen: Armstrong oder Oliver bringen ein Thema mit, sagen den Musikern, wie sie sich den Ablauf etwa vorstellen.
Lass uns alle zusammen anfangen, eine Einleitung, zweimal das erste und zweimal das zweite Thema. Lasst uns im B-Teil Breaks einbauen, und zwar jeweils zum Ende der beiden Achttakter, also in Takt 7 und 8 sowie 15 und 16. Dann kommt ein Kornettsolo über das zweite Thema. Noch einmal das erste Thema und schließlich eine kurze Coda.
Wer immer das Stück mitbrachte, spielte die Melodie auf seinem Instrument vor. Die anderen Bläser probierten verschiedene Melodien aus, die darüber oder darunter passten. Dann gab es einen ersten Durchgang. Man diskutierte den Verlauf, mögliche melodische oder harmonische Alternativen. Man hörte aufeinander und sprach darüber, damit man sich bei all dem kollektiven Zusammenspiel nicht in die Quere kam. Am Ende der Probe stand ein Grundgerüst des Stücks, das in den nächsten Tagen noch verfeinert, aber im Großen und Ganzen nicht mehr abgeändert wurde.
Hört man sich insbesondere die Titel an, von denen es mehr als eine Aufnahme gibt, dann wird das Prozedere schnell deutlich: Einige der Stimmen scheinen identisch zu sein, und die berühmten Duo-Breaks von Armstrong und Oliver sind klar vorab geplant. Man findet teilweise notengetreue Übereinstimmungen in quasi allen Bläserstimmen, und zwar auch in Partien, die im ersten Höreindruck völlig improvisiert scheinen. Die Übergänge zwischen Komposition, Head Arrangement und Improvisation sind also tatsächlich fließend. Die wirkliche Improvisation betrifft oft nur Kleinigkeiten, Verzierungen, Variationen, Details, nicht aber den Formablauf als solchen.
Auf der Bühne war die Situation übrigens eine komplett andere. Im ›Tiger Rag‹ etwa oder im ›Dippermouth Blues‹ habe es, wird berichtet, bei Konzerten schon mal elf oder zwölf Solochorusse gegeben.53 Der Trompeter Wild Bill Davison erzählt, er habe Oliver und Armstrong 125 Chorusse über den ›Tiger Rag‹ spielen hören.54 Und Preston Jackson weiß von 50 Chorussen mit unzähligen hohen Cs und am Ende dem F darüber.55 Der Schlagzeuger George Wettling erinnert sich an ein fünfundvierzigminütiges ›High Society‹, doch mag ihm da die Erinnerung vielleicht doch einen Streich gespielt haben.56 Auf jeden Fall stand dort nirgends ein Tontechniker, der bei etwa 2:45 Minuten ein Zeichen gab, damit die Musiker wussten, dass sie zum Schluss kommen mussten. Im Konzert war es möglich, noch einen Chorus dranzuhängen. Und in New Orleans spielte man gewiss auch tagesaktuelle Schlager länger als drei Minuten. Von 1951 stammt etwa eine Dokumentaraufnahme der Eureka Brass Band, in der sie George Gershwins ›Lady Be Good‹ fast zehn Minuten lang interpretiert. Das ist nicht unbedingt die ganze Zeit über musikalisch interessant, macht aber anschaulich, dass im täglichen Geschäft des Musikmachens die Längenvorgaben der Schellackplatte kaum eine Rolle spielten. Armstrong selbst erzählt: »Wir haben die Stücke quasi auf der Arbeit geprobt und mussten sie dann für die Aufnahme nur noch auf die richtige Zeit zurechtschneiden. Dann war es gar kein Problem, diese Aufnahmen zu machen.«57
Olivers Glanzstück der ersten Aufnahmesitzung ist der ›Dippermouth Blues‹, ein Stück von Armstrong, dessen Titel auf seinen Spitznamen »Dippermouth«, »Schöpfkellenmund«, anspielt, den er wegen seines kraftvollen Tons erhalten hatte. Oliver spielt ein emotionales Solo, in dem er die Dämpfertechniken benutzt, für die er weithin bekannt war. Für Oliver habe man die Dämpfer erfunden, sollte Jelly Roll Morton später loben. Er setzte dazu nicht nur verschiedene Dämpfer vom Abflusspümpel bis zum Kindersandförmchen ein, sondern auch die effektvolle »wa-wa«-Technik, bei der er die Hand oder einen Dämpfer vor den Schallbecher des Kornetts hielt, um so den Klang des Instruments zu verändern. Sein Solo zeichnet sich durch einen sicheren Ton aus, zeigt nicht so sehr melodische Erfindungsgabe als vielmehr ein trefflich ausbalanciertes Spiel hinsichtlich Rhythmik, Timing, Dynamik und Sound. Dieses Solo wurde von vielen Trompetern seiner Zeit bewundert und Note für Note nachgespielt.
