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Der archimedische Punkt

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Ich zögerte, Danae von dem Telefonanruf mit der Drohung gegen ihren Sohn zu erzählen. Bevor ich sie unnötig beunruhigte, wollte ich erst das Risiko einschätzen. Sicher war es nur eine leere Drohung, die mich zum Schweigen bringen sollte? Aber ich begriff, dass ich kein Recht hatte, das allein zu entscheiden. Als das zweite Rettungspaket näher rückte, bereiteten sich die Medien, die Banken und die Regierung fieberhaft auf ein letztes Gefecht vor. Es war schwer kalkulierbar, wozu sie fähig waren. So nahm ich meinen Mut zusammen und erzählte ihr davon.

Danae schaute mich vorwurfsvoll an und stellte ein lakonisches, nüchternes Ultimatum: »Entweder du gehst in die Politik, um uns zu schützen, oder wir verlassen das Land.«

Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Dann gehen wir.«

Ein paar Tage später sollte ich eine Reise durch Amerika antreten, um Werbung für mein neues Buch über die weltweite Krise zu machen.8 In Amerika tauchten zufällig zwei Jobangebote auf, die mir erlaubten, meinen Handel mit Danae zu erfüllen. Anfang 2012 war unser Umzug nach Amerika im Gang.9

An dem Tag, als wir ins Flugzeug stiegen, brachte Bloomberg-TV weltweit zwei Finanzschlagzeilen aus der Eurozone. Die erste lautete: »Merkel offen für Kompromiss bei Vergemeinschaftung der Schulden. Monti sieht Weg, sie zu überzeugen.«10 Die zweite Schlagzeile betraf uns unmittelbar: »Griechen treiben Universitätsprofessor aus dem Land, weil er die Wahrheit über die Wirtschaftslage sagt.« Wenn nur die erste Schlagzeile richtig gewesen wäre – sie war es nicht –, vielleicht wäre dann die zweite falsch gewesen!

Und so kamen Danae und ich nach Seattle, wo ich einige Monate als Gastökonom bei der Valve Corporation11 arbeitete, bevor es weiterging nach Austin, wo mein enger Freund und Kollege Jamie Galbraith arrangiert hatte, dass ich an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs der Universität Texas lehren konnte, unter anderem gab ich einen Kurs über Europas Finanzkrise. Jamie besitzt zwar eine enorme Gabe zur Voraussicht, dennoch bezweifle ich, dass er ahnte, in was er hineingeraten sollte, als er mir den Job verschafft hatte: Drei Jahre später kam Jamie zu mir ins Finanzministerium und leitete dort ein entscheidend wichtiges, hoch geheimes Projekt.

Über zwei Jahre war Austin ein archimedischer Aussichtspunkt: der ideale Platz, um zu beobachten, aber auch, um zu handeln. Während es mir fast das Herz brach, aus der Ferne mit anzusehen, wie die Troika und ihre Lakaien vor Ort Griechenland formell in Bailoutistan 2.0 verwandelten, bot der Blick aus Austin immerhin Klarheit.

Austin war auch eine Gelegenheit, eine Brücke zwischen Washington und meinen neuen Freunden von Syriza zu bauen, nicht gerade natürliche Verbündete. Es war zu erwarten, dass eine künftige Syriza-Regierung in einen gewaltigen Konflikt mit der deutschen Regierung, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank geraten würde. Eine feindselige Administration in Amerika war das Letzte, was Alexis und Pappas dabei gebrauchen konnten. Und so tat ich von 2012 bis 2015 mit der Hilfe und den Verbindungen von Jamie Galbraith alles in meiner Macht Stehende, um amerikanischen Meinungsführern und der Regierung Obama zu erklären, dass die Vereinigten Staaten von einer Syriza-Regierung nichts zu befürchten hatten, deren oberste Priorität es sein würde, Griechenland von seinen erdrückenden Schulden zu befreien.

Austin ist auf eine sehr charmante Weise seltsam: ein Paradies für Fans von Livemusik und ein hervorragender Ort, um die Kümmernisse der restlichen Welt zu vergessen. Aber weder das eine noch das andere konnte ich genießen. Tagsüber, während Griechenland noch schlief, arbeitete ich an meinen Vorträgen und an einem Buch über die tieferen Ursachen der »hirnverbrannten Art und Weise, wie Europa mit der unvermeidlichen Eurokrise umging«.12 Abends nutzte ich den Zeitunterschied und meldete mich über Skype im griechischen Fernsehen zu Wort, verfolgte die laufenden Debatten und setzte mit Artikeln meine Kampagne fort.

