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Meister der Sparpolitik

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Im September 2015, nach dem Ende meiner Amtszeit als Minister, meldete ich mich zum ersten Mal wieder öffentlich zu Wort, in der Sendung Question Time der BBC, die vor Live-Publikum in Cambridge aufgezeichnet wurde. Der Moderator David Dimbleby stellte mich als Europas Vorkämpfer gegen die Sparpolitik vor. Das war eine Einladung an einen Macho aus dem Publikum, mich mit seinen Ideen über den Nutzen der Sparpolitik zu konfrontieren: »Wirtschaft geht eigentlich ganz einfach. Ich habe zehn Pfund in der Tasche. Wenn ich drei Pint Bier in Cambridge kaufe, muss ich mir wahrscheinlich Geld leihen. Wenn ich so weitermache, habe ich irgendwann kein Geld mehr und bin bankrott. Es ist gar nicht schwierig.«

Zu den größten Rätseln des Lebens, zumindest meines Lebens, gehört, wie leicht vernünftige Leute auf diese schreckliche Logik hereinfallen. Die persönlichen Finanzen sind eine absolut ungeeignete Grundlage, um die öffentlichen Finanzen zu verstehen. Das versuchte ich in meiner Antwort zu erklären: »In Ihrem Leben sind Ihre Ausgaben und Ihr Einkommen wunderbar unabhängig voneinander. Wenn Sie Ihre Ausgaben reduzieren, reduziert sich Ihr Einkommen nicht auch. Aber wenn ein Land massiv spart, reduziert sich auch sein Einkommen.«

Der Grund dafür ist, dass auf nationaler Ebene Gesamtausgaben und Gesamteinnahmen genau gleich sind, denn was jemand einnimmt, hat jemand anderer ausgegeben. Wenn jede Einzelperson und jedes Unternehmen in einem Land spart, darf der Staat auf keinen Fall ebenfalls sparen. Würde er auch sparen, würde der abrupte Einbruch bei den Gesamtausgaben zu einem ebenso abrupten Einbruch beim Volkseinkommen führen, was wiederum geringere Steuereinnahmen zur Folge hätte und zu dem spektakulären Ziel der Austeritätspolitik führen würde: einem immer weiter schrumpfenden Volkseinkommen, weshalb die vorhandenen Schulden nicht mehr bedient werden könnten. Deshalb ist Austerität genau die falsche Lösung.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, hat Griechenland ihn geliefert. Das Rettungspaket aus dem Jahr 2010 ruhte auf zwei Säulen: Die eine Säule waren gigantische Kredite zur Finanzierung der französischen und deutschen Banken, die andere Säule war ein kolossales Sparprogramm. Um einen Eindruck davon zu vermitteln: In den zwei Jahren nach der »Rettung« von Griechenland geriet Spanien, ein weiteres Land der Eurozone, in denselben Schlamassel und wurde gleichfalls mit Austerität behandelt, was in dem Fall eine Reduzierung der Staatsausgaben um 3,5 Prozent bedeutete. Im selben Zweijahreszeitraum von 2010 bis 2012 gingen die griechischen Staatsausgaben um sage und schreibe 15 Prozent zurück. Mit welchem Effekt? Spaniens Volkseinkommen sank um 6,4 Prozent, das griechische hingegen um 16 Prozent. Unterdessen plädierte in Großbritannien der frisch ernannte Schatzkanzler George Osborne für einen maßvollen Sparkurs, um sein Traumziel zu erreichen: einen ausgeglichenen Haushalt bis 2010.14 Osborne war einer der ersten Finanzminister, die ich nach meiner Wahl traf. Das Erstaunlichste bei unserer Begegnung – erstaunlich zumindest für die Pressevertreter, die ein frostiges oder scharfes Zusammentreffen erwartet hatten – war, dass wir keine nennenswerten Differenzen hatten. In den ersten Minuten unseres Gesprächs meinte ich: »Wir sind vielleicht über die Vorzüge der Sparpolitik uneins, aber Sie sparen nicht wirklich sehr, habe ich recht, George?«15

Er stimmte lächelnd zu. Was hätte er auch sonst tun sollen? Wenn es eine Spar-Olympiade gegeben hätte, wäre Griechenland auf dem ersten Platz gelandet und Osbornes Großbritannien irgendwo ziemlich weit unten. Osborne schien auch dankbar für die Hilfe, die er von der Bank of England erhielt. Seit die Londoner City 2008 von schweren Turbulenzen auf dem Kreditmarkt getroffen worden war, hatte die Bank of England Milliarden Pfund gedruckt, um die Banken solvent und die Wirtschaft »liquide« zu halten. Osborne bezeichnete das als »expansive Kontraktion«: Großzügigkeit seitens der Bank of England kombiniert mit Ausgabenkürzungen des Staates.