Die Aufnahmesitzung aber enthält auch die ersten Soli des jungen Louis Armstrong. Im ›Chimes Blues‹ spielt er ein kraftvolles Solo, das aus nicht mehr als einer Melodiephrase besteht, die er den Harmonien entsprechend sequenziert. Das Ganze ist offenbar ziemlich genau geplant, und so wurde später gemutmaßt, Oliver selbst habe das Solo konzipiert und Armstrong zugewiesen, allerdings hört man insbesondere in der Schlussphrase die improvisatorische Energie, mit der Armstrong am liebsten aus dem festen Melodieschema ausbrechen und das Ganze rhythmisch und harmonisch anreichern möchte.
Es wird oft und gern darauf hingewiesen, dass Armstrong aus der kollektiven Faktur des New-Orleans-Ensembles eine Solokunst geschaffen habe, dass er (zusammen mit Bechet und wenigen anderen) der erste große Solist des Jazz gewesen sei. Das ist sicher richtig, und doch sollte man nicht vergessen, dass er diese solistische Meisterschaft aus dem Geist des Kollektivs im New Orleans Jazz heraus entwickelt hatte, aus dem Wissen um die harmonischen Funktionen in der Band, um die Bedeutung der Stimmen im Vokalquartett. Der Autor Thomas Brothers hat das treffend umschrieben: Armstrong habe »die Kraft und den Reichtum kollektiver Improvisation in einer einzigen Linie« zusammengefasst.58 Man hört das bereits in einigen seiner frühen Soli, im ›Chimes Blues‹ mit Oliver etwa, in dem er Melodie- und Harmoniestimme quasi nacheinander spielt, im Vertrauen darauf, dass die Harmoniestimme im Gedächtnis des Hörers die Melodiestimme ergänzt. Wer Armstrongs Musik einzig als intuitiv erzieltes Ergebnis eines natürlichen Talents beschreibt, tut ihm nämlich Unrecht. Zur Kunst gehörte auch bei Armstrong das Wissen um Stimmführung, um harmonische Spannung, um Kadenzen und um die Wirkung von Dissonanzen und ihrer Auflösung. Armstrong mag kein Musiktheoretiker gewesen sein, aber er wusste genau, wie er all solche Techniken einzusetzen hatte, um die besten Effekte zu erzielen. Wie er das alles gelernt habe, fragte ihn Richard Hadlock später, und Armstrongs Antwort lautete: »Ich denke, Singen und Spielen ist dasselbe.«59 Er wusste genau, was er dem Vokalquartett seiner Jugend zu verdanken hatte. Er selbst hätte seine Spielweise nie als »analytisch fundiert« beschrieben, aber ein Chorus wie jener über den ›Chimes Blues‹ von 1923 ist anders als durch ein analytisches Bewusstsein für den musikalischen Prozess gar nicht zu erklären.
