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Wer muss ich denn noch sein?

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»Sie haben kein Recht dazu. Stimmen Sie mit Nein!«

Diese Worte rief eine junge Frau einem Abgeordneten zu, als er sich durch die Besetzer des Syntagma-Platzes einen Weg zum Parlament bahnte, um für ein Gesetz des Pakets Bailoutistan 2.0 zu stimmen.

»Wer sind Sie, dass Sie mir sagen, wofür oder wogegen ich stimmen soll?«, blaffte er zurück, während er sich schweißüberströmt mit den Ellbogen vorwärtskämpfte.

Ihre vernichtende Antwort kam umgehend: »Wer muss ich denn noch sein?«

Bailoutistan ist ein hässliches Wort, aber es spiegelt eine abstoßende Realität wider: dass Griechenland im Auftrag der nordeuropäischen Banken in ein Schuldgefängnis verwandelt wurde. Die Nächte auf dem Syntagma-Platz begleiteten die weitere Umwandlung von einem Schuldgefängnis in eine institutionalisierte Schuldnerkolonie. Aber sie markierten auch Europas Legitimitätsproblem nach der Kreditklemme. Dass ein europäisches Land, Teil des großen Experiments des Kontinents mit einer gemeinsamen Währung, am Ende wie eine Bananenrepublik herumgestoßen wurde, ist eine Anklage gegen eine Gemeinschaft, die angeblich auf dem Versprechen gemeinsamen Wohlstands und gegenseitigen Respekts gegründet wurde.

Natürlich hatte das europäische Establishment nichts davon gewollt. Vor 2008 hatten die Eliten in Berlin, Brüssel, Paris und Frankfurt genau wie die in den Vereinigten Staaten und in der City of London ihren eigenen Reden geglaubt: Der Kapitalismus hatten angeblich eine »große Mäßigung« gebracht, Zyklen von Aufschwung und Rezession gehörten der Vergangenheit an, die Banken hatte einen magischen Weg gefunden, um »risikoloses Risiko« zu produzieren, und auf wundersame Weise regulierten sie sich selbst. Einflussreiche Männer und Frauen glaubten aus tiefstem Herzen, das Ende der Geschichte wäre erreicht und ihre Aufgabe bestünde nur noch in Mikromanagement, darin, durch kleine Korrekturen dafür zu sorgen, dass ein großartiges, sich selbst lenkendes und sich selbst verwaltendes System eine im Wesentlichen vorbestimmte, rationale Richtung beibehielt.

Aber als das europäische Finanzsystem infolge der Selbstzerstörung der Wall Street auf Grund lief, gerieten Europas Eliten in Panik. Als sie zusehen mussten, wie französische und deutsche Banken einfach so untergingen, griffen sie in den Abfalleimer der Geschichte, holten den Geist der Kanonenbootdiplomatie wieder hervor und die untaugliche Ökonomie gleich mit. Griechenland wurde zufällig zu dem Schauplatz, an dem man beides wieder praktizierte, und das Ergebnis war Bailoutistan.

Wenn eine schlecht konstruierte Brücke zu stark belastet wird, bricht zuerst der schwächste Pfeiler. Griechenland war dieser Pfeiler. Der Grund dafür hatte nichts mit der Europäischen Union zu tun, sondern lag in der traurigen Geschichte des neuzeitlichen griechischen Staats und der traditionell herrschenden Oligarchie, aber der Auslöser für die Katastrophe war die wackelige Konstruktion der Brücke. Sie wäre auch eingestürzt, wenn Griechenland, der schwächste Pfeiler, entfernt und durch einen anderen Pfeiler ersetzt worden wäre.

Es stimmt, dass 2010 der öffentliche und der private Sektor in Griechenland inkompetent, korrupt, aufgebläht und verschuldet waren. Deshalb begann die Eurokrise dort. Tatsächlich hatten wir Griechen es geschafft, noch vor der formellen Gründung unseres Staats 1827 nicht tragfähige Schulden aufzuhäufen, und seit damals ist Steuerflucht halb olympische Sportart und halb patriotische Pflicht. Wir Progressiven, die wir in den 1960er- und 1970er-Jahren unsere ersten politischen Schritte unternahmen, schimpften über dieses schändliche Verhalten und die quälende Unfähigkeit der griechischen Oligarchie, die oft zu despotischem Verhalten führte. Wir demonstrierten auf den Straßen und insbesondere auf dem Syntagma-Platz. Und doch erklärt all das nicht, warum Griechenland nach 2010 so tief in die Krise geriet und warum danach Bailoutistan geschaffen wurde, eine traurige Schuldnerkolonie am Mittelmeer.

