Читать книгу Antoniusfeuer - Yvonne Bauer - Страница 11
Kapitel 6 - Aufruhr
ОглавлениеEs kam Agnes vor wie ein Traum. Wie sehr hatte sie sich darauf gefreut, in ihr fertig umgebautes Haus einzuziehen. Die letzten Wochen hatten doch einiges von der kleinen Familie, aber auch von Griseldis und ihrem Mann abverlangt. Sie bewohnten mit vier Erwachsenen und zwei Babys in zwei Zimmer.
Erfreulich war, dass das Wetter im Sommer so gut gewesen war, dass sie sich tagsüber viel im Hinterhof und im Garten hatten aufhalten können.
Griseldis genoss nun die Freuden der Schwangerschaft, denn die morgendliche Übelkeit hatte – wie erwartet – nach wenigen Wochen nachgelassen. Sie trug den kleinen Bauch mit Stolz vor sich her und Georg las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.
Es war nun Ende August - Erntemond - und auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hatte sich viel ereignet. Noch im April hatten sie sich vor einem Krieg im deutschen Land gefürchtet. Dazu war es – Gott sei Dank – nicht gekommen. Kaiser Friedrich II. war mit einem Heer über den Süden nach Deutschland gezogen und fand unterwegs viele Gefolgsleute für den Kampf gegen seinen vom Papst gebannten Sohn Heinrich und dessen Verbündete, die Bischöfe von Augsburg, Würzburg, Worms, Speyer und Strassburg, den Abt des Klosters zu Fulda und diverse schwäbische Adlige.
Bevor es zur entscheidenden Schlacht gekommen war, hatten einige weltliche Reichsfürsten – allen voran Gottfried von Hohenlohe – den jungen König immer wieder in Kämpfe verwickelt. Als das Heer des Kaisers im Swiggerstal eingetroffen war, hatten sich die meisten seiner Verbündeten erneut von ihm abgewandt, sodass es nach einem kleinen Scharmützel fast ohne Kampf in Wimpfen zu einer Kapitulation und Unterwerfung Heinrichs kam. Der junge König wurde festgesetzt und zwei Tage später in Worms abgeurteilt. Er verlor sämtliche Titel und Güter und wurde zur Kerkerhaft in einem apulischen Gefängnis verurteilt.
Vor einigen Tagen hielt Kaiser Friedrich II. in Mainz einen Hoftag ab. Hier erklärte er den Landfrieden und bereitete dem jahrzehntelang andauernden Streit zwischen Staufern und Welfen ein Ende. Er setzte Otto, einen Enkel von Heinrich dem Löwen, als Herzog für das neu entstandene Herzogtum Braunschweig-Lüneburg ein.
Außerdem verpflichtete er die machtbesessenen deutschen Fürsten zur Teilnahme an seinem nächsten Feldzug gegen die Lombardenstädte. Nur eines war dem Kaiser nicht gelungen. Der Versuch, seinen zweiten Sohn, den siebenjährigen Konrad, zum deutschen König krönen zu lassen, scheiterte. Alles in allem war jedoch die Gefahr eines Krieges auf deutschem Boden abgewendet.
In der Thüringer Landgrafschaft ging es weit weniger ungefährlich zu. Wieder und wieder kam es zu Überfällen auf Wanderer und Handelszüge. Friedliche Bürger und Händler wurden entführt und erst gegen ein stattliches Lösegeld auf freien Fuß gesetzt. Auf diese Weise kam der niedere Adel zu Geld.
Heinrich Raspe, der als Vormund seines Neffen Hermann die Landgrafenwürde vertrat, ging heftig gegen die Raubritter vor. Schon im letzten Jahr hatte er nach dem Überfall auf die Augustinermönche im Kloster Ettersburg durch die Burgmannen der nahe gelegenen Festung hart durchgegriffen. Er hatte dreiundzwanzig Ritter verurteilt und hinrichten lassen. Graf Heinrich von Gleichen, dem die Burg gehörte, war daraufhin zum Landgericht bestellt worden und dort nicht erschienen. Deshalb wurde die Reichsacht über ihn verhängt und alle seine Lehen eingezogen.
Trotz dieses Urteils standen weiterhin Überfälle auf arglose Handelsleute und Reisende auf der Tagesordnung. Agnes hatte so manches Mal in den letzten Wochen um ihren Mann und ihren Schwager gebangt und war jedes Mal aufs Neue froh, wenn beide unversehrt von den Handelsreisen zurückgekehrt waren.
