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Die letzten Zuckungen einer Freundschaft

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Yannis Stournaras und ich wurden Freunde, bald nachdem ich von Australien zurück nach Griechenland gezogen war. Im Jahr 2000 verließ ich die Universität Sydney und wechselte auf einen Lehrstuhl an der Universität Athen, wo Stournaras bereits Professor für Wirtschaftswissenschaften war.20 Zusammen mit Giorgos Krimpas, einem emeritierten Professor für Wirtschaftswissenschaften, und Nicholas Theocarakis, einem erstaunlichen Wissenschaftler und engen Freund, bildeten wir ein informelles Quartett von Ökonomen. Stournaras und Theocarakis hatten bei Krimpas studiert, ich war der Neuling in der Runde. Ich folgte Krimpas als Leiter der volkswirtschaftlichen Fakultät nach, der wir alle vier angehörten.

Stournaras lehrte nur wenige Stunden, weil er noch für die sozialistische PASOK-Regierung arbeitete, die Griechenland in die Eurozone führte. Während der Beitrittsverhandlungen in den 1990er-Jahren, als Berlin darauf aus war, Griechenland draußen zu halten, leitete Stournaras den Wirtschaftsbeirat, ein wichtiges Organ des Finanzministeriums, das er geschickt nutzte, um Berlin und Brüssel dazu zu bewegen, dass sie Griechenland am Euro teilnehmen ließen.21 Sobald Griechenland dazugehörte, belohnte der Ministerpräsident der PASOK Stournaras im Jahr 2000 mit der Leitung der griechischen Handelsbank.22 In dieser letzten Phase seiner Karriere lernten wir uns kennen.

Trotz seines gedrängten Terminkalenders erfüllte Stournaras stets mit Freude und Engagement seine Lehrverpflichtungen. Unsere wirtschaftlichen wie auch unsere politischen Vorstellungen gingen weit auseinander, aber seine Hingabe an die Universität und ein gutes persönliches Verhältnis gaben die Grundlage für eine Freundschaft ab. Stournaras unterstützte mich, als ich ein internationales Doktorandenprogramm auf die Beine stellte, er freute sich, dass wir damit ein anderes Kaliber von Studenten anzogen. Weitere Verbesserungen des Lehrplans folgten, die den Unmut korrupter Studentenpolitiker und heftige Feindseligkeit aufseiten der Kollegen erregten, die ihre Interessen bedroht wähnten.23 Aber unser Quartett hielt fest zusammen und bekam die Unterstützung vieler anderer Kollegen. Bald trafen wir uns auch außerhalb der Arbeit und verbrachten sogar das eine oder andere Wochenende zusammen.

Am Abend der Parlamentswahl vom September 2009, die Giorgos Papandreou ins Amt des Ministerpräsidenten führte, schauten Danae und ich uns in Stournaras’ Wohnung im Norden Athens zusammen mit Giannis Dragasakis, seiner Frau und einem weiteren Ehepaar im Fernsehen die Berichterstattung über die Auszählung der Stimmen an. Von den acht Personen im Raum hatten nur Stournaras und ich nicht für die PASOK gestimmt – vielleicht weil es war wie bei Würsten: Wir wussten nie, was drin ist.24 Wenige Monate später war Griechenland bankrott und das erste Rettungspaket auf dem Weg.

In jenem bewegten Jahr für Griechenland, 2010, machte Stournaras einen verblüffenden Karrieresprung: Er wurde Leiter eines wirtschaftlichen Thinktanks, den ursprünglich der griechische Industrieverband gegründet hatte, die größte und am besten etablierte Vereinigung von Unternehmenschefs im Land, die traditionell den Konservativen der Nea Dimokratia nahestand. Bald nach der Übernahme dieses Amts begann Stournaras, konventionelle marktwirtschaftliche Lösungen zu unterstützen anstelle der sozialdemokratischen Prinzipien, die er unter der PASOK-Regierung mitgetragen hatte. Aber diese Wende war weniger eine Abkehr von den Sozialisten der PASOK, seinen früheren Freunden, sondern eher ein Hinweis auf das, was kommen würde, sobald ein zweites Rettungspaket die Regierung einer großen Koalition erforderlich machte. Stournaras war ein Pionier der Verbindung von Mitte-Links und Mitte-Rechts zu einer einheitlichen, unteilbaren, dem Establishment zugewandten, der Troika freundlich gesinnten Regierung – einer Regierung, die nach der Wahl im Juni 2012 Gestalt annehmen sollte.

