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Kapitel 2 - Geschwister
ОглавлениеAls jemand am Morgen des Ostersonntages an die Tür hämmerte, sprang der dünne Georg erschrocken aus dem Bett. Wer mochte zu solch einer frühen Stunde den Frieden des Hauses stören? Agnes war gerade erst wieder eingeschlafen, nachdem sie den kleinen Konrad gestillt und in seine Wiege neben der Schlafstatt gelegt hatte.
Verschlafen öffnete er die Tür für Bruder Jordan und die alte Josepha, die ihren Umhang schützend um ein Bündel gezogen hatte, das sie auf dem Arm trug. Nach einem kurzen Gruß traten die Besucher in die Wohnkammer des Hauses. Bruder Jordan blickte sich suchend um. »Ist deine Frau zu sprechen?«
»Sie ist gerade wieder eingeschlafen, der Kleine hat die letzten Stunden geweint, nun schlafen beide.«
Der Mönch sah entschuldigend zu dem jungen Vater.
»Es tut mir wirklich leid, aber die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Bitte Agnes zu uns und auch deine Schwester und ihren Mann. Ich werde alles Weitere erklären, wenn sie bei uns sind.«
Nachdem der Fuhrmann seine Frau geweckt hatte, bat er wie gewünscht Griseldis und seinen Schwager zu dem Gespräch mit dem Geistlichen und der Kräuterfrau.
In der Zwischenzeit war die Morgendämmerung einem wunderschönen Sonnenaufgang gewichen. Mit verschlafenen Gesichtern, aber dennoch neugierig, versammelten sich die beiden Georgs und deren Frauen um den Holztisch in der Wohnkammer und schauten erwartungsvoll in Richtung des kleinen Mönches. Die Kräuterfrau stand still etwas hinter ihm.
Bruder Jordan richtete seinen Blick auf Agnes, die ihre schwarzen Haare geflochten, mit einer Haube bedeckt und sich in aller Eile ein einfaches Obergewand angezogen hatte.
»Dein Mann und dein Schwager haben dir gewiss schon erzählt, was sich auf ihrer Heimreise zugetragen hat?«
Als Agnes nickte, fuhr er fort. »Die junge Edelfreie hat ein Töchterchen geboren und die Geburt nicht überlebt. Das Mädchen braucht eine Amme. Da du vor zwei Tagen ebenfalls Mutter geworden bist, dachte ich, dass du den Säugling mit nähren könntest.«
Agnes blickte fragend zu ihrem Mann. Bevor Georg Einwände vorbringen konnte, erklärte der Mönch lächelnd: »Gut, dann ist das beschlossene Sache.«
Griseldis und der dicke Georg, die die Unterhaltung verfolgt hatten, schauten sich ratlos an, denn sie wussten immer noch nicht, warum Bruder Jordan sie hatte rufen lassen.
Der Geistliche bemerkte das Mienenspiel auf den Gesichtern der beiden und rief Josepha, die nach wie vor etwas abseits in der Ecke des Zimmers stand, zu sich. Er nahm ihr das Bündel ab und legte es Griseldis in den Arm.
»Ich habe sie auf den Namen Antonia getauft. Sie braucht ein gutes Zuhause. Wir wissen nicht, wer die Mutter war, sie hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Du und dein Mann, ihr seid herzensgute Menschen. Ich wüsste keinen besseren Ort, an dem die Kleine aufwachsen könnte.« Hastig, als hätte sie sich die Hände verbrannt, gab Griseldis dem Mönch den Säugling zurück und lief schluchzend aus dem Haus, während Bruder Jordan verblüfft hinter ihr herschaute.
»Sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind, aber es soll das Eigene sein. Es tut mir leid«, entschuldigte der dicke Georg das Verhalten seiner Frau und lief ihr nach.
Stille verbreitete sich in der Wohnkammer. Bruder Jordan und die alte Josepha tauschten wortlos Blicke aus. Ratlosigkeit stand in den Gesichtern der beiden. Agnes erhob sich und nahm dem Geistlichen das Bündel aus dem Arm.
»Sie wird hungrig sein.«
Die junge Frau ging nach nebenan in die Schlafkammer, in der der kleine Konrad friedlich in der Wiege schlief, und ließ ihren Mann mit den Besuchern in der Wohnkammer zurück.
Georg bewirtete die Gäste mit Dünnbier und Brot und setzte sich zu Ihnen an den Tisch. Gemeinsam und doch jeder für sich, überlegten sie, wie es nun mit dem kleinen Wesen weiter gehen würde. Die alte Josepha unterbrach das Schweigen, indem sie aufstand und zu Agnes in die Schlafkammer ging.