Es hatte sich seit dem Pfingstfest viel geändert. Sie hatten den Besitz des Filzmachers Kuno, dessen ganze Familie vom Antoniusfeuer dahingerafft worden war, erstanden. Seither nannten sie auch ein zweites Fuhrwerk ihr Eigen, und ihr Mann und ihr Schwager fuhren nun getrennt – jeder von ihnen mit einem Lehrjungen – die Ladungen. So konnten sie mehr Aufträge entgegennehmen.
Griseldis verbrachte die Vormittage damit, in der Stube des nun eingerichteten Lagers die Lieferaufträge zu erfassen und die Fahrten zu planen. Agnes unterstützte sie dabei und führte gemeinsam mit ihr die Bücher. Wenigstens drei Mal in der Woche fuhren die Männer Handelsgüter des Klosters Volkenroda in den Klosterhof in der Altstadt.
Am heutigen Morgen waren ihr Mann und sein Lehrjunge Paul erneut auf dem Weg in das Kloster. Sie würden bis zum Abend unterwegs sein. Bis dahin konnte Agnes nach und nach die Habseligkeiten aus dem Heim ihrer Schwägerin in das Eigene bringen. Am gestrigen Tag hatte sie mit Lena die letzten Putzarbeiten erledigt.
Das Haus war nach dem Umbau nicht wieder zu erkennen. In der ersten Etage betrat man nun nicht mehr die Wohnkammer, sondern einen Flur, von dem aus eine Holztreppe in das obere Stockwerk und eine Steintreppe in den Keller führten. Nach links trennte eine Tür den Eingang in die Küche. Dort stand auch der neue Kachelofen, der das ganze Haus mit wohliger Wärme versorgte. Ein Abzugsrohr endete in der Wohnstube und eines in der oberen Etage. In jedem Zimmer konnte man über einen Metallrost, das sich verschließen ließ, die Wärme hineinlassen.
Hinter der Küche befanden sich noch zwei weitere Kammern, in einer wurden die Speisen gelagert und die andere war mit einem Bett, einem kleinen Schrank und einem Waschtisch versehen. Dort sollte Lena ab dem heutigen Tag wohnen. Sie war die letzten Wochen schon ganz aufgeregt gewesen, denn es war das erste Mal, dass sie nicht in ihrem Elternhaus schlafen und leben würde.
Vom Flur aus gelangte man rechts durch eine weitere Tür. Hier hatten sich die Fuhrleute eine gute Stube eingerichtet, in der sie Besuch empfangen konnten. Die Holztreppe mit wunderschön gedrechseltem Geländer führte nach oben in die Schlafkammer und die Kammer für die Kinder. Ihr Dach war nun mit Tonziegeln eingedeckt und mit Strohwische gedämmt, ein Luxus, den sich nicht jeder der Nachbarn leisten konnte.
Agnes stand vor der Haustür und betrachtete ihr neues Heim. Das Fachwerk erstrahlte in einem satten Grün. Die Fächer waren mit Klaiben ausgefüllt und mit Lehm verputzt. In der letzten Woche wurden die Fächer und auch die Innenwände weiß getüncht worden. In den Balken über der Haustür hatte der Zimmermeister die Buchstaben Anno Domini MCCXXXV in das Holz geschnitzt. 1235 – das Geburtsjahr der Kinder, war das wunderbarste ihres bisherigen Lebens.
Aber warum verspürte sie einen so unangenehmen Druck im Bauch, als läge ein schwerer Stein in ihrem Magen? Sie musste doch uneingeschränkt glücklich sein.
Die Kinder wuchsen und gediehen, das Geschäft lief besser als je zuvor und ihr Georg liebte sie noch wie am ersten Tag. Und dennoch konnte sie dieses ungute Gefühl einer nahenden Bedrohung nicht abschütteln.
Lena, die mit einem Wäschebündel in der einen und einem großen Strauß Sonnenblumen in der anderen Hand neben ihre Herrin getreten war, bemerkte die getrübte Stimmung der jungen Frau. Sie betrachtete Agnes aufmerksam. Die Dienstherrin war außergewöhnlich schön, die langen pechschwarzen Haare, die sie nur in der Nacht offen trug, hatte sie unter einer Haube nach oben gesteckt. Ihr zarter und zerbrechlich wirkender Körperbau widersprach der Kraft und Energie, die in Agnes steckten.
