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Colored Waif’s Home for Boys
ОглавлениеAm 1. Januar 1913 feierte Louis das Neue Jahr gemeinsam mit seinen Freunden und sang mit ihnen auf der Straße. Um Mitternacht gab es Feuerwerk: Die Leute feuerten mit allem, was sie hatten, auch mit Pistolen und Flinten. Armstrong hatte sich den 38er-Revolver seines Vaters stibitzt und schoss sechsmal in die Luft. Er wurde wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Ruhestörung über Nacht ins Kittchen gesteckt und am nächsten Tag ins Erziehungsheim für Farbige, ins »Colored Waif’s Home for Boys«. Diese Strafe war zugleich ein Glücksfall für Armstrong – nicht unbedingt weil er Manieren und gesellschaftliche Normen beigebracht bekam, sondern vor allem weil er hier seinen ersten formalen Musikunterricht erhielt.
Der Leiter des Heims, Joseph Jones, hatte um 1911 einige alte Instrumente gekauft – zwei Hörner, eine Piccoloflöte, ein Baritornhorn, eine Trommel und ein Signalhorn – und kurz darauf die erste Band seiner Anstalt gegründet. Es gab Vorbilder für solche Heimkapellen. So hatte in Charleston, South Carolina, Reverend Daniel Joseph Jenkins 1891 das Jenkins-Waisenhaus gegründet und bald darauf zwei professionelle Musiker angeheuert, die den Kindern Musikunterricht geben sollten. Er war sich sicher, dass dieser Unterricht und die Bandpraxis den Kindern Disziplin beibringen würden, und als Nebeneffekt sammelte die Truppe Geld fürs Waisenhaus. Die Jenkins Orphanage Band jedenfalls tourte bald die ganze Ostküste der Vereinigten Staaten entlang und war später sogar in Europa zu hören.
Ob Jones von Jenkins’ Bemühungen wusste, ist nicht bekannt, jedenfalls gewann er 1912 den Hornisten Peter Davis, der einige Brass-Bands in der Stadt gecoacht hatte, als Lehrer für Instrumentalunterricht. Davis leitete zugleich die Band, den Chor und das Gesangsquartett des Heims. Er war anfangs skeptisch und sah in Armstrong lediglich einen weiteren jugendlichen Straftäter, von dem nichts als Ärger zu erwarten war. Zugleich aber glaubte er an die positive und pädagogische Kraft der Musik und ermutigte seine Schützlinge, zu einem Instrument zu greifen. Armstrong maulte zuerst, ließ sich dann aber doch zum Tamburin überreden. Wenig später gab ihm Davis ein Althorn, mit dem er immer nur »umpah, umpah« machen musste, und schließlich ein Kornett, auf dem er bald das Wecksignal, den Zapfenstreich und Ähnliches spielen konnte. Als der andere Kornettspieler der Band entlassen wurde, brachte Davis ihm bei, die Melodie von ›Home Sweet Home‹ zu intonieren. Zuvor habe Louis nie ein Instrument in der Hand gehabt, erinnerte sich Davis in einem Interview fast dreißig Jahre später.16 Es muss eine Art natürliches Talent gewesen sein, oder um Armstrong selbst sprechen zu lassen: »Ich hatte schließlich mein ganzes Leben lang gesungen, und ich sagte mir, dass ein Althorn auch nur ein Instrument ist, das im Duett mit der Brassband singt, genauso wie eine Bariton- oder Tenorstimme dies im Quartett tat.«17
Davis jedenfalls fand Armstrongs Talent so vielversprechend, dass er ihm ab und zu Privatstunden gab. Der Schlagzeuger Paul Barbarin erinnerte sich später, Armstrong mit der Heimkapelle gehört zu haben: »Er stach heraus unter den anderen. Sein Ton war selbst als Kind schon mächtig.«18 Zutty Singleton sah ihn etwa zur selben Zeit und erinnert sich:
Wir sind extra nah rangegangen, um zu sehen, ob er diese Töne auch wirklich selbst spielt. Wir konnten einfach nicht glauben, dass er in so kurzer Zeit so gut zu spielen gelernt hatte. Ich weiß es noch genau, er spielte ›Maryland, My Maryland‹. Und wie er diese Melodie nahm, das swingte wie wild.19
Aber nicht nur Zeitzeugen erinnern sich an Armstrong, auch die Lokalzeitung hebt ihn in einem Artikel vom 31. Mai 1913 heraus, nennt ihn gar den »Leiter der Band«. Gemeint ist damit wohl eher die Rolle des Zeremonienmeisters, des Grand Marshalls, der vor der Band hermarschierte und das Publikum anfeuerte. Armstrong hatte nämlich bereits ein Gespür dafür entwickelt, was Wirkung erzielte: Er lief schon mal zum Scherz mit nach außen gestellten Füßen oder brach in wilde, komische Tänze aus. »Wir spielten ziemlich gut«, erinnerte sich Armstrong später, »natürlich nicht wie Joe Oliver und Manuel Perez in der Onward Band. Aber wir spielten regelmäßig für die Social Clubs.«20
Diese Social Clubs in New Orleans waren sowohl Treffpunkt als auch Freundeskreis und eine Art soziales Netzwerk, insbesondere für die afroamerikanische Bevölkerung. Man traf sich regelmäßig, feierte zusammen, organisierte Paraden, nahm geschlossen an den Mardi-Gras-Umzügen teil und engagierte für all dies gerne auch Bands, wenn man nicht sogar eine eigene Brassband hatte, die mit Uniform und Schirmmütze und den Insignien des Vereins durch die Straße zog. Die Social Clubs bereiteten ihren verstorbenen Mitgliedern große Begräbnisse mit Trauermusik auf dem Weg zum Friedhof und fröhlicher Musik auf dem Weg zurück: jene legendären New Orleans Funerals, die bis heute ein Teil der Jazzgeschichte der Stadt sind.
