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Platz der Hoffnung
ОглавлениеWährend das griechische Staatsfernsehen mich ächtete, weil ich weiter für eine Umschuldung kämpfte, arbeitete der IWF genau darauf hin. Die deutsche Regierung wollte davon nichts wissen, aber der IWF war immer verärgerter über den Schlamassel, in den die Europäer ihn hineingezogen hatten, und drängte auf eine Umschuldung. Um den IWF bei Laune zu halten, konsultierte der damalige griechische Finanzminister halbherzig Umschuldungsexperten in Washington, obwohl er entschlossen war, sich Berlins Wünschen zu fügen.17 Unterdessen gelangten Berlin und Paris zu dem Schluss, dass Griechenland einen neuen Rettungskredit, einen Schuldenschnitt und eine neue Regierung brauchte.
Ihr Gedankengang war ganz einfach: Der erste Rettungskredit war fast vollständig dafür draufgegangen, die französischen und deutschen Banken zu stützen. Der griechische Staat würde bald mehr Geld brauchen – viel mehr Geld –, um weiter den Anschein zu wahren, solvent zu sein. Aber so wie Sie Ihre Gesamtverschuldung erhöhen, wenn Sie die Hypothekenraten mit Ihrer Kreditkarte bezahlen, hätte die bereits schäumenden Parlamentarier in Europa angesichts der Gesamtsumme, die im Rahmen des zweiten Rettungspakets 2012 an Athen fließen sollte, kollektiv der Schlag getroffen, wäre damit nicht irgendeine Form von Schuldenschnitt verbunden worden. Der französische Staatspräsident Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel akzeptierten einen Schuldenschnitt für Griechenland unter der Bedingung, dass er nur die Gläubiger treffen würde, die ihnen nicht wirklich schaden konnten. Im Sommer 2011 war es entschieden: Der Haircut würde hauptsächlich die griechischen Pensionsfonds treffen, halb öffentliche griechische Institutionen und die griechischen Sparer, die Staatsanleihen gekauft hatten. Die Kredite hingegen, die der IWF und die europäischen Institutionen 2010 vergeben hatten, würden selbstverständlich unangetastet bleiben.18
Dass dies das Ende der jämmerlichen Regierung Papandreou bedeuten würde, die das erste Rettungspaket durch das Parlament gebracht hatte, galt als akzeptabler Preis. Schließlich hatten Ministerpräsident Papandreou, sein Finanzminister und das ganze griechische Establishment den Segen des Parlaments für das erste Rettungspaket nur bekommen, indem sie wiederholt beteuerten, es werde den griechischen Karren aus dem Dreck ziehen, eine Umschuldung sei weder nötig noch erwünscht, und jeder, der etwas anderes behaupte, verdiene es, geteert und gefedert zu werden – oder zumindest nach der Sitte des alten Athen in einem Scherbengericht geächtet zu werden. Wie hätte dieselbe Regierung nicht einmal zwei Jahre später eine Umschuldung plus einen noch größeren Kredit als den ersten durch das erschöpfte und gedemütigte Parlament peitschen können? Ihr Ende war besiegelt.
Die Machtlosigkeit der Regierung Papandreou war nicht nur im Parlament offensichtlich, sondern noch mehr davor, auf dem Syntagma-Platz. Syntagma heißt »Verfassung«, der Name des Platzes geht zurück auf eine Erhebung gegen den in Bayern geborenen König Otto im Jahr 1843. Damals trotzten die Rebellen ihrem ausländischen Herrscher eine geschriebene Verfassung ab. Der Platz liegt zwischen dem Parlamentsgebäude auf der einen Seite, dem ehemaligen Palast von König Otto, und einem hässlichen Betonblock aus den 1970er-Jahren auf der anderen Seite, der das Finanzministerium beherbergt. Von manchen Stellen des Platzes aus kann man die Akropolis sehen, eine Erinnerung an vergangenen Glanz und an die Idee, dass es auf den demos (das Volk) ankommt. Seit 1843, als König Otto in die Knie gezwungen wurde, begannen fast alle Demonstrationszüge und Kundgebungen auf dem Syntagma-Platz, direkt vor dem Parlament. Dort schloss ich mich Anfang der 1970er-Jahre wie Millionen andere Griechen meiner Generation den ersten Demonstrationen an, lernte Tränengas kennen und machte meine ersten politischen Erfahrungen.
Im Frühjahr 2011, als das Land bereits tief in der Rezession steckte, begann die spontane Besetzung des Syntagma-Platzes – wahrscheinlich in Anlehnung an ähnliche Besetzungen öffentlicher Plätze in Spanien durch die sogenannten indignados, die »Empörten«, die gegen die Sparpolitik protestierten und ihre Würde zurückforderten. Zuerst versammelten sich nach Einbruch der Dunkelheit tausend bis zweitausend Menschen. Sie kamen jeden Abend wieder, und jeden Abend waren es einige Tausend mehr als in der Nacht zuvor. Das ging so drei Monate lang. Auf dem Höhepunkt waren es hunderttausend Menschen. Obwohl gelegentlich Gewalttätigkeiten von Faschisten, der Bereitschaftspolizei und vermummten Anarchisten aufflackerten, waren die perfekt strukturierten Debatten das Besondere an diesen Versammlungen. Niemand durfte länger als drei Minuten sprechen, die Redner wurden ausgelost, und alle paar Stunden wechselte das Diskussionsthema. (Ich weiß noch, dass ich dachte, wie wunderbar es wäre, wenn man solche geordneten Diskussionen an unseren Universitäten einführen könnte.) Es war zwar nicht praktizierte Demokratie, denn es konnten keine bindenden Beschlüsse gefasst werden, aber zumindest war der Platz eine große Agora, die von Möglichkeiten vibrierte. Ganz anders ging es direkt daneben im Parlament zu, der Stätte unserer nationalen Demütigung und Unterwerfung unter eine große Wirtschaftskrise.