Die junge Mutter hatte gerade den Säugling gestillt, lief mit ihm durch den Raum und wiegte ihn in den Schlaf. Aus einem Impuls heraus legte sie das Mädchen neben den kleinen Konrad in die Wiege und blieb in Gedanken versunken daneben stehen.
»Vielleicht war es Schicksal, dass mein Mann und mein Schwager die Frau gefunden hatten. Womöglich war Gottes Plan, sie zu sich zu rufen und die kleine Antonia in unsere Familie zu bringen, damit die Leere, die ich seit dem Verlust meines ersten Kindes in mir fühle, ausgefüllt wird und ich nicht mehr traurig sein muss.«
Sichtlich erleichtert trat Josepha zu Agnes, legte ihr die runzlige Hand auf die Schulter und betrachtete gemeinsam mit ihr die beiden Säuglinge, die friedlich schlafend nebeneinander in der Wiege lagen.
»Wenn du Hilfe brauchst, dann lass nach mir schicken. Ich gebe Georg ein paar Kräuter, von denen er dir einen Tee kochen kann, das regt den Milchfluss an und hält ihn in Gang. Später komme ich noch einmal wieder und bringe mehr davon.«
Sie verließ die Schlafkammer und gab Georg das Säckchen mit den Kräutern. Dann machte sie sich auf den Weg in ihr Häuschen in der Vorstadt St. Georgii - nach Altmühlhausen.
Georg betrat, nachdem auch Bruder Jordan gegangen war, die Schlafkammer. Er fand seine Frau auf dem Bett sitzend, den liebevollen Blick auf die Babys in der Wiege gerichtet und völlig in Gedanken versunken vor. Sie bemerkte ihn erst, als er sich hinter sie auf die Bettstatt gesetzt, und seinen Kopf auf ihrer Schulter abgelegt hatte, während er sie mit den Armen umschloss. Sie saßen eine ganze Weile einfach so da und betrachteten die Säuglinge.
»Meinst Du wirklich, dass du das schaffst? Ich werde gerade in nächster Zeit viel auf Reisen sein und dir nicht helfen können.«
Das war es, was sie an ihrem Georg so liebte. Der zurückhaltende junge Mann hatte nach der Hochzeit seiner Schwester mit dem dicken Georg in deren Haus gelebt und sich als dessen Gehilfe im Fuhrgeschäft nützlich gemacht. Nach drei Jahren hatte der dicke Georg seinen Schwager im Stall zur Seite genommen, ihm einen Becher Bier in die Hand gedrückt und mit ihm auf ihre Partnerschaft angestoßen.
Der junge Mann hatte direkt neben dem Stall ihr jetziges Haus gebaut und nun endlich den Mut gefasst, Agnes um ihre Hand zu bitten. Sie konnte den Antrag nur annehmen, denn sie liebte den schüchternen Mann schon seit der ersten Begegnung auf dem Krautmarkt. Damals, als ein Gassenjunge sie im Vorbeilaufen angestoßen hatte, war ihr Korb auf den Boden gefallen und der ganze Inhalt war zwischen die Marktstände gerollt. Georg, der alles beobachtet hatte, lief ihr zur Hilfe.
Seit diesem Tag hatte er ihr den Hof gemacht und mit seiner ruhigen, geduldigen Art schnell ihr Herz gewonnen. Er war stets um sie besorgt und – anders als andere Männer – half er ihr, wo er nur konnte. Ohne ihn wäre sie damals in den schweren Stunden der vorzeitigen Niederkunft an ihrer tiefen Trauer gestorben. Sie konnte kaum noch essen und hatte ihr Krankenlager wochenlang nicht verlassen. Mit dem Tod des Kindes war auch in ihr etwas gestorben. Nur die sanfte, ruhige und feinfühlige Liebe ihres Mannes hatte sie diese schwere Zeit überstehen lassen.
»Sie macht unsere Familie vollständig. Es ist so, als hätte Gott gespürt, wie sehr wir dieses kleine Mädchen brauchen und wie sehr sie uns. Was meinst du?«
Mit einem hoffnungsvollen Schimmer in den Augen drehte sie sich zu Georg um und bat ihn stumm um sein Einverständnis.
»Wir werden eine Hilfe einstellen müssen«, beantwortete er damit die Frage.
Überglücklich umarmte Agnes ihren Mann und Tränen der Freude rannen über die Wangen. Seufzend strich Georg seiner Frau über das Haar und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.
»Schlaf noch ein wenig, du wirst all deine Kräfte brauchen. Ich werde Griseldis und Georg einen Besuch abstatten und fragen, wie es ihnen geht.«
Agnes legte das Oberkleid ab, warf einen letzten Blick auf die zwei Säuglinge und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen rasch ein.
