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Auf der schwarzen Liste

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In den Jahren 2010 und 2011 hatte es den Anschein, als wäre ich jeden zweiten Tag im Radio oder Fernsehen und würde die Regierung beschwören, der Realität ins Auge zu blicken und die düstere Tatsache zu akzeptieren, dass unsere Staatsschulden restrukturiert werden mussten. Dieser Vorschlag war nicht radikal oder sonderlich links. Banken schulden jeden Tag die Schulden von Unternehmen um, die in Schwierigkeiten geraten sind, nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Aber das Problem war, dass wir es nicht mehr mit Banken zu tun hatten, seit wir das Rettungsprogramm von EU und IWF akzeptiert hatten. Wir hatten es mit Politikern aus ganz Europa zu tun, die ihre Parlamente angelogen hatten, um sie dazu zu bringen, dass sie den Banken die griechischen Schulden abnahmen. Bei einer Umschuldung müssten sie erneut vor ihre Parlamente treten und ihre frühere Sünde bekennen, und das würden sie aus Angst vor den Folgen niemals tun. Der einzige Ausweg bestand darin, mit der Täuschung weiterzumachen und dem griechischen Staat einen weiteren Haufen Geld zu geben, damit er so tun konnte, als würde er seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber der EU und dem IWF nachkommen: ein zweites Rettungspaket.

Ich war entschlossen, ihnen dieses Spiel zu verderben: Von jedem Dach, das ich erklimmen konnte, wollte ich verkünden, dass es unsere schlimmste Option war, weitere Kredite anzunehmen. Ich probierte verschiedene Metaphern aus. »Es ist, als würden Sie eine Kreditkarte nehmen«, sagte ich einmal im Fernsehen, »um Raten für eine Hypothek zu bezahlen, die Sie nicht bezahlen können, weil Ihr Lohn gesunken ist. Es ist ein Verbrechen gegen die Logik. Sagen Sie einfach Nein. Die Zwangsversteigerung des Hauses ist schrecklich, aber ewige Schuldknechtschaft ist noch viel schrecklicher.«

Eines Abends, als ich von einem weiteren Auftritt bei ERT, der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalt Griechenlands, in unsere Wohnung zurückkehrte, klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab, und es meldete sich eine vertraute Stimme. Sie gehörte Antonis Samaras, damals Vorsitzender der konservativen Nea Dimokratia, der griechischen Oppositionspartei, der Mann, an dessen Niederlage bei der Wahl vier Jahre später, im Januar 2015, ich mitwirkte.

»Wir sind uns noch nicht begegnet, Herr Varoufakis«, sagte er, »aber ich habe Sie gerade auf ERT gesehen und musste Sie einfach anrufen. Ich kann mich nicht erinnern, wann mich etwas, das jemand im Fernsehen gesagt hat, so bewegt hat. Danke für Ihre Haltung.«

Antonis Samaras war nicht das einzige Mitglied des griechischen Establishments, das sich an mich wandte. In meinem Wahlkampf führte ich viele geheime Gespräche mit sozialistischen Ministern, konservativen Abgeordneten der Opposition, Gewerkschaftsvorsitzenden und anderen, die fanden, dass ich einer großen Sache auf der Spur war. Wenn ich die Grundzüge meiner Analyse dargelegt hatte, bestritt sie niemand. Die Sozialisten argumentierten wie verschüchterte Offiziere, die wissen, dass das Schiff auf die Felsen zusteuert, aber Angst haben, den Kapitän, der sich in Sicherheit wiegt, darüber aufzuklären. Die Konservativen waren zumindest bis November 2011 in einer besseren Position: Ihr Vorsitzender Antonis Samaras lehnte die Sparpolitik und die Rettungspakete ab, deshalb konnten sie meinen Gedankengängen eher etwas abgewinnen.

Wenige Tage später bereitete ich mich in einem Studio von ERT auf einen weiteren Auftritt in der Hauptnachrichtensendung vor. Der Chef der Sendeanstalt hatte mir kurz zuvor ein verlockendes Angebot unterbreitet: eine kurze Sendung fast jeden Tag direkt nach den Hauptnachrichten, in der ich das laufende Wirtschaftsdrama kommentieren würde. »Der Regierung wird es nicht gefallen, aber Ihre Ansichten sind wichtig und verdienen es, gesendet zu werden«, hatte er entschieden erklärt. Geschmeichelt und auch erfreut, dass der Leiter des staatlichen Fernsehens ein solches Bekenntnis zum Pluralismus ablegte, obwohl die Regierung meine Kommentare strikt ablehnte, hatte ich eingewilligt, darüber nachzudenken.