Danae und ich unternahmen oft den zehnminütigen Spaziergang von unserer Wohnung zum Syntagma-Platz, um den Sauerstoff der Hoffnung einzuatmen. Zweimal wurde ich gebeten, zu der Menge zu sprechen. Auf dem Weg zu dem improvisierten Podium erinnerte ich mich daran, dass ich das letzte Mal in Nottinghamshire bei einer Demonstration gesprochen hatte, beim Bergarbeiterstreik 1984 an einer Streikpostenkette. Zumindest war es auf dem Syntagma-Platz warm, die Menschenmenge war viel größer, und ich war nicht länger ein junger »Ausländer, der sich einmischte«, wie mich ein britischer Polizist damals genannt hatte. Aber das Hochgefühl war das gleiche. Als ich sichtlich freudig vom Podium herunterkam, flüsterte mir Danae ins Ohr: »Bist du sicher, dass du nicht für das Parlament kandidieren willst?« Ich sagte, ich sei sicher. Wie immer meine persönlichen Gefühle sein mochten, der beste Beitrag, den ich zu der Sache leisten könne, bestehe darin, die Kontakte zu erhalten, die ich zu Politikern aus unterschiedlichen Parteien geknüpft hätte, und zu versuchen, über Parteigrenzen hinweg etwas zu bewirken. Aber tief im Inneren fragte ich mich, wie lange das noch möglich sein würde. Der Nebel der Zwietracht wurde dicker.
Im Juni 2011 zwang die Troika die dahinsiechende Regierung, ein zerstörerisches Gesetz nach dem anderen durch das Parlament zu bringen, darunter auch eines, das praktisch alle Rechte der Gewerkschaften aushebelte. Das waren die Rituale ihres Endes, die letzte Demütigung, bevor Papandreou schließlich durch das zweite Rettungspaket der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Menschenmassen auf dem Syntagma-Platz spürten die Krise; es kamen immer mehr, sie waren immer aufgebrachter, und bald besetzten sie den Platz rund um die Uhr. Unheil verheißende Differenzen traten zutage. Auf dem oberen Platz zeigten Nationalisten und Faschisten hässlich Präsenz mit Slogans, die ihren Hass auf alle Politiker, ja sogar auf die parlamentarische Demokratie widerspiegelten – ein deutliches Zeichen für den Aufstieg der Partei Goldene Morgenröte. Auf dem unteren Platz versammelten sich die deutlich zahlreicheren Progressiven und bemühten sich, sowohl dem Establishment wie der plumpen Agitation gegen das Establishment, die auf dem oberen Platz betrieben wurde, die Stirn zu bieten, indem sie die Tradition pluralistischer, gut organisierter Debatten pflegten.
Abgeordnete, insbesondere von der regierenden sozialistischen Partei, sagten mir am Telefon oder verbittert bei einer Tasse Kaffee hinter verschlossenen Türen, dass sie es nicht mehr aushielten. Auf dem Weg ins Parlament an den schreienden, wütenden, gedemütigten Menschen vorbeizugehen, um drinnen für Gesetze zu stimmen, die sie verabscheuten, belastete sie sehr. Immer wieder sagten sie mir, sie stünden kurz davor, gegen die von der Troika diktierten Gesetzesvorschläge ihrer eigenen Regierung zu stimmen, aber immer wieder wurden sie, mit höchstens ein oder zwei Ausnahmen, auf die Regierungslinie zurückgebracht. Innerhalb eines Jahres fiel die sozialistische Partei, die drei Jahrzehnte lang stets um 40 Prozent der Wählerstimmen gewonnen hatte, auf klägliche 5 Prozent zurück.
Eines Tages gegen Ende Juni umstellten fünftausend Polizisten den Syntagma-Platz, um die Besatzer zu vertreiben. Sie setzten mehr Tränengas ein, als man es in einem relativ engen städtischen Raum jemals erlebt hatte, dazu noch Blend- und Rauchgranaten, Wasserwerfer und ganz altmodische Polizeigewalt und verwandelten den Platz und die Umgebung in eine Wüste. Kriegsreporter aus meinem Bekanntenkreis, die schon vieles erlebt hatten, sagten mir, sie hätten sich niemals vorgestellt, derartige Gewalt in einer Stadt wie Athen zu erleben. Häuserwände und das Pflaster waren schwarz vom Rauch, in der ganzen Stadt roch es noch wochenlang nach Chemikalien. An diesem Tag hatte die Regierung den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren, regelrecht ausgelöscht.