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Hier unterschreiben!

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Es lief alles auf einen kleinen Kringel auf einem Blatt Papier hinaus – ob ich bereit war, auf der gepunkteten Linie einer neuen Rettungsvereinbarung zu unterschreiben, die Griechenland tiefer in den labyrinthischen Schuldenkerker stoßen würde.

Meine Unterschrift war deshalb so wichtig, weil kurioserweise nicht Präsidenten oder Ministerpräsidenten gefallener Länder solche Vereinbarungen über Rettungskredite mit dem IWF oder der Europäischen Union unterzeichnen. Dieses vergiftete Privileg fällt dem unglückseligen Finanzminister zu. Deshalb war es für Griechenlands Gläubiger entscheidend wichtig, mich gefügig zu machen, mich zu kooptieren oder, falls das nicht gelingen sollte, mich zu zerschmettern und durch einen willigeren Nachfolger zu ersetzen. Hätte ich unterschrieben, wäre ein weiterer Outsider zum Insider geworden, und alle hätten mich mit Lob überschüttet. Die Flut von Schimpfwörtern, die die internationale Presse gerade zum passenden Zeitpunkt nur wenig mehr als eine Woche nach dem Besuch in Washington über mich ergoss, genau wie der Mitarbeiter des US-Finanzministeriums es mir angekündigt hatte, hätte es nicht gegeben. Ich wäre »verantwortungsbewusst« gewesen, ein »vertrauenswürdiger Partner«, »bekehrter Rebell«, der die Interessen seines Landes über seinen »Narzissmus« stellte.

Nach Larry Summers’ Gesichtsausdruck zu urteilen, als wir das Hotel verließen und in den strömenden Regen traten, war ihm das klar. Er wusste, dass den »Europäern« nicht an einer ehrenhaften Vereinbarung mit mir oder meiner Regierung gelegen war. Er wusste, dass man mich letzten Endes massiv unter Druck setzen würde, eine Kapitulationsurkunde zu unterschreiben als Preis dafür, dass ich ein Insider wurde, dem man vertrauen konnte. Er wusste, dass ich dazu nicht bereit war. Und er fand das schade, zumindest für mich.

Ich für meinen Teil wusste, dass er mir helfen wollte, zu einer praktikablen Vereinbarung zu kommen. Ich wusste auch, dass er tun würde, was er konnte, um uns zu helfen, sofern es nicht gegen die goldene Insiderregel verstieß: Wende dich nie gegen andere Insider und sprich nie zu Outsidern über das, was Insider tun oder sagen. Nicht sicher war ich mir, ob er verstehen konnte, warum ich auf gar keinen Fall eine nicht praktikable, unehrenhafte Vereinbarung über einen weiteren Rettungskredit unterschreiben würde. Es hätte zu lange gedauert, meine Gründe zu erklären, aber ich fürchte, selbst wenn wir Zeit dafür gehabt hätten, hätte ihm meine Erklärung nicht eingeleuchtet, weil unsere Ausgangspunkte zu unterschiedlich waren.

Meine Erklärung hätte ich in Form von ein oder zwei Geschichten präsentieren können. Die erste hätte wahrscheinlich in einer Athener Polizeistation im Herbst 1946 begonnen, als Griechenland am Rand eines kommunistischen Aufstands und in der zweiten Phase des schrecklichen Bürgerkriegs steckte. Die Geheimpolizei hatte einen zwanzigjährigen Chemiestudenten der Universität Athen mit Namen Giorgos festgenommen, zusammengeschlagen und mehrere Stunden in einer kalten Zelle liegen gelassen, bis ihn ein Beamter höheren Rangs in sein Büro holte, scheinbar, um sich zu entschuldigen: »Es tut mir leid, dass du so hart angepackt wurdest. Du bist ein guter Junge und hast das nicht verdient. Aber weißt du, es sind verräterische Zeiten, und meine Männer sind am Ende. Vergib ihnen. Unterschreib einfach hier, und dann kannst du gehen. Entschuldigung noch einmal.«

Der Beamte wirkte ehrlich, und Giorgos war erleichtert, dass die Hölle, die er in der Gewalt der Schläger durchlitten hatte, vorbei war. Aber dann begann er das Schriftstück zu lesen, das er unterschreiben sollte, und es lief ihm kalt den Rücken herunter. Auf dem maschinengeschriebenen Blatt hieß es: »Hiermit verurteile ich wahrhaftig und in aller Ehrlichkeit den Kommunismus, alle, die den Kommunismus verbreiten, und ihre verschiedenen Gefolgsleute.«

Zitternd vor Angst legte er den Stift hin, nahm alle Freundlichkeit zusammen, die seine großzügige Mutter Anna ihm im Lauf der Jahre mitgegeben hatte, und sagte: »Herr Polizist, ich bin kein Buddhist, aber ich würde nie eine Erklärung unterschreiben, dass ich den Buddhismus verurteile. Ich bin kein Muslim, aber ich denke nicht, dass der Staat das Recht hat, von mir zu verlangen, dass ich den Islam verurteile. Ich bin auch kein Kommunist und sehe nicht ein, warum man von mir verlangt, den Kommunismus zu verdammen.«