Am heutigen Morgen war die Fuhrmannsfrau ungewöhnlich still und nachdenklich. Ihr Blick, der für den Außenstehenden auf das Haus gerichtet schien, erfasste aber nicht die Umgebung, sondern war nach innen gekehrt. Plötzlich schüttelte sie den Kopf und löste sich aus der Starre. Sie bemerkte die kleine Magd, die neben ihr stand und sie musterte.
»Guten Morgen Lena. Bist du bereit für den großen Tag?«
Die Dienstmagd nickte und wusste genau, was die Herrin gemeint hatte. Von heute an war sie kein Kind mehr, sondern sorgte für sich selbst. Sie zog aus dem Elternhaus aus.
In der letzten Woche war sie acht Jahre alt geworden und musste sich nun dem Ernst des Lebens stellen, wie ihre Mutter ihr immer gesagt hatte. In wenigen Jahren wäre sie mannbar und würde ihren eigenen Haushalt führen.
Sie seufzte, nickte Agnes zu und betrat nach ihr das Haus. Die mitgebrachten Sonnenblumen stellte sie auf den Küchentisch in eine Holzvase. Ihr Bündel mit den Habseligkeiten brachte sie in die Kammer hinter der Küche, die in den kommenden Jahren ihr zuhause sein würde. Sie könnte die Kleidungsstücke am Abend auspacken. Danach entzündete sie das Herdfeuer und folgte der Herrin, um die letzten Sachen aus dem Haus der anderen Fuhrmannsfrau zu holen.
Griseldis stand blass und schwitzend in der Wohnkammer und rieb sich ständig den Rücken.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, wollte Agnes von ihr wissen. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie mit ängstlicher, zittriger Stimme. »Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war ein Blutfleck in meinem Bett und ich habe entsetzliche Kreuzschmerzen.«
Alarmiert lief Agnes zu ihrer Schwägerin und führte sie zum nächsten Schemel.
»Setzt dich erst einmal hin und trink einen Schluck Wasser. Lena laufe zu der alten Josepha und sag ihr, dass sie hier gebraucht wird.«
Jetzt zitterte Griseldis am ganzen Leib und fing an zu weinen.
»Es ist zu früh, das Kind hat doch noch vier Monate Zeit. Ich darf es nicht verlieren.«
Sie umklammerte Agnes Arm.
»Es wird alles gut, am besten legst du dich erst einmal ins Bett. Wenn Lena wieder da ist, kann sie dir zur Hand gehen und ich bleibe hier, bis dein Mann kommt.«
Sie versuchte, Griseldis mit einem aufmunternden Lächeln zu beruhigen – aber ohne Erfolg. Ihre Schwägerin war bis ins Mark erschüttert, zu lange hatte sie sich auf dieses Kind gefreut. Agnes würde sich auf ewig Vorwürfe machen, wenn Griseldis das Kind verlöre, denn schließlich waren die letzten Wochen für alle sehr kräftezehrend.
Ihre Schwägerin hatte sich zusätzlich zu ihrem Haushalt und dem Fuhrgeschäft auch um Konrad und Antonia gekümmert, während sie mit Lena bei den Umbaumaßnahmen halfen.
Sie führte die Schwangere in ihr Bett und holte Leinentücher, die sie in eine Schüssel mit kaltem Brunnenwasser tauchte und Griseldis auf die Stirn legte. Nach einiger Zeit kehrte Lena mit der Kräuterfrau zurück. Die alte Josepha schickte das Mädchen und Agnes aus der Schlafkammer und untersuchte Griseldis gründlich. Sie wusch sich die blutigen Hände und rief Agnes und Lena wieder herein.
»Lauf zu Bruder Jordan und bitte ihn hierher. Er soll seinen Mohnsaft mitbringen.«
Lena lief, so schnell ihre Beine sie tragen konnten, in Richtung Antoniushospital, in dem sie den kleinen Mönch vermutete.
Die alte Josepha tastete den Bauch der Schwangeren ab und fühlte die feinen Tritte des Ungeborenen.
