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Wachsende Skrupel

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Am Abend des 11. Juni 2013, eine Stunde vor Mitternacht, froren die Fernsehbildschirme ein. Zwei Stunden lang zeigten die Sender nur einen Moderator, dem man mitten im Satz das Wort abgeschnitten hatte, als er gerade erklären wollte, dass die Regierung beschlossen hatte, die drei staatlichen Fernsehsender zu schließen, alle regionalen und nationalen Radiosender und die Satellitenstation, die die griechische Diaspora mit Nachrichten aus Griechenland versorgte. Es war etwa so, als wären schlagartig alle BBC-Sender ausgefallen und alle Radiostationen der BBC verstummt.

Ich traute meinen Augen nicht. Meine Erinnerung raste zurück in die Zeit von Griechenlands faschistischen Diktatoren, deren erste Maßnahme bei ihrem Putsch darin bestanden hatte, die Fernsehsender zu übernehmen. Sie hatten sich wenigstens die Mühe gemacht, ein Bild der griechischen Flagge zu senden, allerdings mit Militärmusik unterlegt. In Bailoutistan fror die der Troika ergebene Regierung einfach für zwei Stunden das Bild ein. Dann wurden die griechischen Bildschirme schwarz – das beste Symbol, dass die neue Regierung auf einen autoritären Kurs eingeschwenkt war, nachdem das katastrophale Scheitern ihrer Erfolgsgeschichte offenbar geworden war.

Minuten nach dem Blackout drangen Demonstranten in das Gebäude des Fernsehsenders ERT ein, aus dem man mich 2011 verbannt hatte. Das war der Beginn einer monatelangen Besetzung, die den Geist der Proteste auf dem Syntagma-Platz wiederaufleben ließ. Am nächsten Morgen flogen Danae, Jamie Galbraith und ich nach Thessaloniki, um den Mitarbeitern von ERT unsere Unterstützung anzubieten. Dort hielt erst ich eine Rede, und nach mir sprachen Jamie und Alexis vor einem brechend vollen Saal. Meine Rückkehr zu ERT als einer von Tausenden Demonstranten und Gast in dem inoffiziellen Programm, das die Mitarbeiter über das Internet sendeten, hätte nicht freudiger und trauriger zugleich sein können.

Unter dem Eindruck dieser Ereignisse und meiner Treffen mit dem Wirtschaftsteam von Syriza nahm im Lauf des Sommers so etwas wie eine kohärente Agenda langsam Gestalt an. Im November 2013 organisierten Jamie und ich eine zweitägige Konferenz an der Universität Texas zu dem Thema »Ist die Eurozone zu retten?«, an der Alexis, Pappas und Stathakis teilnahmen und Vorträge hielten, die gut ankamen. Der Gedanke dabei war, die drei führenden Syriza-Politiker Vertretern des Establishments aus Europa und den Vereinigten Staaten vorzustellen, Gewerkschaftlern, Wissenschaftlern und Journalisten.

Es war auch eine hervorragende Gelegenheit, um Alexis’ Entschlossenheit zu testen, sich an die Logik der Fünf-Punkte-Strategie zu halten. Während der Konferenz erlebten er und Pappas eine hitzige Diskussion zwischen mir und Heiner Flassbeck, einem linken deutschen Ökonomen, in der Regierung Schröder Staatssekretär im Finanzministerium. Flassbeck behauptete, innerhalb der Eurozone sei Griechenlands Befreiung aus dem Schuldgefängnis unmöglich. Er hielt daran fest, der Grexit sei das richtige Ziel für eine Syriza-Regierung oder zumindest die beste Drohung, die man gegen Griechenlands Gläubiger einsetzen konnte – die gleiche Position vertrat die Linke Plattform, eine offizielle Fraktion innerhalb von Syriza, die ein Drittel der Mitglieder des Zentralkomitees zu ihren Gefolgsleuten zählte.35 In Austin gelangte ich zu der Erkenntnis, dass Alexis diese Position ablehnte und überzeugt war, wenn jemand mit dem Grexit drohe, dann müsse das die Troika sein und nicht Syriza.

