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Blut, Schweiß und Tränen

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Einen Monat später war ich wieder in Austin. Dort hörte ich in den Nachrichten, dass Alexis eine große Rede in Thessaloniki gehalten hatte, in der er Syrizas Wirtschaftsprogramm skizzierte. Ich war sprachlos und besorgte mir umgehend den Text. Eine Welle von Übelkeit und Ärger überrollte mich. Ich ging sofort an die Arbeit. Den Artikel, der innerhalb von weniger als einer halben Stunde entstand, nutzte Ministerpräsident Samaras kurz nach seiner Veröffentlichung, um Syriza im Parlament fertigzumachen: »Selbst Varoufakis, euer Guru in Wirtschaftsfragen, sagt, dass eure Versprechen nichts wert sind.« Und so war es auch.

Das Programm von Thessaloniki, wie Alexis’ Rede getauft wurde, war gut gemeint, aber konfus und hatte definitiv nichts mit der Fünf-Punkte-Strategie zu tun, die Alexis und Pappas angeblich unterstützten. Das Programm versprach Lohnerhöhungen, Subventionen, Sozialleistungen und Investitionen, das Geld dafür sollte aus Quellen kommen, die entweder nicht existierten oder illegal waren. Es enthielt auch Versprechen, die wir besser nicht erfüllen sollten. Vor allem aber war es unvereinbar mit jeder vernünftigen Verhandlungsstrategie, um Griechenland in der Eurozone zu halten, obwohl es ausdrücklich behauptete, Griechenland solle in der Eurozone bleiben. Tatsächlich war es so dilettantisch zusammengeschustert, dass ich mir nicht einmal die Mühe machte, es Punkt für Punkt zu kritisieren. Stattdessen schrieb ich:

Wie sehr hätte ich mir gewünscht, eine andere Rede von Alexis Tsipras zu hören, eine Rede, die mit der Frage begonnen hätte »Warum soll man uns wählen?«, und sie dann beantwortet hätte: »Weil wir euch nur drei Dinge versprechen, Blut, Schweiß und Tränen!«

Blut, Schweiß und Tränen, was Winston Churchill bei seiner Amtsübernahme 1940 dem britischen Volk versprach, als Lohn für seinen Anteil am Sieg.

Blut, Schweiß und Tränen, die allen Europäern, nicht nur uns Griechen, das Recht eintragen werden, auf ein Ende des heimlichen, aber rücksichtslosen Kriegs gegen Würde und Wahrheit zu hoffen.

Wir müssen bereit sein, Blut, Schweiß und Tränen zu vergießen, um das Land wieder auf den richtigen Weg zu bringen, was unmöglich ist, wenn wir uns weiter wie Mustergefangene verhalten, die auf vorzeitige Entlassung aus dem Schuldgefängnis hoffen, und wenn wir uns weiter Geld leihen, während zugleich unsere Einnahmen sinken, aus denen wir unsere Rückzahlungen leisten müssen.

Wenn ihr für uns stimmen wollt, dann dürft ihr das nur tun, wenn ihr zu Blut, Schweiß und Tränen bereit seid, die wir euch als fairen Preis dafür versprechen, dass ihr aus dem Mund der Regierungsmitglieder die Wahrheit hört und in Europa Vertreter haben werdet, die weder betteln noch bluffen, sondern eine Strategie verfolgen, die bisher noch keine Regierung verfolgt hat, und die Strategie lautet:

Den Mächtigen die Wahrheit zu sagen.

Unseren Partnern die Wahrheit zu sagen.

Den Bürgern Europas die Wahrheit zu sagen.

Über den beklagenswerten Zustand unserer Banken die Wahrheit zu sagen.

Über unsere »Überschüsse« die Wahrheit zu sagen.

Über die nicht vorhandenen Investitionen die Wahrheit zu sagen.

Und schließlich und besonders schmerzlich: Die Wahrheit zu sagen, dass es keine Aussicht auf Rettung gibt, solange die tödliche Umarmung zwischen einem bankrotten Staat, bankrotten Banken, bankrotten Unternehmen und bankrotten Institutionen fortbesteht.

Noch ein letzter Punkt: Bevor ihr für uns stimmt, sollt ihr wissen, dass wir einen Wahlsieg mehr fürchten als eine Niederlage, dass wir starr vor Angst sind bei dem Gedanken, wir könnten die Wahl gewinnen. Aber wenn ihr euch entscheidet, für uns zu stimmen, damit wir euch wie versprochen Blut, Schweiß und Tränen bringen als Gegenleistung für Wahrheit und Würde, wenn ihr eure Furcht überwindet, dann versprechen wir, dass wir unsere Furcht davor überwinden, dieses Land zu regieren und aus der Hoffnungslosigkeit zu befreien.1

Freunde und Feinde glaubten nach der Veröffentlichung dieses Artikels übereinstimmend, dass dies das Ende meiner kurzen Liaison mit der Führung von Syriza sein würde. Ich glaubte das auch, bis Pappas mich einige Tage später anrief. Er war kurz angebunden und klang so, als wäre nichts geschehen. Ich überließ es ihm zu entscheiden, ob mein Artikel alles verändert hatte oder nicht.