»Hab keine Angst, dein Kind lebt, es hat es nur ein bisschen zu eilig, auf die Welt zu kommen. Du hast dir wohl ein wenig zu viel zugemutet. Wenn du in den nächsten Wochen das Bett hütest und regelmäßig den Mohnsaft einnimmst, sollten dir Bauch oder Rücken so schmerzen wie heute, dann müsste es gelingen, das Kind im Körper zu halten. Deinen Mann darfst du nicht mehr empfangen. Schick ihn zu den Huren in die Rosengasse, wenn ihn der Hafer sticht.«
Die eben noch blasse Griseldis lief im Gesicht hochrot an, nickte aber gehorsam.
In der Zwischenzeit war die kleine Magd mit Bruder Jordan zurückgekehrt. Josepha erklärte die Lage und der Mönch übergab der Alten das Fläschchen mit dem Mohnsaft. Sie flößte Griseldis einen Löffel davon ein. Danach nahm sie Agnes zur Seite.
»Sie muss ruhen bis zur Niederkunft, sonst werde ich für nichts garantieren.«
Agnes nickte. »Sie kann in das Kinderzimmer einziehen und die Kinder schlafen bei mir in der Schlafkammer. Das wird schon gehen. Ich will alles tun, was ich vermag, damit es ihr an nichts fehlt.«
»Gut. Mehr kann ich im Moment nicht tun. Lasst mich rufen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.«
Sie verabschiedete sich von der Schwangeren und Bruder Jordan.
Griseldis hatte sich beruhigt und flüsterte einige unverständliche Worte, bevor sie einschlief. Der Geistliche bekreuzigte sich und sprach ein Gebet für die werdende Mutter. Dann verabschiedete auch er sich von den Anwesenden und lief zurück in Richtung des Hospitals.
Agnes bat Lena, sich an die Schlafstatt zu setzten und über Griseldis zu wachen. Während dessen stillte sie die Kinder und versorgte sie mit frischen Windeltüchern. Die beiden schliefen in letzter Zeit tagsüber immer weniger und betrachteten aufmerksam alles, was um sie herum geschah. Sie reagierten mit einem Lächeln, wenn man sie ansprach und mit ihnen spielte. Heute war aber kein Tag zum Spielen.
Seufzend legte Agnes die Kinder zurück in die Wiege und schickte die Magd zu den beiden, während sie am Bett ihrer Schwägerin wachte und einige Kleidungsstücke ausbesserte. In Abständen erneuerte sie die kalten Umschläge auf der Stirn der Schwangeren. Sie hörte an den Geräuschen von nebenan, dass Lena sich im Haushalt nützlich machte.
Als Griseldis zwischendurch erwachte, gab Agnes ihr erneut einen Löffeln Mohnsaft, so wie es ihr von Josepha aufgetragen worden war. Der Sirup tat seine Wirkung. Die Schwangere schwitzte nicht mehr und schien auch keine Schmerzen mehr zu haben. Sie lag mit geschlossenen Augen und rosigen Wangen im Bett und schlief gerade wieder ein, als der dicke Georg in die Kammer stürmte.
Er hatte schon von den Nachbarn gehört, dass die alte Josepha und auch Bruder Jordan im Haus zu Gast waren, und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Er lief zur Bettstatt, kniete sich davor und nahm die Hand seiner Frau in die seinen. Als Griseldis nicht erwachte, fiel sein angstvoller Blick auf Agnes. Sie griff ihn beim Arm und zog ihn mit sich in die Wohnkammer.
»Es war knapp. Sie hätte das Kind um ein Haar verloren. Die Kräuterfrau sagt, dass sie sich bis zur Niederkunft schonen und das Bett hüten muss. Ich werde heute Abend mit Georg sprechen. Das Beste wäre, wenn ihr erst einmal in die Kinderkammer einziehen würdet. Dort können Lena und ich uns abwechselnd um sie kümmern. Es war doch sowieso geplant, dass ihr für euren Umbau bei uns wohnen würdet.«
»Einverstanden, aber nur unter der Bedingung, dass u. a. wir uns nach einer Hilfe umschauen, die für mich und meine Frau und später für unser Kind da sein wird.«
Agnes lächelte ihren Schwager an und auch er brachte ein halbherziges Lächeln zustande.
