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»Vaterlandsverräter« – Die Ursprünge eines kuriosen Vorwurfs

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Meine Karriere als »Vaterlandsverräter« begann im Dezember 2006. Damals wurde ich gebeten, in einer öffentlichen Debatte, die der Thinktank eines ehemaligen Ministerpräsidenten organisiert hatte, etwas zum griechischen Haushalt des Jahres 2007 zu sagen. Nach einem Blick auf die Zahlen musste ich einfach das jämmerliche Beschönigungsmanöver beim Namen nennen:

Heute … bedrohen uns die Blasen auf dem amerikanischen Häusermarkt und auf dem Derivatemarkt … Wenn diese Blasen platzen, und sie werden mit Sicherheit platzen, wird es keine Zinssenkung mehr schaffen, die Investitionen in diesem Land so wiederzubeleben, dass die Wirtschaft sich wieder fängt, und diese ganzen Haushaltszahlen sind hinfällig … Die Frage ist nicht, ob das passiert, sondern wie schnell sich daraus unsere nächste große Wirtschaftskrise entwickelt.

Die anderen, die mit mir auf dem Podium saßen, darunter zwei ehemalige Finanzminister, schauten mich an, als hätte ich den Verstand verloren und sei hier fehl am Platz.9 In den nächsten zwei Jahren begegnete mir dieser Blick immer wieder. Selbst nachdem Lehman Brothers geplatzt, die Wall Street kollabiert und der Westen in der großen Rezession versunken war, lebten Griechenlands Eliten weiter in einer rosigen Wolke der Selbsttäuschung. Ob bei Dinnerpartys, in Seminaren an der Universität oder in Kunstgalerien, überall schwärmten sie, dass Griechenland gegen die »angelsächsische Krankheit« immun sei, in der sicheren Überzeugung, unsere Banken seien ausreichend konservativ und die griechische Volkswirtschaft bestens gerüstet, um den Sturm abzuwettern. Wenn ich darauf hinwies, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein konnte, wirkten meine Worte als schrille Dissonanz. Doch es wurde noch schlimmer.

Tatsächlich zahlen Staaten niemals ihre Schulden zurück. Sie prolongieren sie, das heißt, sie schieben die Tilgung unbegrenzt hinaus und bezahlen nur die Zinsen. Solange sie das können, sind sie solvent.10 Man kann sich Staatsschulden am besten wie ein tiefes Loch im Boden vorstellen neben einem Berg, der für das Volkseinkommen des Landes steht. Tag für Tag wird das Loch tiefer, selbst wenn der Staat keine neuen Schulden macht, weil sich Zinsen zu den Schulden summieren. Aber in den guten Zeiten, wenn die Wirtschaft wächst, wird auch der Einkommensberg immer höher. Solange der Berg schneller wächst als das Loch, kann man das zusätzliche Einkommen in das Loch schaufeln und so seine Tiefe stabil und den Staat solvent halten. Insolvenz droht, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst oder sogar schrumpft: Dann nagt die Rezession am Einkommensberg des Landes, und das Tempo, mit dem das Schuldenloch tiefer wird, lässt sich nicht mehr bremsen. Alarmierte Finanzleute, die dieses besorgniserregende Szenario beobachten, werden höhere Zinsen für ihre Kredite fordern als Preis dafür, dass sie den Staat weiter refinanzieren, doch höhere Zinsen wirken wie übereifrige Bagger, die noch schneller graben und das Loch noch tiefer machen.