Die beiden Georgs hatten ihre Schemel nah an das Herdfeuer in der Wohnkammer des älteren Fuhrmanns gerückt. Jeder hielt einen Becher Dünnbier in den Händen und trank in Abständen daran.
»Sie weint immer noch. Ich habe den ganzen Morgen versucht, sie zu trösten. Was hat sich der Mönch nur dabei gedacht? Wie soll ich Griseldis nur wieder beruhigen?«
Der dicke Georg stellte den Becher zur Seite und vergrub das Gesicht in den dicken, schwieligen Händen. Warum hatte er seiner Frau bisher kein eigenes Kind schenken können, sie liebten sich doch. Hatte Gott nicht Gefallen an fleißigen, liebevollen Menschen? Warum wurden sie dermaßen auf die Probe gestellt? Wofür wurden sie bestraft? Hastig bekreuzigte er sich und bat Gott im Stillen um Verzeihung für seine inneren Zweifel.
In der Zwischenzeit war es Mittag geworden. Den Lammbraten, ein Festmahl, das Griseldis am Vortag vorbereitet hatte, würde es wohl am Abend nach der Messe in Sankt Blasien geben. Eigentlich wohnten sie im Pfarrsprengel von Sankt Marien. Aber nachdem sein Schwager Agnes geheiratet hatte, die im Pfarrbezirk der Altstadt aufgewachsen war, besuchten sie die Messen in der Blasienkirche.
Als der dünne Georg aufstand, um sich zu verabschieden, wurde die Tür zur Schlafkammer geöffnet und Griseldis kam auf die beiden Männer zu. Sie hatte sich das verquollene Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen, ihr rotblondes langes Haar geflochten und unter einer Haube festgesteckt.
Ihr Gatte stand auf und nahm sie wortlos in die Arme. Als der dünne Georg sich räusperte und verlegen von einem Bein auf das andere trat, lösten sich die beiden aus der Umarmung und Griseldis lächelte matt.
»Kommt heute Abend nach der Messe zu uns, dann wollen wir das Ende der Fastenzeit feiern und uns den köstlichen Lammbraten schmecken lassen.«
Georg dankte höflich für die Einladung und wollte schon ablehnen, als Griseldis noch hinzufügte, dass sie die beiden Neugeborenen mitbringen sollten, sie gehörten schließlich zur Familie. Unendlich erleichtert nahm er die Einladung an und machte sich auf den Weg zurück zu seiner Frau und den Kindern.
Agnes schlief noch immer. Georg setzte sich leise auf die Truhe am Fußende des Bettes und betrachtete nachdenklich die beiden Säuglinge. Wie seltsam und verschlungen doch Gottes Wege sind. Vor fast einem Jahr fühlte er sich so grau und leer, als ob er im Leben nie wieder Freude empfinden könne. Und nun war er Vater von zwei Babys, ein überglücklicher Ehemann und ein erfolgreicher Fuhrmann. Die kleine Antonia war aufgewacht und schaute mit ihren großen blauen Augen in die Welt. Sie hatte das winzige Fäustchen in den Mund gesteckt und saugte innbrünstig daran.
»Du hast wohl schon wieder Hunger, du kleiner Nimmersatt?«
Zärtlich nahm Georg das Neugeborene aus der Wiege und wiegte es sanft in seinen Armen. Agnes war von den Schmatzgeräuschen geweckt worden und lächelte, als sie ihren Mann mit dem Säugling auf dem Arm beobachtete. Tief im Inneren spürte sie, dass alles gut werden würde. Sie nahm den kleinen Konrad, der auch gerade wach geworden war und anfing zu weinen, aus der Wiege und stillte ihn.
Als er satt und zufrieden wieder eingeschlummert war, legte sie Antonia an ihre Brust. Georg hatte währenddessen seinen Sohn auf dem Arm und konnte sein Glück immer noch nicht fassen.
»Griseldis hat den ersten Schreck überwunden und uns zum Abendmahl eingeladen. Wir sollen die Babys mitbringen. Meinst du, das ist eine gute Idee?«
»Sie wird sich früher oder später daran gewöhnen müssen, dass wir unsere Kinder zu Besuchen dabei haben werden.« Besser früher als später, dachte sie bei sich.
»Ich würde den beiden wirklich von Herzen wünschen, dass auch sie bald Eltern werden. Dann könnten unsere Kinder gemeinsam aufwachsen.«
Als Georg die Gedanken aussprach, lächelte seine Frau.