»Wie weit seid ihr denn mit dem Umzug gekommen?« »Lena hat am Vormittag einiges nach nebenan geschafft. Aber die Ereignisse hatten sich überschlagen, sodass wir nicht fertig geworden sind. Vielleicht könntest du die schwere Wiege in unsere Schlafkammer tragen, wenn die Kinder das nächste Mal wach sind.«
Nachdem Georg sich ein weiteres Mal überzeugt hatte, dass seine Frau schlief, trug er mit Lena und Agnes die letzten Dinge aus dem Haushalt seines Schwagers in dessen umgebautes Heim. Als er die Wiege nach oben in die Schlafkammer getragen hatte, sah er sich noch einmal im Haus um. »Es ist wirklich schön geworden, eure neue Heimstatt. Können wir morgen die Versammlung des Rates in eurer Wohnstube abhalten?«
»Das wird schon gehen. Mit wem muss ich denn rechnen? Ich würde ein kleines Abendmahl vorbereiten.«
Der dicke Georg kratzte sich an seinem Drei-Tage-Bart und dachte angestrengt nach.
»Nun, Meister Michael, Meister Jonas, Meister Mombert, Meister Jannis, Meister Gerald, dein Vater, dein Mann und ich, also insgesamt acht Männer. Wäre das in Ordnung?«
Agnes überlegte kurz, was ihre Speisekammer hergab und was sie noch besorgen müsste. »Das wird gehen. Kannst du für ein Fass Bier sorgen?«
Georg nickte und verabschiedete sich bis zum Abendessen, das sie gemeinsam im neuen Haus einnehmen würden.
Der Fuhrmann setzte sich neben die Schlafstatt und betrachtete seine Frau. Sie sah so klein aus in dem Bett. Die rotblonden Haare hatten sich aus dem Zopf gestohlen und lagen in Locken auf dem Kissen. Die Wangen waren leicht gerötet. Die Sommersprossen traten vor allem in dieser Jahreszeit deutlicher hervor.
Griseldis hatte zu Beginn ihrer Ehe viel Zeit dafür verwendet, sie mit Puder zu verbergen. Aber er mochte jede Einzelne der Sommersprossen, ob nun im Gesicht oder an den Armen. In den letzten Wochen war sie richtig erblüht. Die Augen leuchteten, wie noch nie zuvor. Der Bauch wölbte sich leicht nach vorn, und ihre Brüste waren voller geworden.
Georg nahm das Tuch von ihrer Stirn und tauchte es erneut in kaltes Wasser. Als er damit über ihr Gesicht strich, öffnete sie die Augen und sah ihm in die Seinen.
»Mein Herz geht es dir besser? Agnes hat mir alles erzählt.«
Sie wollte antworten, brachte jedoch kein Wort heraus. Die junge Frau musste sich räuspern und einen Schluck trinken, bevor sie sprechen konnte.
»Es geht mir gut, die Schmerzen sind weg. Aber ich hatte solche Angst.«
Ihre Stimme erzitterte und die Augen füllten sich erneut mit Tränen. Sie wusste, dass Georg sich das Baby genauso sehr wünschte wie sie.
»Die alte Josepha hat gesagt, dass du bis zur Niederkunft das Bett hüten musst, sonst könntest du das Baby verlieren, genau wie Agnes im letzten Jahr.«
Griseldis streichelte ihrem Mann die Wange. Er musste genauso viel Angst gehabt haben, wie sie.
»Ich werde alles tun, damit unser Kind gesund das Licht der Welt erblickt.«
Georg legte sich neben seine Frau auf die Bettstatt und streichelte ihr Gesicht und den Bauch. Er flüsterte ihr ins Ohr.
»Es wird alles gut. Morgen werden wir in das Haus deines Bruders ziehen, bis unser Heim fertig umgebaut ist. Agnes und Lena wollen sich um dich kümmern. In den nächsten Tagen werde ich mich umhören, ob es nicht eine fleißige Magd für unseren Haushalt gibt. Vielleicht hat Meister Michael einen Vorschlag. Ich will ihn morgen bei der Zusammenkunft fragen.«
Kurz bevor das Läuten zur Abendmesse ertönte, war auch der dünne Georg nach Hause zurückgekehrt. Er hatte mit dem Lehrjungen die Waren im Klosterhof abgeladen und ihn dann nach Hause geschickt.
Nachdem er den Fuhrwagen im benachbarten Lager abgestellt und die beiden Gäule im Stall abgerieben und gefüttert hatte, betrat er das Haus. Er ging in die Küche und fand dort – wie erwartet – seine Frau und die kleine Magd bei der Vorbereitung des Abendessens vor.
Er begrüßte sie mit einem Kuss auf die Stirn und setzte sich auf einen Schemel. Agnes reichte ihm einen Becher Dünnbier und erzählte ihm mit wenigen Worten, was sich am Tag zugetragen hatte.