»Sie stehen immer hinter mir«, sagte er, offensichtlich erleichtert, nicht in meiner Situation zu sein: Geisel einer Europäischen Zentralbank, die genau das Gegenteil tat.

»Ich beneide Sie, George«, klagte ich. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich eine Zentralbank, die mir bei jedem Schritt in den Rücken fällt. Können Sie sich vorstellen, wie es hier in Großbritannien aussehen würde, wenn Sie, statt ›expansive Kontraktion‹ zu betreiben, wie ich zu ›kontraktorischer Kontraktion‹ gezwungen wären?«

Er nickte lächelnd und signalisierte mir, dass ich wenn schon nicht seine Solidarität, so wenigstens sein Mitgefühl hatte.

Dass die Begegnung zwischen einem Schatzkanzler der Torys und einem Finanzminister, der die radikale Linke Griechenlands vertrat, so glatt lief, ist tatsächlich nicht so verwunderlich, wie es die Presse darstellte. Drei Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt der Eurokrise, hatte ein Verband vereidigter Wirtschaftsprüfer mit Sitz in Australien beschlossen, die Teilnehmer ihrer jährlichen Konferenz mit einer Debatte zwischen einem Linken und einem Rechten aus Europa zu erfreuen. Und so luden sie Lord (Norman) Lamont, ehemals Schatzkanzler im Kabinett von John Major, und mich zu einer Debatte ein in der Erwartung, dass es gehörig krachen würde. Nur leider hatten sie das falsche Thema ausgewählt: die Krise in der Eurozone. Als wir uns auf dem Podium niedergelassen hatten vor lauter Zuschauern, die mit einem Hahnenkampf rechneten, stellten wir rasch fest, dass wir in nahezu allen Punkten übereinstimmten.

Die Diskussion verlief tatsächlich so freundschaftlich, dass wir uns nachher mit Danae trafen und zu dritt zum Abendessen in ein Restaurant am Wasser gingen. Im strahlenden Sonnenlicht blühte unsere Freundschaft auf – mit Unterstützung des köstlichen australischen Weins, wie Norman mich immer wieder erinnert. Danach blieben wir in Verbindung und tauschten weiterhin unsere Ansichten aus in einer Weise, die mich davon überzeugte, dass wir mehr gemeinsam hatten, als ich mir vorgestellt hätte. Im Dezember 2014 schockierte ich Norman mit der unerwarteten Nachricht, dass ich in einem Monat das griechische Finanzministerium übernehmen würde. Seit diesem Tag und während meiner turbulenten Amtszeit, aber auch danach noch, erwies sich Norman als ein Fels in der Brandung, ein treuer Freund und zuverlässiger Unterstützer. Bevor ich 2015 Downing Street Nr. 11, den Amtssitz von George Osborne, betrat, hatte Norman ihn angerufen und unsere Begegnung mit einigen warmen Worten über mich vorbereitet.

Während meine Freundschaft mit Lord Lamont vielen merkwürdig vorkam, vor allem meinen linken Genossen in der Regierung, passte sie sehr gut in ein größeres Muster. In den trostlosen Jahren von 2010 bis heute war ich immer wieder verblüfft, dass ich, der stolze Linke, Unterstützung von allen möglichen Rechten erhielt: von Bankern der Wall Street und der City of London, von rechten deutschen Ökonomen, sogar von amerikanischen Libertären. Um nur ein Beispiel zu geben, wie seltsam die Dinge laufen können: An einem einzigen Tag Ende 2011 sprach ich vor drei ziemlich unterschiedlichen Versammlungen in New York City – einmal vor Occupy Wall Street, einmal bei der New Yorker Federal Reserve und dann noch vor Hedgefonds-Managern und Bankenvertretern. Allen erzählte ich das Gleiche über die Krise Europas, und aus allen drei Lagern eingeschworener Feinde erhielt ich die gleiche Zustimmung.

Was den echten Libertären, den sich langsam erholenden Bankern der Wall Street und den angelsächsischen Rechten an meinen ansonsten linken Positionen gefiel, war genau das, was das griechische und das europäische Establishment verabscheuten: meine klare Ablehnung immer neuer, nicht nachhaltiger Kredite, die einen Bankrott als Liquiditätsproblem verschleierten. In der Wolle gefärbte Marktwirtschaftler sind allergisch gegen Wohltaten, die die Steuerzahler finanzieren. Sie lehnen aus ganzem Herzen meine Ansichten ab, wie wichtig in Phasen einer Rezession substanzielle öffentliche Investitionen sind und zu jeder Zeit Besteuerungsgrundlagen, die für mehr Einkommensgerechtigkeit sorgen. Aber wir stimmen darin überein, dass es eine entsetzliche Verschwendung von Ressourcen und der sichere Weg ins Massenelend ist, durch vom Steuerzahler finanzierte Kredite einen Bankrott immer weiter zu verschleppen. Vor allem anderen verstehen Libertäre, was Schulden bedeuten. Deshalb durchschauten wir übereinstimmend die menschenverachtende Täuschung hinter dem Griechenland-Programm, zu dem Christine Lagarde mich vier Jahre später drängte.