Am eindrucksvollsten aber ist Armstrong in ›Froggie Moore‹, einer Aufnahme, in der deutlich wird, wohin seine Reise gehen wird. Armstrong zeigt hier ein neues, von Oliver klar abweichendes rhythmisches Konzept. Er geht weit freier mit der Melodie um, nutzt Ansatz, Attack und vor allem auch das Vibrato seiner Tongebung, um das Solo zum Swingen zu bringen. Wer immer damals diese Aufnahmen hörte, muss sich bewusst gewesen sein, dass da ein Musiker heranreifte, der in eine ganz andere Richtung zielte als die doch sehr Ensemble-orientierte Musik seiner Kollegen: auf eine Musik, in der das Ganze, also die Bandleistung, genauso wie das Einzelne, das Solo der Musiker, einem dramaturgischen Gesamtziel unterlagen.
Armstrong betonte sein ganzes Leben lang, wie stark King Oliver ihn beeinflusst habe. Die Dämpfertechnik aber beispielsweise, für die Oliver so bekannt war, fand, von wenigen frühen Ausnahmen abgesehen (Bessie Smith’s ›Reckless Blues‹ vom Januar 1925 beispielsweise), nie wirklich ihren Weg in Armstrongs Spiel. Er variierte weniger den Sound als vielmehr die Melodie.
Armstrongs Präsenz in der Band blieb nicht ohne Folgen – auch für Oliver. Der Ältere war zwar der King, aber in den 1923 dokumentierten Aufnahmen hört man auch, dass er dem Neuen gegenüber, das Armstrong da mitbrachte, durchaus aufgeschlossen war. In ›Mabel’s Dream‹ beispielsweise, eingespielt im September 1923, spielt Oliver drei Solo-Chorusse. Jeder Chorus baut auf den davor gespielten auf, bringt etwas mehr insbesondere an rhythmischer Komplexität ins Spiel, gerät etwas stärker ins Swingen. Und während er in den beiden ersten Chorussen doch sehr nah am Thema bleibt, löst sich Oliver im letzten Chorus, in dem er darüber hinaus zum Dämpfer greift, fast auch melodisch vom Thema und färbt alles in Sound, Rhythmik und Melodik ein. Zwei Takes existieren von dieser Aufnahme, und es wird recht deutlich, wie stark sich Oliver allein in dem Dreivierteljahr, in dem die Band in Aufnahmen dokumentiert ist, durch Armstrong hat beeinflussen lassen. Übrigens gibt es noch eine dritte Aufnahme dieser Nummer vom Oktober 1923, in der Armstrongs Zweitstimme während des Oliver-Solos weitaus deutlicher zu hören ist.
›Where Did You Stay Last Night‹ hatte Armstrong unter dem Titel ›Wind and Grind‹ bereits in New Orleans für die Band Kid Orys verfasst. In den beiden Fassungen des ›Riverside Blues‹ ist es interessant auf die Solostimme Armstrongs zu horchen. Seine Töne sitzen nicht auf dem Beat, auch nicht synkopierend dazwischen, sondern bilden leicht vom Beat abweichende Akzente, eine Spielweise, die man gemeinhin als Off-Beat-Phrasierung bezeichnet.
Vom Oktober 1923 schließlich stammt eine Aufnahme des ›Camp Meeting Blues‹, die aus anderem Grund jazzgeschichtlich interessant ist. Das dritte Thema des Stücks nämlich entspricht ziemlich exakt dem Thema von Duke Ellingtons ›Creole Love Call‹ von 1927. King Oliver war empört und schrieb im Oktober 1928, ein Jahr nach der ersten Aufnahme des ›Creole Love Call‹ einen Brief an die Rechtsabteilung der Plattenfirma Victor, in dem er darauf hinwies, »dass diese Nummer von mir geschrieben wurde und am 11. Okt. 1923, Nr. 570230, unter dem Titel Camp Meeting Blues zum Urheberrecht angemeldet wurde«. Oliver bekam mit seiner berechtigten Klage wegen eines simplen Formfehlers kein Recht: Die von ihm genannte Nummer der Urheberrechtsanmeldung gehörte tatsächlich zu seinem ›Temptation Blues‹; den ›Camp Meeting Blues‹ hatte er wahrscheinlich vergessen zu registrieren.