Selbstverständlich war er damit einverstanden, dass seine Schwester und ihr Mann schon am morgigen Tag bei ihnen einziehen würden. Er hatte sich so mit den beiden gefreut, als er gehört hatte, dass sie Eltern werden würden. Es gab nichts, was er nicht für sie tun würde. Sie war für ihn da gewesen, als ihre Eltern gestorben waren und hatte ihn praktisch großgezogen. Jetzt konnte er sich dafür erkenntlich zeigen.
Zum Abendessen kam sein Schwager allein. Griseldis fühlte sich noch schwach und wollte lieber im Bett bleiben. Sie aßen eine leckere Suppe aus Getreide und Fleischstücken und dazu frisch gebackenes Brot. Agnes füllte etwas Brühe in eine Holzschüssel und gab ihrem Schwager das Essen für Griseldis mit.
Danach ging sie mit ihrem Mann zu Bett. Es war ein anstrengender und aufregender Tag gewesen. Die Kinder schliefen in der Wiege und Lena in der Kammer neben der Küche.
Agnes löste den Zopf und kämmte die langen Haare mit einem Holzkamm aus. Sie legte alle die Kleider ab und warf Georg einen verführerischen Blick über ihre Schulter zu. Er lächelte sie an und klopfte mit der Hand auf die freie Stelle im Bett neben sich. Sie nahm die Einladung an und schmiegte den nackten Körper an seinen.
Wortlos fing er an, sie über den Rücken zu streicheln. Sie antwortete ihm mit begehrlichen Küssen. Sie liebten sich langsam und ausdauernd. Später fielen sie beide erschöpft in einen traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen stand Agnes noch vor Georg auf. Sie nahm Konrad aus der Wiege und stillte ihn. Dann legte sie ihren Sohn neben Georg ins Bett und fütterte Antonia. Konrad zappelte mit den Armen herum und traf dabei seinen Vater an der Nase.
Als Georg die Augen aufschlug, drehte er seinen Sohn zu sich um und spielte mit ihm. Es gab nicht viele Augenblicke in seinem arbeitsreichen Leben, an dem er sich die Zeit für die Kinder nehmen konnte. Umso mehr genoss er diesen Moment. Er betrachtete seine Frau, die gerade dabei war, die kleine Antonia zu stillen und erneut dankte er Gott dafür, dass er ihn so gesegnet hatte.
Agnes windelte die beiden Säuglinge und zog sich ihr Hauskleid an. Gemeinsam gingen sie hinunter zum Frühstück, dessen Duft ihnen schon in die Nase stieg.
Nach dem Essen würde sich Georg mit seinem Schwager treffen, um die Aufträge für die kommende Woche zu besprechen. Danach wollte er mit ihm das Bett in die Kinderkammer schaffen, damit es sich Griseldis dort bequem machen konnte.
Am Abend waren die wichtigsten Dinge in der Kammer verstaut. Agnes hatte dafür gesorgt, dass es Griseldis dort an nichts fehlte. Sie war immer noch sehr erschöpft und der Schreck über die Ereignisse des letzten Tages saß tief.
Agnes war nun dabei, den Männern in der Wohnstube das Abendessen aufzutun und Lena hatte die Aufgabe, die Becher mit dem Bier regelmäßig aufzufüllen.
Es waren fast alle Mitglieder des geheimen Rates gekommen, nur der Zimmermeister Mombert und Meister Michael ließen noch auf sich warten.
Kurze Zeit darauf wurde es plötzlich laut auf dem Hof. Die Handwerker liefen vor die Tür und kehrten eine ganze Weile nicht zurück. Als Agnes die Treppe herunter stieg, um nachzusehen, was vorgefallen war, kam ihr Mann ihr entgegen und bat sie, bei Griseldis und den Kindern zu bleiben. Auch Lena solle das Haus nicht verlassen.
Als Agnes fragen wollte, was denn passiert sei, antwortete Georg knapp, sie solle tun, was er ihr gesagt habe, ließ sie auf der Treppe stehen und verschwand durch die Tür in die Dunkelheit.
Agnes setzte sich auf die Treppenstufe, um wieder Gewalt über die zitternden Knie und ihre Gefühle zu erlangen, denn Griseldis würde der Freundin an der Nasenspitze ansehen, dass etwas nicht stimmte. Nach einiger Zeit stand sie auf, strich die Röcke glatt und ging in die Kinderkammer zu ihrer Schwägerin.