Der Winter ging vorüber. Samaras’ Regierung bemühte sich weiter, ihre »Erfolgsgeschichte« zu verkaufen, und die griechische Gesellschaft versank weiter im wirtschaftlichen Sumpf. Im April 2014 konnte die Regierung einen letzten Erfolg verkünden, als Stournaras mit stillschweigender Unterstützung der EZB Staatsanleihen an Investoren verkaufte. Doch im Mai siegte Syriza bei den Wahlen zum Europaparlament, und ihr Sieg zeigte, dass sich die Wähler nicht täuschen ließen. Einen Monat später gab Wolfgang Schäuble die Regierung Samaras auf. Veränderung lag in der Luft.

Für den Sommer war ich wieder nach Griechenland zurückgekehrt. Im Juni traf ich mich mit Alexis und seinem Wirtschaftsteam, um sie vor einer neuen Gefahr zu warnen. Im Kleingedruckten einer ansonsten harmlosen Pressemitteilung der EZB hatte gestanden, dass sie in nächster Zukunft Schuldverschreibungen, die von den Banken geretteter Länder ausgegeben wurden und für die deren Regierungen bürgten, nicht mehr als Sicherheit für Kredite akzeptieren werde. Mit anderen Worten: Ein wichtiger Teil des Verschleierungsmanövers, mit dem die vier größten griechischen Banken ihre tägliche Liquidität gesichert hatten, drohte zu verschwinden. Das Datum, an dem die Neuregelung in Kraft treten sollte, ließ alle Alarmglocken in meinem Kopf schrillen: März 2015 – der Monat, in dem die Amtszeit des griechischen Staatspräsidenten endete, in dem mutmaßlich Neuwahlen stattfinden würden und aller Wahrscheinlichkeit nach Syriza eine Regierung bilden würde.

»Begreift ihr, was sie damit bezwecken?«, fragte ich Alexis, Pappas, Dragasakis, Euklid und Stathakis, nachdem ich ihnen die Bombe der EZB gezeigt hatte. Am Tag nach der Regierungsübernahme von Syriza würde Mario Draghi ihnen mitteilen, dass die EZB wie angekündigt den griechischen Banken praktisch sofort den Zugang zu Liquidität sperren müsse. Damit schuf die EZB die Bedingungen, um ohne Vorwarnung oder Grund sofort nach der Regierungsübernahme von Syriza die Banken zu schließen.

Dragasakis schaute mich fassungslos an. »Und was passiert dann?«

Ich setzte ihm auseinander, die Banken könnten dann nur noch weiter funktionieren, wenn die griechische Zentralbank mitspielte. Sie könnte ihnen über die sogenannte Notfall-Liquiditätshilfe (ELA) Geld leihen. Die griechische Zentralbank ist de facto ein Ableger der EZB, deshalb würde auch dann das Geld von der EZB kommen, allerdings indirekt und zu einem höheren Zinssatz, und die EZB könnte den Geldhahn auch zudrehen.36 Aber bevor all das passieren würde, wäre noch ein anderes Hindernis zu überwinden.

»Ist es Zufall, dass in drei Tagen Ministerpräsident Samaras Stournaras aus dem Finanzministerium entlassen und an der Spitze der Zentralbank installieren wird?«, fragte ich. »Offensichtlich ist es ein Schachzug, der euren Wahlsieg vorwegnimmt.«

An dem Punkt wurde Alexis ärgerlich. »Als Ministerpräsident werde ich als Erstes den Rücktritt von Stournaras verlangen. Notfalls werde ich ihn persönlich aus der Zentralbank herausprügeln.« Pappas hatte einige noch drastischere Lösungsvorschläge für dieses Problem.