»Er verändert nichts«, erwiderte er unbekümmert. »Du wirst das richtige Wirtschaftsprogramm formulieren. Das Programm von Thessaloniki war ein Kampfaufruf an unsere Truppen. Das ist alles.«

Entnervt sagte ich ihm, was ich dachte: Die Unterstützung unserer Truppen war entscheidend wichtig, und sie anzulügen war bestimmt nicht der richtige Weg, ihre Unterstützung zu bekommen. Unbeeindruckt beruhigte er mich mit ominösen Worten. »Parteipolitik ist das eine, und Regierungspolitik ist das andere. Du kümmerst dich um die Regierungspolitik und überlässt uns die Parteipolitik.«

Ich fragte, wer hinter dem Programm von Thessaloniki stehe. Pappas sagte, Dragasakis habe es mit Unterstützung von Euklid formuliert. Dass Dragasakis im Spiel war, überraschte mich nicht, aber Euklids Beteiligung war eine Enttäuschung. Ich hätte mehr von meinem Freund erwartet. »Wer immer diese Monstrosität geschrieben hat«, sagte ich, »das torpediert jede vernünftige Verhandlungsstrategie.«

Als ich den Telefonhörer auflegte, war mein Mund so trocken und bitter, dass ich mehrere Gläser Wasser trinken musste, bevor ich mit Danae über das Telefonat sprechen konnte. Die Führung von Syriza erzählte untereinander eine Geschichte und den Parteianhängern eine ganz andere. Es war der sichere Weg zu Konfusion, Spaltung und Niederlage gegenüber Gegnern, die einig, mächtig und entschlossen waren. Das, was wir unserem Volk sagten, und das, was wir den Vertretern der Troika, der EU und des IWF, Berlin und Washington, der internationalen Presse und den Finanzmärkten erzählten, sollte eine einheitliche, glaubwürdige Botschaft sein, an der nicht zu rütteln war. Danaes Reaktion auf meine Einschätzung, die Taktik von Pappas und Alexis werde unweigerlich alle künftigen Verhandlungen unterminieren, fiel eindeutig aus: »Du darfst dabei nicht mitmachen.«

Ich stimmte ihr zu.

Die Entscheidung, auf Abstand zu bleiben, brachte sofortige Erleichterung. Doch mein Seelenfrieden währte nur zwei Monate. Ende November 2014 ereilte mich der Ruf erneut, als ich mich auf eine Reise nach Florenz vorbereitete, wo ich einen Vortrag halten sollte. Pappas war am Telefon. Als er hörte, dass ich auf dem Weg nach Italien war, beschwor er mich, vor der Rückkehr nach Austin einen Abstecher nach Athen zu machen. »Du musst unbedingt kommen.« Widerstrebend buchte ich um.

In Florenz sprach ich vor einem Auditorium besorgter italienischer Beamter, Banker und Wissenschaftler. Ich stellte eine neuere Version des Bescheidenen Vorschlags vor, eine Reihe politischer Strategien, die im Rahmen der bestehenden europäischen Regeln umgesetzt werden konnten mit dem Ziel, die Eurokrise überall zu beenden, nicht nur in Italien und Griechenland.2 Am nächsten Morgen nahm ich den Zug nach Rom und von dort ein Flugzeug nach Athen. Auf dem kurzen Flug überlegte ich, was Alexis und Pappas wohl von mir wollten. Die Zeitungen am Flughafen waren voller Gerüchte über baldige Wahlen. Hatten meine Freunde bei Syriza die Botschaft meines Artikels aufgenommen?

Das Taxi setzte mich vor unserer leeren Wohnung ab. Ich stellte meinen Koffer ab und war freudig überrascht, dass mein Motorrad nach drei Monaten Herumstehen sofort ansprang. Eine Viertelstunde später hielt ich bei Alexis’ Wohnblock, wo mich noch unten auf der Straße zwei Wachposten empfingen. Mit dem Aufzug fuhr ich ganz nach oben, zur Wohnung von Alexis, Betty und ihren beiden wunderbaren kleinen Söhnen. Pappas und Dragasakis waren schon da. Es war früher Abend.

Ich verließ die Wohnung erst wieder früh am Morgen des nächsten Tages, fuhr zu unserer Wohnung zurück, wo ich meinen Koffer holte und mir ein Taxi zum Flughafen rief. Dann ging es zurück nach Austin.

»Was ist passiert?«, fragte Danae am Telefon.

»Das sage ich dir, wenn ich bei dir bin.« Zum ersten Mal hütete ich am Telefon meine Zunge aus Angst, dass jemand mithören könnte.

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