Giorgos’ Verweis auf die Meinungsfreiheit half nichts. Entweder unterschreiben oder systematische Folter und Haft von unbegrenzter Dauer. »Du hast die Wahl!«, schleuderte der aufgebrachte Beamte ihm entgegen. Er hatte durchaus Grund gehabt, etwas anderes zu erwarten. Giorgos besaß alle Eigenschaften eines guten Jungen – ein geborener Insider. Er war im ägyptischen Kairo geboren und aufgewachsen, in einer Mittelschichtfamilie innerhalb einer großen griechischen Gemeinschaft, die selbst in einer kosmopolitischen europäischen Enklave mit Franzosen, Italienern und Briten lebte, Seite an Seite mit gebildeten Armeniern, Juden und Arabern. Zu Hause sprachen sie dank seiner Mutter Französisch, in der Schule Griechisch, bei der Arbeit Englisch, auf der Straße Arabisch und in der Oper Italienisch.

Mit zwanzig wollte Giorgos zu seinen griechischen Wurzeln zurückkehren. Er gab seinen komfortablen Posten in einer Kairoer Bank auf und zog nach Griechenland, um Chemie zu studieren. Im Januar 1945 traf er an Bord der Corinthia in Athen ein, gerade einen Monat nach Ende der ersten Phase des griechischen Bürgerkriegs, der ersten Episode des Kalten Kriegs. Eine fragile Entspannung lag in der Luft, und Giorgos erschien es vernünftig, als studentische Aktivisten der Linken wie der Rechten ihn als Kompromisskandidaten für den Vorsitz der Studentenschaft seiner Fakultät auswählten.

Kurz nach seiner Ernennung erhöhte die Universitätsleitung jedoch die Studiengebühren, zu einer Zeit, als die Studenten in absoluter Armut vegetierten. Giorgos stattete dem Dekan einen Besuch ab und brachte alle erdenklichen Argumente gegen die Erhöhung vor. Beim Hinausgehen überwältigte ihn ein Geheimpolizist auf der Marmortreppe der Fakultät und zerrte ihn in einen wartenden Lieferwagen. Und dann wurde er vor eine Wahl gestellt, gegen die Summers’ Dilemma wie ein Spaziergang im Park wirkt.

Da der junge Mann aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, hatte der Polizeibeamte erwartet, dass er entweder freudig unterschreiben oder unter der Folter rasch zusammenbrechen würde. Doch je mehr er geschlagen wurde und je länger die Folter dauerte, desto weniger frei fühlte sich Giorgos, zu tun, was er am liebsten getan hätte: zu unterschreiben, die Qual zu beenden und nach Hause zu gehen. Und so kam er schließlich in verschiedene Zellen und Gefangenenlager, denen er jederzeit hätte entgehen können, wenn er nur seine Unterschrift unter ein einziges Blatt Papier gesetzt hätte. Vier Jahre später kehrte Giorgos, nur noch ein Schatten seiner selbst, aus dem Gefangenenlager in eine trostlose Gesellschaft zurück, die von seinem speziellen Dilemma weder etwas wusste noch sich wirklich dafür interessierte.

Unterdessen, während Giorgos in Haft gewesen war, wurde eine junge Frau, vier Jahre jünger als Giorgos, als erste weibliche Studierende zum Studium der Chemie an der Universität Athen zugelassen, obwohl die Hochschule alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, das zu verhindern. Eleni, so ihr Name, begann das Studium als rebellische Feministin, bevor der Begriff überhaupt existierte. Trotzdem hegte sie eine heftige Abneigung gegen die Linken: Während der nationalsozialistischen Besatzung war sie als sehr junges Mädchen von linken Partisanen entführt worden, die sie für die Verwandte eines NS-Kollaborateurs gehalten hatten. Nach ihrer Einschreibung an der Universität warb eine faschistische Organisation namens X sie an, weil sie so entschieden antikommunistisch eingestellt war. Ihr erster – und wie sich herausstellte, auch ihr letzter – Auftrag lautete, auf Schritt und Tritt einem Kommilitonen zu folgen, der ebenfalls Chemie studierte und gerade erst aus dem Lager entlassen worden war.

Das ist, kurz zusammengefasst, die Geschichte meiner Entstehung. Denn Giorgos ist mein Vater und Eleni, die in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung spielte, war meine Mutter. Mit dieser Geschichte im Gepäck war es für mich ausgeschlossen, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben als Gegenleistung für die Gnade, die Insidern gewährt wird. Hätte Larry Summers das verstanden? Ich glaube nicht.

Die ganze Geschichte

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