Ich wies darauf hin, dass es eigentlich keine Rolle spielte, wer im Büro des Zentralbankchefs saß; für eine Syriza-Regierung musste es oberste Priorität haben, Draghi an der Schließung der Banken zu hindern. Die Fünf-Punkte-Strategie, die ich im Jahr zuvor formuliert hatte, sah als Erstes vor, Draghi klarzumachen, dass die Schließung von Banken durch die EZB eine Reaktion Athens auslösen würde, die womöglich die gesamte Eurozone zu Fall bringen könnte. Die Frage war: Standen sie wirklich hinter der Strategie, und würden sie sich mit allen anlegen, die wie Draghi dachten, nicht nur Stournaras, sondern auch griechische Banker wie Aris und Zorba?

Alexis und Pappas reagierten enthusiastisch: Sie würden ohne Zögern so handeln. Euklid, angeblich derjenige im Team, der am weitesten links stand, stimmte zu. Stathakis nickte. Dragasakis hingegen drückte sich in einer Weise aus, die ich als typisch für ihn kennenlernte: »Machen wir auf der Grundlage des positiven Szenarios weiter. Wenn nötig, werden wir reagieren.«

Eine Woche später präsentierten Alexis und ich in dem herrlichen Garten des Athener Museums für Byzantinische und Christliche Kunst wieder vor einem großen Publikum die griechische Übersetzung des Bescheidenen Vorschlags zur Lösung der Eurokrise. Alexis’ Team war vollzählig anwesend, Dragasakis saß in der ersten Reihe – eine eindrucksvolle Demonstration, dass sie diese Strategie unterstützten.

Zwei Wochen später traf ich mich wieder mit Alexis und Pappas.

»Ist dir klar«, fragte Pappas, »dass niemand anderer als du die Umsetzung der Strategie leiten kann, die du empfohlen hast? Bist du bereit dazu?«

Ich erwiderte, dass ich bereit sei zu kämpfen, dass ich aber nicht viel davon hielte, wenn Technokraten in die Politik katapultiert würden. Tatsächlich hatte ich große Bedenken. Um im Namen eines Landes zu verhandeln, braucht man ein demokratisches Mandat. Der Bescheidene Vorschlag brachte meine persönlichen Überzeugungen zum Ausdruck, und ich hatte nicht vor, die Entpolitisierung der Wirtschaftspolitik, einer durch und durch politischen Domäne, zu legitimieren. Überdies waren es Dragasakis, Euklid und Stathakis gewesen, die Syriza über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatten. Dafür gebührte ihnen der Respekt der Partei. Ich hingegen könnte immer nur ein Stellvertreter für sie sein, und deshalb wäre ich nicht in der Lage, die Verhandlungen mit der erforderlichen Autorität zu führen. Schließlich waren auch meine Zweifel, ob sich die internen Prioritäten von Syriza tatsächlich mit einer glaubwürdigen Regierungsagenda vereinbaren ließen, nicht geschwunden.

Eine Woche später bestätigte Wassily Kafouros, ein Freund aus meinen Studienjahren in England, meine Befürchtungen. Er fragte mich, ob ich als Einziger nicht wisse, dass Dragasakis sehr enge Verbindungen zu den Bankern habe. Ich erwiderte, dass ich das nicht glaube. »Was für Beweise hast du, Wassily?«

»Beweise habe ich nicht«, räumte er ein, »aber es ist allgemein bekannt, dass ihm schon immer daran gelegen war, sogar schon in seinen kommunistischen Zeiten, ein enges Verhältnis zu den Bankern zu haben.«

Ich vermutete, dass der Vorwurf falsch war, und obwohl mir noch immer Zweifel im Kopf herumgingen wie ruhelose Schlangen, beschloss ich, dass es keinen Zweck hatte, wenn ich mir über Probleme Sorgen machte, die ich nicht lösen konnte. Die Wahlsieger mussten die Bogen weglegen. Ich konnte nur auf die Fallstricke hinweisen und Vorschläge machen, wie man sie vermeiden konnte.

Die ganze Geschichte

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