Armstrong lernte also sein Handwerk im Waisenhaus. Und viele Aspekte seiner späteren Kunst fanden hier bereits ihre erste Manifestation: die Kraft, eine lange Melodie halten zu können; das rhythmische Feeling, das sich auf dem Tamburin oder in seinen komischen Tänzen ausdrücken konnte; das Verlangen danach, sein Publikum zu unterhalten. Von der Musik, die Armstrong in der Waisenhaus-Kapelle spielte, ist nichts überliefert, aber eine Annäherung an die Spielfreude mag ein Tonfilmbeispiel der Jenkins Orphanage Band geben, das für eine Wochenschau 13 Jahre später in Charleston gedreht wurde und das man auf Videoplattformen oder der Website des Jenkins Institute findet. Etwa 25 Jungen stehen in Banduniform und spielen eine gleichermaßen von Ragtime und Marsch beeinflusste Musik, während zwei jugendliche Zeremonienmeister vor der Band tanzen und wild dirigieren. Vor allem die Outtakes des knapp elfminütigen Filmdokuments faszinieren: Nahaufnahmen von ernsthaft-konzentrierten Zehnjährigen, eine Szene mit Vortänzerinnen und Vortänzern, deren Bewegungen mal den damals gerade noch populären Charleston-Tanz heraufbeschwören, dann aber auch bereits die improvisatorischen Moves späterer Hip-Hop-Tänzer21.
Armstrong blieb zwei Jahre im Heim und wurde dann in die Obhut seines Vaters entlassen, der sich bereit erklärt hatte, auf ihn aufzupassen – auch wenn er wahrscheinlich eher an einem billigen Babysitter für die beiden Söhne interessiert war, die er mit einer neuen Frau hatte. Wenig später lebte Louis wieder bei Mutter und Großmutter.
Armstrong verschleierte zwar sein Geburtsdatum; über seine Herkunft und die durchaus harten Fakten seiner Jugend aber sprach er recht offen. Die Not seiner Kindheit mag ein Grund dafür gewesen sein, dass er sein ganzes Leben lang Menschen auch finanziell aushalf, wo immer er konnte. Der Posaunist Preston Jackson erinnerte sich, wie sich während einer Tournee in den 1930er Jahren gegen 18 Uhr eine Schlange in der Lobby des Hotels bildete, in dem Armstrong abgestiegen war. Der kam irgendwann herunter und verteilte unter den Wartenden Geld.22 Zugleich aber war sich Satchmo auch bewusst, dass seine Karriere ihn zum Vorbild für viele Jugendliche machte, die wie er eine schwere Jugend durchlebten. 1955 schickte sein Manager Joe Glaser ihm einen Stapel Briefe von Jungen, die im Milne Boys Home in New Orleans ein Instrument erlernten. Armstrong hatte dem Waisenhaus Geld gespendet, damit die dort vorhandenen Instrumente repariert und ein Musiklehrer angestellt werden konnte. »Ich bin einer von denen, die ein Horn blasen werden«, schreibt ihm der junge Sylvester Thomas. »Sie werden mich einmal Master Armstrong nennen.«23 Das Milne Boys Home, das von 1933 bis 1986 bestand und wo in späteren Jahren eine Plakette an Armstrong erinnerte, war das Nachfolgeheim des Colored Waif’s Home, in dem Louis seine ersten Musikstunden erhalten hatte. Peter Davis, sein Musiklehrer, unterrichtete dort noch bis 1949.