Im Winter und Frühjahr 2012 herrschten in Griechenland stumme Angst und unterdrückter Zorn. Der Syntagma-Platz war ruhig im Vergleich zu den Massenkundgebungen von 2011. Als die Rezession schlimmer wurde, zogen sich die Menschen mit ihrem Kummer in ihren privaten Bereich zurück, sie blieben zu Hause, leckten ihre Wunden und kümmerten sich um notleidende Angehörige. Die große Koalition der Technokraten, die die Troika installiert hatte, angeführt vom ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank und unterstützt von PASOK und Nea Dimokratia, vollendete Bailoutistan 2.0.13 Schnell rückte der Zeitpunkt näher, an dem die Regierung ihre Arbeit getan haben und Antonis Samaras, der Vorsitzende der Nea Dimokratia, Neuwahlen ansetzen würde in der Hoffnung, sie zu gewinnen und im Triumphzug in die Villa Maximos einzuziehen. Tatsächlich fanden die Wahlen im Mai 2012 statt.

Vor der Wahl hatte ich nur wenig Kontakt zu Alexis und Pappas und immer in großen Abständen. Während die Sozialisten von Papandreous PASOK so taten, als hätten sie mit den Ereignissen nichts zu tun, waren die Hauptprotagonisten nun Samaras’ Nea Dimokratia und Tsipras’ Syriza. Aber ich konnte mir genauso wenig wie sie vorstellen, dass eine Partei, die bei der letzten Wahl nur 4,6 Prozent der Stimmen errungen hatte, eine realistische Chance haben könnte, die Regierung zu bilden, selbst wenn sich die politischen Kräfteverhältnisse massiv änderten.

Mir war es wichtig, dass Syriza den Wählern ein nicht populistisches, logisch kohärentes Grundsatzprogramm mit progressiver und proeuropäischer Stoßrichtung vorlegte. So würde sie das Bild einer glaubwürdigen künftigen Regierung vermitteln, die in der Lage wäre, den Rettungsplan für das Land mit der EU und dem IWF auszuhandeln. Alexis und Pappas neigten einem anderen politischen Programm zu, einem, das (aus meiner Sicht) langfristige Kohärenz kurzfristigen Stimmengewinnen opferte. Der wirtschaftspolitische Teil von Syrizas Wahlprogramm für 2012 missfiel mir so sehr, dass ich nach ein paar Seiten nicht mehr weiterlas. Am nächsten Tag bat mich ein Reporter des griechischen Fernsehens um einen Kommentar zu dem Programm. Ich sagte, ich neigte dazu, Syriza zu unterstützen, aber meine Wahlentscheidung hänge davon ab, ob es mir gelingen würde, der Lektüre ihres Wirtschaftsprogramms zu widerstehen.

Die Wahlen im Mai brachten ein Patt im Parlament. Die politische Mitte, bestehend aus PASOK und Nea Dimokratia, die bisher zusammen über 80 Prozent der Wählerstimmen verfügten, hatten mehr als die Hälfte ihrer Anhänger verloren. Das war der Preis, den die beiden Parteien des Establishments dafür zahlten, dass sie Bailoutistan über uns gebracht hatten.14 Von einem politischen Erdbeben zu sprechen, wäre noch eine Untertreibung. Wie es oft geschieht, wenn Deflation infolge von Schulden dazu führt, dass die politische Mitte wegbricht, erhob der Nationalsozialismus sein hässliches Gesicht in Gestalt der Goldenen Morgenröte, die 7 Prozent der Stimmen bekam und damit zur viertstärkten Partei wurde. Syriza, bisher eine Splitterpartei, hatte ihr Ergebnis vervierfacht und lag nur 2 Prozentpunkt hinter der Nea Dimokratia von Antonis Samaras. Zum ersten Mal seit 1958 erreichte die Linke den Rang einer offiziellen Opposition. Alexis und Pappas hatten Grund, sich bestätigt zu fühlen, und ignorierten meine Kritik am Wirtschaftsprogramm von Syriza.

Aber ein Parlament, in dem die größte Partei weniger als 19 Prozent der Stimmen auf sich vereint hat, bringt keine funktionsfähige Regierung hervor. Die unvermeidliche Auflösung bereitete den Weg für Neuwahlen einen Monat später, im Juni 2012. Es sollte ein interessanter Monat werden. Da es weder eine Regierung noch ein funktionierendes Parlament gab, mussten die EU und der IWF einige atemberaubende Tricks aus dem Ärmel zaubern, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass der griechische Staat weiter seine Schulden bediente. Die beiden einzigen Parteien, die im Wahlkampf Zulauf bekamen, waren Syriza und die Nea Dimokratia, wobei Syriza stärker zulegte, allerdings von einem niedrigeren Niveau aus. Wenn die Trends der vorangegangenen Wochen sich fortsetzten, hatte Alexis gute Chancen, die nächste Regierung zu bilden. Diese Erkenntnis traf die Oligarchie, die Troika, das politische Establishment in Deutschland wie ein Schock und nicht zuletzt auch Alexis und Pappas, die verständlicherweise in Panik gerieten angesichts der Aussicht, dass die grausamen Götter sich womöglich verschwören und ihnen ihren größten Wunsch erfüllen könnten.

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