Es fiel ihr schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, denn immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Sie hatte große Angst um die Männer.
Etwa eine Stunde war vergangen, als es erneut auf dem Hof laut wurde. Sie entschuldigte sich bei ihrer Schwägerin und ging nachsehen, wie die Dinge standen.
Als Erster betrat Meister Michael das Haus. Er rief Agnes in die Küche und bat sie, den Tisch abzuräumen und so viele Kerzen und Lampen anzuzünden, wie sie finden könne. Kurz darauf kam der dicke Georg in den Raum und trug ein blutiges Bündel auf dem Arm. Es war die kleine Mechthild, die Tochter von Löbermeister Eckhard und Freundin von Lena. Er legte sie auf den Tisch. Man hatte dem Mädchen übel mitgespielt.
Als ihr Mann unverletzt die Küche betrat, atmete Agnes erleichtert auf. Georg berichtete ihr, warum Meister Michael und Meister Mombert zu spät zu der Ratsversammlung gekommen waren.
Als die kleine Mechthild am Abend nicht von der Burg heimgekommen war, hatte ihr Vater seinen ältesten Sohn, den elfjährigen Egbert, geschickt, um sie zu suchen.
Kurze Zeit später war der Junge schreckensbleich wieder nach Hause gelaufen, um seinen Vater um Hilfe zu bitten. Egbert hatte seine kleine Schwester halb ertrunken am Ufer der Schwemmnotte gefunden, sie aus dem Wasser gezogen und dort liegen gelassen. Er hatte es nicht geschafft, sie nach Hause zu tragen.
Gemeinsam waren sie zu der Stelle gelaufen, an der Egbert Mechthild zurückgelassen hatte. Als er seine Tochter geschunden und halb ertrunken vorfand, hatte der Löber getobt und geschrien und wollte sich auf den Weg zur Burg machen, um dort den Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Meister Mombert und Meister Michael trafen auf den tobenden Vater und versuchten, ihn zu beruhigen. Als dies nicht gelang, rannte Meister Michael in das Haus der Fuhrleute, wo die Ratsversammlung abgehalten werden sollte und bat die Freunde um Hilfe. Sie liefen los, um Mechthild und ihren Vater in das Heim von Agnes und Georg zu holen. Egbert schickten sie nach Hause, damit er seiner Mutter Bescheid geben konnte.
Meister Jonas war schon auf dem Weg ins Antoniushospital, um dort nach Bruder Jordan zu fragen und Meister Gerald lief los, um die alte Josepha zu herbeizuholen.
Agnes schickte Lena nach oben zu Griseldis, damit sie nicht sah, was mit ihrer Freundin passierte.
Das Mädchen bot einen Anblick des Grauens. Ihr Gesicht war rot und blau geschlagen, die Augen zugeschwollen, das Kleid zerrissen. Überall hatte sie Abschürfungen und Prellungen und aus ihrem Schoß waren Blut und der Samen eines Mannes gelaufen und verschmierten ihr Beine und Bauch.
Agnes war entsetzt. Was für ein Vieh konnte einem neunjährigen Mädchen so etwas antun? Es war verständlich, dass Meister Eckhard tobte und schrie. Die Männer hatten ihn in die Wohnstube gebracht, flößten ihm Bier ein und redeten ihm beruhigend zu.
Mechthild lag auf dem Küchentisch und bewegte sich unruhig. Agnes hatte bereits mit feuchten Tüchern angefangen, das Gesicht der Kleinen zu säubern. Ihre Nase war gebrochen und blutete weiter.
Endlich traf Bruder Jordan ein und bekreuzigte sich beim Anblick des Mädchens.
»Weiß man, was passiert ist?«
Agnes berichtete dem Priester, was sie wusste und ließ dabei kein Detail aus.
»Das ist nun schon der zweite Vorfall innerhalb eines Jahres. Wir müssen dem Treiben ein Ende bereiten.« Ungewöhnlich laut machte der Mönch seinen Gefühlen Luft.
Einige Zeit später war auch die Kräuterfrau angekommen. Sie war genauso entsetzt von dem Anblick der Kleinen und ließ sich darüber aufklären, wie es zu den Verletzungen gekommen war.