Der offiziellen Erklärung, wie das Programm des Establishments Griechenland im Jahr 2015 wieder auf die Beine helfen sollte, könnte man die Überschrift geben: »Operation Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit«. Die grundlegende Idee war folgende: Griechenland hat den Euro und kann deshalb nicht durch die Abwertung seiner Währung Investitionen von außen anlocken, das heißt die übliche Strategie anwenden, um international wieder wettbewerbsfähig zu werden. Aber es kann das gleiche Ergebnis durch eine innere Abwertung als Folge einer strikten Sparpolitik erreichen. Wie soll das gehen? Drastische Kürzungen bei den Staatsausgaben werden Preise und Löhne sinken lassen. Griechisches Olivenöl, Hotels auf Mykonos und die Frachtgebühren griechischer Schiffe werden für deutsche, französische und chinesische Kunden sehr viel billiger werden. Wenn Griechenlands Wettbewerbsfähigkeit auf diese Weise wiederhergestellt ist, werden die Exporte und der Tourismus anziehen. Die Investoren beobachten diese wundersame Verwandlung, strömen herbei und stabilisieren so die Wirtschaft. Bald kehrt das Wachstum zurück, und die Einkommen steigen. Mission erfüllt.

Das hätte eine überzeugende Argumentation sein können, hätte sie nicht das Offensichtliche geleugnet, wie die Libertären wohl wussten: Kein Investor, der bei Verstand ist, wird in einem Land investieren, dessen Staat, Banken, Unternehmen und Haushalte allesamt insolvent sind. Während die Preise, Löhne und Einkommen zurückgehen, werden die Schulden, die der Insolvenz zugrunde liegen, nicht sinken, sondern weiter steigen. Das Einkommen zu reduzieren und neue Schulden zu machen, beschleunigt den Prozess noch. Genau das passierte in Griechenland ab 2010.

Im Jahr 2010 schuldete der griechische Staat für je 100 Euro Pro-Kopf-Einkommen ausländischen Banken 146 Euro. Ein Jahr später, 2011, war das Pro-Kopf-Einkommen gegenüber 2010 auf 91 Euro gesunken und 2012 auf 79 Euro. Unterdessen flossen die offiziellen Kredite der europäischen Steuerzahler herein, bevor sie an die französischen und deutschen Banken weitergeleitet wurden, und dadurch stieg die Staatsverschuldung von 146 Euro pro Kopf im Jahr 2010 auf 156 Euro pro Kopf in 2011. Selbst wenn sämtliche griechischen Steuersünder sich über Nacht bekehrt und wir alle uns in eine Nation sparsamer presbyterianischer Schotten verwandelt hätten, wären unsere Einkommen zu gering und unsere Schulden zu hoch gewesen, um den Bankrott abzuwenden. Die Investoren durchschauten das und wollten griechische Investitionsprojekte nicht einmal mit der Kneifzange anfassen. Der Nebeneffekt war eine humanitäre Krise, die schließlich Menschen wie mich in die Regierung brachte.

Als ich dort war, erwiesen sich amerikanische Libertäre und britische Marktwirtschaftler angesichts der Dauerkrise der internationalen Linken als meine effizientesten Unterstützer. Interessanterweise trieb sie ihre ideologisch begründete, quasi darwinistische Verpflichtung, Verlierer am Markt untergehen zu lassen, auf meine Seite. Sie wussten um die Gefahren von zu viel Kredit und wiederholten ihr Mantra: »Jedem verantwortungslosen Kreditnehmer steht ein verantwortungsloser Kreditgeber gegenüber.« Das brachte sie zu der Schlussfolgerung, dass faule Kredite das Problem der unverantwortlichen Kreditgeber sein sollten, nicht der Steuerzahler. Die unverantwortlichen Kreditnehmer sollten auch einen Preis für ihre Verantwortungslosigkeit zahlen, und der sollte hauptsächlich darin bestehen, dass sie so lange keinen Kredit mehr bekommen würden, bis sie ihre Vertrauenswürdigkeit wieder bewiesen hätten.

Die ganze Geschichte

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