Die Band war verständlicherweise stolz auf die von ihr eingespielten Schallplatten, und sie machte kräftig Werbung – etwa bei Straßenumzügen durch Chicago, bei denen die Band spielte und ein großes Transparent für den ›Dippermouth Blues‹ warb.60 Die Band besaß eigentlich ein großes Repertoire, hätte, wie der Schlagzeuger Baby Dodds bezeugt, ohne Probleme fünf Stunden am Stück spielen können, ohne einen Titel wiederholen zu müssen. Nach dem Beginn ihrer Plattenkarriere allerdings schränkten die Musiker das Repertoire marktgerecht ein, zum einen, weil sie auf diese Weise ihre neuen Platten promoten wollten, zum anderen, weil das Publikum eben genau nach den aufgenommenen Titeln verlangte. Viele der Stücke, die Oliver 1923 einspielte, sind Eigenkompositionen; im Lincoln Gardens mussten sie darüber hinaus sicher auch jede Menge an tagesaktuellen Schlagern spielen.
Oliver machte nicht nur für Gennett Aufnahmen, sondern auch für andere Plattenfirmen. Die ›Dippermouth Blues‹-Straßen-Bewerbung beispielsweise galt nicht der Gennett-Aufnahme vom April 1923, sondern einer Aufnahme für das Label OKeh vom 23. Juni. Es war nicht unüblich, dass Künstler für mehrere Plattenfirmen dieselben Stücke einspielten. Exklusive Plattenverträge, mit denen Künstler an ein Label gebunden werden sollten, wurden erst später üblich. Neben OKeh und Gennett kam im Oktober noch Columbia und im Dezember das Label Paramount hinzu. Diese parallele Vermarktung bot den Musikern vor allem die Chance, mehr Platten zu verkaufen und damit mehr Geld zu verdienen. Als heutige Hörer haben wir dadurch aber auch die reizvolle Gelegenheit, Stücke in mehreren Varianten zu hören, aufgenommen in unterschiedlichen Studios und unter verschiedenen Sound- und Aufnahmebedingungen. Am ausgewogensten wirken die Aufnahmen für das OKeh-Label im Juni und Oktober; in ihnen hatte der Toningenieur auch keine Probleme, den Klang des Schlagzeugs einzufangen – der Schrecken aller Toningenieure dieser frühen Zeit. Im OKeh-›Dippermouth Blues‹ jedenfalls erahnt man auch Baby Dodds’ Tom-Toms, und im OKeh-›Working Man Blues‹ hört man leise die Becken im Hintergrund – man muss allerdings sehr genau hinhören, weil das Schlagzeug ein wenig hinter dem perkussiven Banjo-Sound verschwindet und sich daneben eher mit Holzblöcken in den Vordergrund drängt.
Oliver war nicht der einzige Musiker, der Stücke für verschiedene Plattenlabels aufnahm; insbesondere Duke Ellington ist ein gutes weiteres Beispiel dafür. Der allerdings nutzte die meisten Neuaufnahmen für Variationen im Arrangement, stellte Solo-Reihenfolgen um oder veränderte die Orchestrierung einzelner Ensemblechorusse. Oliver dagegen behielt in diesen frühen Aufnahmen zumeist das gleiche Arrangement bei – es gehörte schließlich einerseits zu seinem täglichen Standardrepertoire und andererseits war Musikern in dieser frühen Phase der Schallplattenindustrie noch lange nicht klar, dass sie ein Dokument schufen, anhand dessen ihre Kunst auch der Nachwelt erhalten und von dieser beurteilt werden würde.