Einen Monat vor der Wahl im Mai 2012 machte ich auf dem Rückflug von Berlin, wo ich einen Vortrag zur Eurokrise gehalten hatte, in die Vereinigten Staaten in Athen Zwischenstation. Gleich nach der Ankunft rief ich Stournaras an. Am nächsten Tag trafen wir uns im Café eines Hotels am Fuß der Akropolis. Bei der Begrüßung umarmten und küssten wir uns und tauschten Neuigkeiten über unsere Töchter und Partnerinnen aus. Dann kamen wir zum politischen Teil. Ich berichtete ihm von Gesprächen in Berlin mit Vertretern der Europäischen Zentralbank und der deutschen Regierung, mit Finanzjournalisten und anderen. Dabei erwähnte ich auch ein Gespräch mit dem Investor George Soros. Ich sagte Stournaras, Soros teile meine Einschätzung der griechischen Situation und den Kern meiner Vorschläge für die Wirtschaftspolitik von Europa insgesamt.

Anschließend diskutierten wir über das Programm der Troika für Griechenland. Es war klar, dass Griechenlands Bankrott eine Kluft zwischen uns geschaffen hatte; aus früheren Meinungsverschiedenheiten war eine tiefe theoretische, empirische und politische Spaltung geworden. Stournaras beharrte darauf, dass das Programm der Troika funktionieren konnte, wenn es konsequent umgesetzt wurde. Ich bat ihn, das zu erklären, was er mit seinem üblichen Überschwang tat.

»Es ist ganz einfach«, sagte er. »Es geht mit dem Prinzip dreimal vier: 4 Prozent Wirtschaftswachstum, 4 Prozent Primärüberschuss im Haushalt und 4 Prozent Zinsen auf unsere Rettungskredite.«25

»Ja, das wäre die Lösung«, erwiderte ich. »Nur dass es ausgeschlossen ist, dass die griechische Wirtschaft um 4 Prozent wächst und gleichzeitig ein Primärüberschuss von 4 Prozent erreicht wird.« Wenn die Regierung ihre Absicht mitteile, einen Primärüberschuss von 4 Prozent zu schaffen, würde jeder Investor folgern, dass das höhere Steuern bedeute, und das würde die Investoren abschrecken.

Wir fanden keinen gemeinsamen Nenner. Aber ich dachte immer noch, dass unsere Freundschaft, eine der wenigen verbliebenen Brücken zwischen gegensätzlichen Lagern, ein Pfund war, das dem großen Ganzen nutzen konnte. Kurz bevor wir uns trennten, sagte ich, wir hätten die Verpflichtung, Freunde zu bleiben. Er mache den Eindruck, als strebe er einen hohen Posten in der Regierung an, während meine Gedanken in die entgegengesetzte Richtung gingen, zur Opposition. Aber vor allem dürften wir nicht zulassen, dass wir auf menschlicher Ebene zu Gegnern würden. Stournaras nickte zustimmend, und wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung, die mir rückblickend halbherzig erscheint.

Zwei Monate später, kurz vor der Wahl im Juni 2012, prüfte die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Athen meinen Antrag auf unbezahlten Urlaub, damit ich nach Austin zurückkehren und dort weiter lehren könnte. Ein solcher Antrag war vollkommen normal und die Zustimmung der Fakultät eine reine Formsache, aber diesmal gab es eine hitzige Debatte. Der Grund war, dass Stournaras der Fakultät folgende Frage vorgelegt hatte: Warum sollte die Universität Athen mich in die Vereinigten Staaten zurückkehren lassen, da es doch meine Absicht sei, zusammen mit George Soros gegen griechische Staatsanleihen zu spekulieren?

