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Nicht mit mir
ОглавлениеDie zweite Geschichte geht so: Ich lernte Lambros in dem Apartment kennen, das Danae und ich in Athen bewohnen, ungefähr eine Woche bevor die Wahl im Januar 2015 mich ins Amt des Finanzministers brachte. Es war ein milder Wintertag, der Wahlkampf voll im Gang, und ich hatte mich bereit erklärt, einer spanischen Journalistin namens Irene ein Interview zu geben. Sie kam zu uns zusammen mit einem Fotografen und mit Lambros, einem Dolmetscher für Spanisch, der in Athen wohnte. Wie sich herausstellte, waren seine Dienste nicht nötig, denn Irene und ich sprachen auf Englisch miteinander. Aber er blieb da, sah sich um und hörte vor allem zu.
Nach dem Interview, als Irene und der Fotograf ihre Sachen zusammenpackten und auf die Tür zusteuerten, trat Lambros zu mir. Er schüttelte mir die Hand und wollte sie gar nicht mehr loslassen, während er mit der Konzentration eines Mannes, dessen Leben davon abhängt, dass er seine Botschaft überbringt, zu mir sagte: »Ich hoffe, Sie haben es mir nicht angesehen. Ich bemühe mich sehr, niemanden etwas merken zu lassen, aber ich bin obdachlos.« Und dann erzählte er mir sehr knapp seine Geschichte.
Lambros war Lehrer für Fremdsprachen gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt und eine Familie. 2010, als die griechische Wirtschaft zusammenbrach, verlor er seine Arbeit, und als sie aus ihrer Wohnung geworfen wurden, verlor er auch seine Familie. Das letzte Jahr hatte er auf der Straße gelebt. Seine einzige Einkommensquelle waren Dolmetscherdienste für ausländische Journalisten, die nach Athen kamen, um von der neuesten Demonstration auf dem Syntagma-Platz zu berichten, die aus dem Ruder gelaufen war und es deshalb in die Nachrichten geschafft hatte. Seine Gedanken kreisten darum, wie er ein paar Euro zusammenkratzen konnte, um sein billiges Mobiltelefon aufzuladen, damit ausländische Nachrichtencrews Kontakt zu ihm aufnehmen konnten, wenn sie in der Stadt waren.
Er fühlte, dass er mit seinem Monolog zum Ende kommen musste, und brachte an, was er von mir wollte:
Ich bitte Sie inständig, mir etwas zu versprechen. Ich weiß, dass Sie die Wahl gewinnen werden. Ich rede mit den Menschen auf der Straße und habe daran keinen Zweifel. Bitte, wenn Sie gewinnen und im Amt sind, denken Sie an diese Menschen. Tun Sie etwas für sie. Nicht für mich! Ich bin am Ende. Wen die Krise zu Fall gebracht hat, der steht nicht mehr auf. Für uns ist es zu spät. Aber bitte, bitte tun Sie etwas für die, die noch am Rand stehen. Die sich noch mit den Fingernägeln festkrallen. Die noch nicht abgestürzt sind. Lassen Sie sie nicht fallen. Drehen Sie ihnen nicht den Rücken zu. Unterschreiben Sie nicht alles, was man Ihnen vorlegt, so wie es Ihre Vorgänger getan haben. Schwören Sie, dass Sie es nicht tun werden. Schwören Sie?
Meine Antwort bestand nur aus zwei Worten: »Ich schwöre.«
Eine Woche später legte ich den Amtseid als Finanzminister meines Landes ab. Wenn in den nächsten Monaten meine Entschlossenheit einmal wankte, musste ich mir nur diesen Augenblick ins Gedächtnis zurückrufen. Lambros wird nie erfahren, welchen Einfluss er in den düstersten Stunden meiner einhundertzweiundsechzigtägigen Amtszeit hatte.