An dem Abend rief mich der Leiter zehn Minuten vor Beginn der Sendung zu einem kurzen Plausch in sein Büro. Ihm gegenüber saß die wichtigste Nachrichtenmoderatorin, eine Journalistin, die seit zwei Jahrzehnten der Liebling des PASOK-Establishments war, bekannt für ihr blondierten Haare, ihre blauen Augen, die betörende Stimme und ihre Flirts mit Gesprächspartnern. Der Leiter erinnerte mich daran, dass er mich gerne regelmäßig im Fernsehen haben wollte, die Journalistin stimmte begeistert zu. Kurz bevor wir uns auf den Weg zum Studio machten, brachte sie unter seinen wachsamen Augen noch eine Warnung an: »Ich weiß, dass Ihnen das am Herzen liegt, aber bitte erwähnen Sie heute Abend das Wort Umschuldung nicht. Dann wäre es schwer, Sie auf Sendung zu halten. Die Regierung rastet aus, wenn Sie das Wort hört.«

Ich lächelte und ging weiter. Im Studio las sie die Schlagzeilen vor und wandte sich dann in ihrer üblichen direkten Art mir zu: »Herr Varoufakis, die Regierung sagt uns, das Programm werde Erfolg haben. Aber wir hören auch andere Meinungen. Was sagen Sie dazu?«

»Ohne Umschuldung hat kein Programm Aussicht auf Erfolg, nicht nur dieses.« Unter ihrem dicken Make-up glaubte ich ein ganz leichtes Zucken wahrzunehmen.

Nach der Sendung ging ich direkt zum Parkplatz, setzte mich auf mein Motorrad und fuhr nach Hause, in der sicheren Überzeugung, dass ich nie wieder in eine Sendung der staatlichen Rundfunkanstalt eingeladen werden würde. Tatsächlich wurde ich auf Anweisung des Presseministers (allein dieser Titel erfüllt das Herz jedes Liberalen mit Unbehagen) inoffiziell auf eine schwarze Liste gesetzt.16 Vier Jahre später führte die gleiche Sünde – dass ich auf einer Umschuldung beharrte – dazu, dass die politischen Spitzen Europas meine Absetzung als griechischer Finanzminister und Mitglied der Eurogruppe verlangten. Wer sagt, dass das europäische Establishment nicht in sich konsistent ist?

Meine Verbannung von ERT im Jahr 2011 war meine erste Begegnung mit dem inkompetenten autoritären Gebaren, mit dem die Europäische Union auf die Krise der Eurozone reagierte. Denn auf die Krise reagierten sie in erster Linie moralisierend. Austerität ist eine schreckliche Wirtschaftspolitik und, wie ich weiter oben erklärt habe, in schwierigen Zeiten zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich ist Austerität gar keine richtige Wirtschaftspolitik. Austerität ist ein Spiel mit Moral, das dazu dient, in Zeiten der Krise zynische Transfers von den Habenichtsen zu den Vermögenden zu legitimieren. In diesem Spiel sind die Schuldner Sünder, die für ihre Missetaten bezahlen müssen. Die Troika gab sich nicht damit zufrieden, dass die Griechen, die Spanier und ihre eigenen Leute sich ihrer Autorität unterwarfen, nein, sie verlangte auch noch, dass die europäischen Schwächlinge, darunter auch viele Deutsche, die gegen die Armut kämpften, die Schuld und die Verantwortung für die Krise auf sich nehmen sollten.

Der deutsche Finanzminister Dr. Wolfgang Schäuble sagte einmal zu mir, mit meiner Ablehnung der Sparpolitik gehöre ich zu einer Minderheit in Europa, und dann zitierte er Meinungsumfragen, in denen sich eine Mehrheit für Einschnitte bei den Staatsausgaben ausgesprochen hatte. Ich erwiderte, selbst wenn das stimmen sollte, könne sich eine Mehrheit in Europa über die Ursachen ihrer misslichen Lage täuschen. Als im 14. Jahrhundert die Pest wütete, hätten viele Europäer geglaubt, sie werde durch einen sündigen Lebenswandel verursacht und könne durch Aderlässe und Selbstgeißelung geheilt werden. Und als Aderlass und Selbstgeißelung nicht funktionierten, habe man das als Beweis genommen, dass die Menschen ihre Sünden nicht wirklich ehrlich bereuten, dass noch nicht genug Blut geflossen, die Selbstgeißelung nicht enthusiastisch genug ausgeführt worden sei – genau wie heute das katastrophale Scheitern der Austerität als Beweis angesehen werde, dass sie zu halbherzig praktiziert worden sei.

Falls Wolfgang Schäuble amüsiert war, ließ er es sich nicht anmerken. Aber das ist der entscheidende Punkt: Ohne die moralische Einkleidung zeigt sich die Austerität als das, was sie ist: eine gescheiterte Wirtschaftspolitik, die auf unethischem Moralisieren gründet. Das Establishment fand mich empörend, weil ich einigen Erfolg damit hatte, das Problem mit kalter Logik anzugehen und so die Moral aus der Debatte über die griechischen Schulden herauszunehmen – indem ich Argumente einsetzte, die die Kluft zwischen der Linken und der Rechten überwanden und Teile von beiden überzeugten.

Deshalb hätten sie mich am liebsten, wenn sie es gekonnt hätten, nicht nur bei ERT auf die schwarze Liste gesetzt, sondern von jedem öffentlichen Podium auf dem ganzen Kontinent verbannt.

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