Was wäre passiert, wenn Griechenland im Jahr 2000 den Euro nicht bekommen hätte? In den ersten acht Jahren der gemeinsamen Währung hätten sich unser Staat und Privatleute kleinere Summen bei französischen und deutschen Banken geliehen, die zurückhaltend gewesen wären, einem verschuldeten Land, dessen Währung permanent an Wert verlor, größere Summen zu geben. Griechenland wäre zwischen 2000 und 2008 im Schneckentempo gewachsen und nicht explosionsartig wie bei dem schuldengetriebenen Boom, den wir erlebt haben. Und als 2008 die Kreditklemme kam, hätte Griechenland eine kleine, kurze, unbedeutende Rezession erlebt ähnlich wie Rumänien oder Bulgarien. Korrupt und ineffizient wie eh und je wäre Griechenland einfach weitergetrottet wie in den 1950er- und 1960er-Jahren, ohne die humanitäre Krise, in der es jetzt steckt. Die Progressiven, erschöpft von den Missständen in unserem Land und ihrer überdrüssig, würden weiter auf dem Syntagma-Platz demonstrieren, ohne dass der Rest der Menschheit davon Notiz nehmen würde, und es gäbe keine Schlagzeilen wie »Neue griechische Tragödie«, »Griechenland bedroht das Weltfinanzsystem« und ähnliche. Und natürlich wäre auch dieses Buch nie geschrieben worden.

Irren ist menschlich, wie man so schön sagt, aber für spektakuläre Fehler mit unfassbaren menschlichen Kosten brauchten wir anscheinend erst Europas größtes wirtschaftliches Projekt, den Euro. Griechenland war der Kanarienvogel in der europäischen Kohlemine, dessen Hinscheiden vor den tödlichen finanziellen Gasen hätte warnen sollen, die durch Europas Währungssystem waberten. Stattdessen wurde 2010 das kleine, zerbrechliche, verschwenderische Griechenland zum Sündenbock für Europa und seine Banken. Nicht genug damit, dass die Griechen unvorstellbare Kredite der französischen und deutschen Banken schultern mussten, dass sie zu einem Leben in einem postmodernen Armenhaus verdammt wurden, damit die ausländischen Parlamente weiterhin getäuscht werden konnten, man erwartete auch noch, dass die Griechen die Schuld dafür auf sich nehmen würden. Doch in den langen, großartigen Nächten auf dem Syntagma-Platz verlor die europäische Elite die Kontrolle über das Schwarzer-Peter-Spiel. Die junge Frau, die aufrecht dort stand und ihr Recht in Anspruch nahm, mit dem wunderbaren Satz »Wer muss ich denn noch sein?« die Autorität infrage zu stellen, symbolisierte den Wendepunkt. Ja, in unserer Gesellschaft gab es viel Schlechtes, doch nein, unsere grausame und unübliche Bestrafung war nicht gerechtfertigt. Und wir würden sie nicht einfach so hinnehmen.

Katharina die Große hat einmal gesagt, wer kein gutes Beispiel sein könne, müsse eben eine schreckliche Warnung sein. Griechenlands Warnung an alle, die in Europa hinterherhinkten, war in der Tat furchtbar: Wer gegen die Finanzregeln verstieß, deren Einhaltung die Krise unmöglich machte, den erwartete ein eiserner Käfig aus Schulden und Austerität. Doch die junge Frau auf dem Syntagma-Platz, der obdachlose Dolmetscher Lambros und Millionen andere, die freudig bereit waren, Opfer zu bringen, aber nicht erleben wollten, in den bodenlosen Abgrund der griechischen Schulden geworfen zu werden, schienen entschlossen, dem Rest Europas zu zeigen, dass es humane Alternativen gab, dass Europas Notlage zwar schlimm war, aber nicht tragisch sein musste, dass unser Schicksal immer noch in unserer Hand lag.

Nach der brutalen Vertreibung der Besetzer des Syntagma-Platzes forderte die griechische Sommerhitze ihren Tribut: Die Besetzer kehrten nicht zurück. Stattdessen sickerten sie in die griechische Gesellschaft ein, wo sie ihre Botschaft verbreiteten, während sie auf die nächste Zuspitzung der Krise warteten. Dann sollte der Geist des Syntagma-Platzes zu einer unaufhaltsamen politischen Bewegung werden, die über die Wahlurne eine neue Regierung installierte. Deren einzige Aufgabe war es, die Wände des Schuldgefängnisses einzureißen und Bailoutistan zu stürzen. Aber um dorthin zu gelangen, waren erst vier Jahre mühsamer Vorarbeiten nötig.

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