Gegen Staatsanleihen zu spekulieren bedeutet, darauf zu wetten, dass ihr Wert fallen wird; es läuft auf die Spekulation hinaus, dass die Staatsschulden des Landes für Investoren unattraktiv werden. Wenn genug Menschen genug Geld ausgeben, um bei einer Staatsanleihe auf fallende Kurse zu setzen, sinkt das Vertrauen in die Staatsanleihe, sie verliert an Wert, und die Spekulation wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Stournaras’ bizarrer Vorwurf lautete, ich würde zusammen mit George Soros auf den New Yorker Finanzmärkten spekulieren, um von einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit des griechischen Staates zu profitieren.

Derartige Behauptungen – dass ich ein selbstsüchtiger Opportunist sei, der eifrig auf den Bankrott unseres Staates hinarbeite – brachten meine Gegner gern vor. Antisemitische rechte Verschwörungstheoretiker hatten Soros vorgeworfen, er als Jude führe eine Kampagne an, das christlich-orthodoxe Griechenland zu Fall zu bringen. Ab 2010, als ich immer wiederholte, der griechische Staat sei bankrott und müsse das öffentlich anerkennen, unterstellten diese Kreise und sagten es bald auch ganz offen, ich sei Soros’ Handlanger. Als ich das 2011 zum ersten Mal hörte, amüsierte es mich noch. Jetzt hatte Stournaras den lächerlichen Anklagen einen ganz neuen Dreh gegeben, vermutlich weil ich ihm von meinem Gespräch mit Soros in Berlin erzählt hatte.

Die schlichte Tatsache ist, dass ich in meinem Leben nie eine Staatsanleihe oder eine Aktie gekauft und verkauft, geschweige denn auf einen Kursrückgang spekuliert habe. Und ich hatte mich vor der gemeinsamen Podiumsdiskussion mit Soros in Berlin im Frühjahr 2012 nie zuvor mit ihm getroffen oder auf andere Weise Kontakt gehabt.

Nachdem ich Stournaras’ ungeheuerliche Behauptung gehört hatte, griff ich wutschäumend zum Telefon. So ruhig, wie ich konnte, bat ich ihn, mir zu erklären, warum er das getan hatte. Er entschuldigte sich sofort, verwies auf »Stress« und den »schlechten Einfluss« von Medienberichten, ich würde für Soros arbeiten. Ich sagte, dass ich seine Entschuldigung akzeptierte, aber tief im Inneren wusste ich, dass Stournaras den Rubikon überschritten hatte und in ein Gebiet gelangt war, von wo es keine Brücke mehr zwischen uns geben konnte.

Wenige Tage später, nachdem die Wahl im Juni 2012 Antonis Samaras mit einer Koalitionsregierung ins Amt gespült hatte, hörte ich in den Nachrichten, dass Stournaras der nächste technokratische – nicht gewählte – Finanzminister des Landes sein sollte. Er blieb zwei Jahre im Amt und nutzte die Zeit, um die Bedingungen des zweiten Rettungspakets so treu umzusetzen, wie er konnte – tatsächlich so, dass die gnadenlose Austerität in aufeinanderfolgenden Wellen von Einschnitten und Steuererhöhungen die Rezession beschleunigte und schließlich die Regierung Samaras destabilisierte. Nicht einmal zwei Jahre nach seinem Wahlsieg, bei der Wahl des Europäischen Parlaments im Mai 2014, erhielt Samaras’ Nea Dimokratia weniger Stimmen als Syriza, und danach fiel sie in den Umfragen immer weiter zurück. Einen Monat später lief die Amtszeit des Gouverneurs der griechischen Zentralbank aus, und Samaras nutzte die Gelegenheit, um Stournaras zu ernennen. Sollten die Parteien des Establishments die nächste Wahl verlieren, hatten sie wenigstens jemanden in der Zentralbank, der willens und in der Lage war, einer künftigen Syriza-Regierung Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Und genau das tat Stournaras dann auch.

Wie sich herausstellte, war in dem Hotelcafé, in dem wir uns im April 2012 getroffen hatten, unsere Freundschaft zu Ende gegangen.

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