Vor der Krise von 2008 hatte Griechenland innerhalb der Europäischen Union das tiefste Schuldenloch im Verhältnis zu seinem Einkommensberg. Aber wenigstens wuchs der Berg schneller, als das Loch tiefer wurde, was einen Anschein von Nachhaltigkeit erzeugte.11 All das änderte sich bedrohlich Anfang 2009, als die französischen und deutschen Banken ins Wanken gerieten, weil sie sich die Taschen mit toxischen amerikanischen Derivaten vollgestopft hatten, die nach dem Einbruch der Wall Street wertlos waren. Das doppelte Unglück für Griechenland bestand darin, dass das Wachstum bisher durch immer neue Schulden angetrieben worden war – Kredite, die Unternehmen (oft auf dem Weg über den griechischen Staat) von eben den französischen und deutschen Banken bekommen hatten, die auch dem Staat Geld liehen.12 In dem Augenblick, in dem die Banken in Panik gerieten und dem privaten und dem öffentlichen Sektor in Griechenland gleichzeitig den Geldhahn zudrehen würden, wäre das Spiel aus: Griechenlands Einkommensberg würde kollabieren und das Schuldenloch zu einem Abgrund werden.13 Mit diesen düsteren Überlegungen versuchte ich, alle, die es hören wollten, vor der drohenden Katastrophe zu warnen.

Im Herbst 2009 wurde eine neue griechische Regierung gewählt, die mit dem Versprechen angetreten war, durch Mehrausgaben die Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen. Der neue Ministerpräsident und sein Finanzminister, beide von der sozialdemokratischen PASOK, begriffen es einfach nicht. Unser Staat war schon längst rettungslos bankrott, als sie vereidigt wurden. Die weltweite Kreditklemme, die nichts mit Griechenland zu tun hatte, sorgte dafür, dass die europäischen Banken uns kein Geld mehr gaben. Griechenland war ein Land mit schuldengetriebenem Wachstum – Schulden hauptsächlich in fremden Währungen, während Griechenland auf die Geldpolitik im Euroraum keinen Einfluss hatte –, umringt von europäischen Volkswirtschaften, die tief in der Rezession steckten, und konnte nicht abwerten. Deshalb musste der Einkommensberg zwangsläufig so rasch schwinden, dass das ganze Land im Schuldenloch versinken würde.

Im Januar 2010 warnte ich in einem Radiointerview den Ministerpräsidenten, den ich persönlich kannte und mit dem ich mich gut verstand: »Was immer Sie tun, bitten Sie nicht unsere europäischen Partner um Geld in dem vergeblichen Versuch, unseren Bankrott abzuwenden.« Damals unternahm der griechische Staat natürlich eine übermenschliche Anstrengung, um genau das zu tun. Umgehend brandmarkten mich Regierungsquellen als Verräter – ein Dummkopf, der einfach nicht verstand, dass solche Prognosen selbsterfüllend waren, denn man musste doch das Vertrauen der Märkte in die finanzielle Gesundheit des Staates erhalten, weil nur dann weitere Kredite kamen. Weil ich überzeugt war, dass wir dem Bankrott nicht entgehen konnten, egal, welche beruhigenden Töne wir von uns gaben, machte ich weiter. Die BBC und andere ausländische Medien fanden heraus, dass ich früher Reden für Ministerpräsident Papandreou geschrieben hatte. Es tauchten Schlagzeilen auf wie »Ehemaliger Berater des griechischen Ministerpräsidenten sagt, Griechenland sei bankrott«, die meinen Ruf zementierten, der schlimmste Feind des griechischen Establishments zu sein.

Upton Sinclair hat einmal gesagt: »Es ist schwierig, jemanden dazu zu bringen, dass er etwas versteht, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.« In dem Fall hingen Einkommen und Reichtum der herrschenden Klasse in Griechenland davon ab, dass sie nicht von Griechenlands Bankrott überzeugt waren. Wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in dieser und der nächsten Generation die faulen Kredite tragen mussten, damit das Verhältnis der griechischen Oligarchen zu den ausländischen Bankern und Regierungen ungetrübt blieb, dann war es eben so. Kein Hinweis auf die Interessen der restlichen 99 Prozent der Griechen und ihrer Nachkommen hätte sie zu einem Gesinnungswandel bewegen können. Aber je mehr sie ihre Ohren gegenüber Fakten verschlossen, die nicht zu ihren Annahmen passten, desto stärker spürte ich die Pflicht, unser Volk zu warnen: dass die Kredite, die das Establishment in seinem Namen aufnahm und die den Bankrott angeblich verhindern sollten, ihn tatsächlich nur noch schlimmer machen und alle Griechen ins Schuldgefängnis bringen würden. Freunde und Kollegen sagten mir, ich hätte wohl recht, aber es sei politisch unklug, von Bankrott zu reden. Ich bin kein geborener Politiker und antwortete ihnen mit einem Zitat von John Kenneth Galbraith: »Es gibt Zeiten in der Politik, da muss man auf der richtigen Seite stehen und verlieren.« Damals wusste ich nicht, wie prophetisch diese Worte waren.