Die beiden Kräuterkundigen machten sich daran, das Mädchen vollständig zu entkleiden und zu waschen. Bruder Jordan flößte ihr Mohnsaft ein und richtete ihre Nase. Gott sei Dank war Mechthild bewusstlos, denn sie ließ all das über sich ergehen, ohne sich dagegen zu wehren. Ab und zu stöhnte sie vor Schmerzen, versank aber sogleich wieder in ein tiefes Koma. Zuletzt untersuchte Josepha den Schambereich des Mädchens.
Der Vergewaltiger hatte großen Schaden angerichtet. Der Unterleib war grün und blau geschlagen und die Scham derart geschwollen, dass man erst in einigen Tagen würde sagen können, ob die Wunden hier ohne Folgen verheilen würden. Sie rieb diesen Bereich besonders vorsichtig mit einer Heilsalbe ein, die einen beißenden Geruch in der Küche verbreitete.
»Sie sollte nicht so viel bewegt werden, damit die Verletzungen nicht wieder aufbrechen«, meinte Josepha, als sie die Arbeit beendet hatte.
Agnes überlegte kurz. »Wir sollten ihr in Lenas Kammer einen Strohsack zurechtlegen. Da kann sie zur Ruhe kommen. Ihre Eltern könnten verbreiten, dass sie Verwandte besucht. Bis die Prellungen verschwunden sind, gehen sicher einige Wochen ins Land. Bis dahin wird sie hier bleiben. Niemand muss erfahren, was ihr passiert ist.«
Bruder Jordan gab ihr Recht. »Ich werde mit Meister Eckhard reden.«
Als der Mönch die Küche verlassen hatte, goss Agnes sich und der Kräuterfrau einen großen Becher Bier ein. Jede der beiden Frauen setzte sich auf einen Schemel, den sie näher ans Herdfeuer herangezogen hatten, und tranken ihren Gerstensaft.
Meister Eckhard hatte sich ein wenig beruhigt. Er saß nun im Stall auf einer Kiste und war von den Ratsmitgliedern umringt, als Bruder Jordan aus dem Haus trat.
»Sie schläft jetzt. Man hat sie übel zugerichtet, aber ich denke, dass zumindest die äußerlichen Wunden nach einiger Zeit verheilt sind. Agnes hat vorgeschlagen, eure Tochter in ihrem Haushalt unterzubringen, bis sie … nun ja … wieder vorzeigbar ist. Ihr könntet den Nachbarn erzählen, dass sie bei Verwandten zu Besuch ist.«
Es dauerte eine Weile, bis sich der Löbermeister rührte. »Ich will den Kerl, der ihr das angetan hat, tot sehen. Er soll leiden, wie er sie hat leiden lassen. Ich will, dass man ihm sein Gemächt abschneidet und es ihn essen lässt. Ich will, dass er daran erstickt!«
Die letzten Worte hat er nur noch geflüstert, aber sie hatten die Wirkung auf jeden der Umstehenden nicht verfehlt.
Der dicke Georg war der Erste, der ihm antwortete.
»Du bringst dich in Teufels Küche, wenn du jemanden beschuldigst, ohne zu wissen, ob er der Schänder war. Man wird deiner Tochter nicht glauben. Sie ist eine Bürgerliche und solltest du gegen die Burgmannen vorgehen, wirst du es bitter bereuen. Falls wir keine Zeugen für die Tat finden, braucht der Mistkerl nur einen Eid zu schwören und niemand wird ihn richten.«
Meister Michael gab Georg Recht.
»Tritt unserem Rat bei, genau wie auch Meister Jonas. Gemeinsam sollten wir herausfinden, wer Mechthild geschändet hat und wir werden sie rächen.«
Bruder Jordan redete dem aufgewühlten Vater weiter zu. »Hört auf eure Freunde, sie haben Recht. Allein werdet ihr nichts ausrichten.«
In der nächsten Stunde sprachen die Freunde weiter abwechseln mit Meister Eckhard. Er konnte sich aber nicht dazu durchringen, an diesem Abend eine Entscheidung zu treffen.
Bruder Jordan war es schließlich, der den Löbermeister überzeugte, erst einmal nach Hause zu gehen, um auch seine Frau und seinen Sohn nicht länger im Unklaren zu lassen. Er begleitete ihn noch bis ins Gerberviertel, redete unterwegs weiter auf ihn ein und verabschiedete sich, bevor er zum Nachtgebet in die Blasienkirche ging.