Die Creole Jazz Band trat übrigens nicht nur in Chicago auf. Vom Frühjahr 1924 ist eine Rezension eines Auftritts in South Bend, Indiana, erhalten, die uns Teile ihres Konzertrepertoires überliefert: ›Dipple Mouth‹ (also ›Dippermouth Blues‹), ›High Society‹, ›St. Louis Blues‹, ›The Eccentric‹. Und dann wird da noch ein Duett vermerkt, das Armstrong mit Lil Hardin gespielt habe: ›Tears‹. Das Stück war 1923 von der Creole Jazz Band aufgenommen worden, um aber eine Vorstellung davon zu erhalten, wie Armstrong im Duo mit Lil geklungen haben mag, empfiehlt sich eine Aufnahme aus den 1960er Jahren, in der der Trompeter zu Hause zu der Aufnahme King Olivers spielt.61 Hier hört man ihn im Vordergrund, und auch wenn mehr als 40 Jahre ins Land gegangen waren und sich sein Stil verändert hat, ist der melodische Ansatz deutlich zu erkennen, den man ansonsten in den Aufnahmen von 1923 eher im Hintergrund erahnen muss.
Vielleicht ist an dieser Stelle ein Vergleich mit Aufnahmen angebracht, die Freddie Keppard in den 1920er Jahren machte, ein Trompeter, der in Chicago als größter Konkurrent Olivers galt. Er war im Sunset Café mit einer zwölfköpfigen Kapelle zu hören, in der es mit ihm und dem Kornettisten Fats Williams eine ähnliche Konstellation gab wie in der Creole Jazz Band mit Oliver und Armstrong: Williams war für die Lead-Stimme zuständig und Keppard für den Jazz, also das spielerische Element.62 Keppard habe die höchsten Töne klar wie auf einer Flöte spielen können, erzählt Jelly Roll Morton und betont, Armstrong habe ihm in dieser Beziehung nicht das Wasser reichen können.63 Auf den erhaltenen Aufnahmen Keppards ist zumindest seine sichere Tongebung zu erleben, in ›Here Comes the Hot Tamale Man‹ etwa, das er im Juni 1926 in kleiner Besetzung des Orchesters von Doc Cook einspielte – einen Monat später ist die größer besetzte Fassung bereits weit weniger interessant. Cooks Arrangements waren meist reichlich theatralisch, wie sich in ›So This Is Venice‹ von 1924 vergegenwärtigen lässt, einem Titel, der hierzulande unter ›Ein Mops kam in die Küche‹ bekannt ist, in dem Keppard mal ›O Sole Mio‹ interpoliert und dann für einen vollen Chorus sein Instrument lautmalerisch »zum Lachen« bringt. Keppard sei halt ein Clown gewesen, urteilte Armstrong später, der schnelle Beifall sei ihm wichtiger gewesen als die Musik.64 Unter eigenem Namen existieren vom September 1926 nur zwei Titel Freddie Keppards auf Schallplatte, in denen er einen markant-kraftvollen, von stakkato-phrasierten Tönen geprägten Stil zeigt (etwa in ›Stock Yard Strut‹), eine antreibende Ensemblemusik, die jedoch meilenweit von den melodischen Erfindungen entfernt ist, die Armstrong zur selben Zeit spielte. Immerhin sei er in seinen besten Momenten ein »soul musicians« gewesen, attestiert Armstrong, ein Musiker mit emotionaler Tiefe also.65 ›Stock Yard Strut‹ und ›Salty Dog‹ vom September 1926 allerdings waren zugleich Keppards letzte Aufnahmen. Der Erfolg weit jüngerer Musiker und die verpassten Chancen einer größeren Karriere mögen ihn immer mehr deprimiert und zum Alkohol gezogen haben. Im Sommer 1933 verstarb er mit gerade einmal 44 Jahren an den Folgen einer Tuberkuloseinfektion.