Und so führte ich meinen einsamen Kampf weiter, um mein Land zu überzeugen, dass es sich bankrott erklären sollte, und um zu verhindern, dass ihm andernfalls das Armenhaus drohte. Im Februar 2010 sagte ich im staatlichen Fernsehen, das Problem mit den immer neuen Krediten sei, dass wie bei der Reise nach Jerusalem die Musik irgendwann aufhören werde. In unserem Fall würden dann die schwächsten Europäer, deren Steuern und Sozialleistungen die Kredite finanzierten, »Genug!« rufen. Wir würden viel ärmer, viel höher verschuldet und bei unseren europäischen Partnern verhasst sein. Im April 2010, einen Monat vor dem Rettungspaket, veröffentlichte ich rasch hintereinander drei Artikel. In dem ersten vom 9. April mit der Überschrift »Sind wir bankrott?« schrieb ich, wenn der Staat weiter so tue, als sei er nicht bankrott, indem er immer neue Kredite aufnahn, drohe uns »der schlimmste Bankrott von Privathaushalten und Unternehmen in unserer Nachkriegsgeschichte«. Aber wenn der Staat den Bankrott eingestehe und sofort in Verhandlungen mit seinen Gläubigern eintrete, könnte man einen Großteil der Last mit denen teilen, die für die Schulden verantwortlich seien: den Banken, die vor 2008 rücksichtslos Kredite vergeben hätten.

Die Antwort des Establishments fiel kurz und unmissverständlich aus: Wenn unsere Regierung um eine Umschuldung bitten sollte, würde Europa uns aus der Eurozone werfen. Meine Erwiderung war ebenso kurz und unmissverständlich: In dem Fall würden das französische und das deutsche Bankensystem explodieren und mit ihnen die ganze Eurozone. Sie würden uns nicht rauswerfen. Und selbst wenn sie es doch täten – was nützte es, in einer Währungsunion zu sein, die die Volkswirtschaften ihrer Mitglieder zerstört? Anders als die Eurogegner, die die Krise als Chance betrachteten, auf den Grexit zu drängen, argumentierte ich, der einzige Weg, nachhaltig in der Eurozone zu bleiben, sei es, die Anweisungen der Institutionen nicht zu befolgen.

Nicht einmal zehn Tage bevor die Rettungsvereinbarung unterschrieben wurde, feuerte ich zwei weitere Schüsse in Richtung der Regierung ab. Am 26. April verglich ich in einem Artikel mit der Überschrift »Europas letzter Tango« die Bemühungen unserer Regierung um eine Rettung mit denen mehrerer aufeinanderfolgender argentinischer Regierungen, die versucht hatten, durch hohe Dollarkredite des IWF die 1:1-Bindung des Peso an den US-Dollar so lange zu erhalten, dass die Reichen und die Unternehmen ihren Besitz in Argentinien liquidieren, die Erlöse in Dollar eintauschen und dann an die Wall Street transferieren konnten – bevor Wirtschaft und Währung kollabierten und die angehäuften Dollarschulden die hilflosen Argentinier unter sich begruben. Zwei Tage später ging ich mit einem weiteren Artikel aufs Ganze. Die Überschrift lautete »Die schönen Seiten des Bankrotts«.

Fünf Tage später wurde der Rettungskredit vereinbart. Der Ministerpräsident wählte eine idyllische griechische Insel als Hintergrund für seine Ansprache an die Nation, pries den Kredit als Griechenlands zweite Chance, Beweis der europäischen Solidarität, Grundlage unserer wirtschaftlichen Erholung, blablabla. Er war sein politisches Ende und unser direkter Weg ins Armenhaus.

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