»Ja, stell dir vor, wie es später sein wird, wenn unsere Söhne das Geschäft einmal weiterführen. Aber bis es so weit ist, müssen diese beiden fürs Erste neue Windeltücher bekommen.«
Sie rümpfte die Nase und machte sich daran, zuerst der Kleinen und dann ihrem Sohn die Windeln zu wechseln.
»Vielleicht könnten wir die Tochter des Tuchmachers, Michis Schwester Lena, in unsere Dienste nehmen. Sie ist jetzt sieben Jahre alt, also alt genug, um arbeiten zu gehen.«
Georg nickte. »Ich werde gleich morgen nach der Frühmesse mit Meister Michael darüber sprechen. Das ist eine gute Idee.«
Nach der Abendmesse traten Georg und Agnes, jeder mit einem Säugling auf dem Arm, in die Wohnkammer, in der Griseldis schon den Tisch festlich gedeckt hatte. Auf dem Herdfeuer schmorte der Lammbraten und verbreitete einen köstlichen Duft. Das Aroma von frischgebackenem Brot mischte sich mit den anderen Gerüchen.
Griseldis rührte noch einmal mit dem Kochlöffel in der Bratensoße, dann wandte sie sich ihrem Besuch zu.
»Es tut mir wirklich leid wegen heute Morgen. Ich war nicht darauf vorbereitet und selbst wenn, ich möchte ein Kind in den Armen wiegen, das ich unter meinem Herzen getragen habe. Aber ich freue mich für euch beide und bin gern für euch da, wenn ihr mich braucht.«
Agnes platzierte den kleinen Konrad, den sie zum Aufstoßen an die Schulter gelegt hatte, in Griseldis Arm.
»Gut, du kannst gern schon mal damit anfangen, ich bin so unbeschreiblich müde. Da trifft es sich gut, dass du nur ein Haus weiter wohnst. Ich werde wahrscheinlich öfter auf dein Angebot zurückkommen, als dir lieb ist, Tante Griseldis.«
Tante Griseldis ... das klang ungewohnt – ungewohnt aber gut. Ja, auch wenn sie nicht bald selbst Mutter werden würde, so in jedem Fall doch die beste Tante der Stadt. Der dicke Georg, der die Szene beobachtet hatte, nahm seinem Schwager das Mädchen ab und meinte, dass Oheime genauso wichtig wären wie Basen.
Der dünne Georg war froh über die ungezwungene Atmosphäre. Er hatte dem Abend mit gemischten Gefühlen entgegen gesehen.
Die beiden Frauen brachten die Säuglinge nach nebenan, legten sie auf die Schlafstatt und deckten sie mit Wolldecken zu. Sie schlossen die Tür zur Schlafkammer nicht vollständig, bevor sie sich zum Essen an die festlich gedeckte Tafel setzten.
In der Mitte des Tisches stand eine Holzvase mit Osterglocken. Der dicke Georg schnitt Scheiben aus dem frischgebackenen noch warmen Brot, während Griseldis den Braten auftat.
Nach dem Abendessen tranken die vier jungen Leute den Rotwein, den der dicke Georg auf dem Eisenacher Markt erstanden hatte. Gemeinsam schmiedeten sie Pläne, welche Aufträge sie in der kommenden Zeit in welche Stadt führen würden
Als der kleine Konrad schreiend wach geworden war, ging Agnes seufzend nach nebenan, um ihren Sohn zu füttern. Nachdem Griseldis, deren Wangen von dem Wein eine rote Farbe angenommen hatten, den Tisch abgeräumt hatte, folgte sie ihrer Schwägerin in die Schlafkammer.
»Darf ich ihn noch einmal halten?«, fragte Griseldis, als Agnes den Jungen fertig gestillt hatte.
Erleichtert reichte die frischgebackene Mutter Griseldis den Säugling, denn auch Antonia war wach geworden und musste gefüttert werden.
»Am späten Nachmittag war die alte Josepha noch einmal bei mir und hat Kräuter für den Milchfluss dagelassen. Vielleicht solltest Du sie wirklich irgendwann aufsuchen.«
Griseldis überlegte schon seit Tagen, ob sie die Kräuterfrau um Hilfe bitten sollte. Einige der Nachbarn erzählten aber hinter vorgehaltener Hand, dass sie eine Hexe sei. Deshalb hatte sie den Weg zu der Alten bisher gescheut. Allerdings hatte sie Agnes schon während der Schwangerschaft beigestanden und sie selbst hatte nichts Ungewöhnliches beobachtet. Ja, sie würde die Kräuterfrau aufsuchen, denn sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Baby.
In zwei Tagen wollen ihr Mann und ihr Bruder Waren nach Salza auf den Markt bringen, dann würde sie in die Vorstadt, Sankt Georgii, gehen und die Alte um Hilfe bitten.
Bruder Jordan beendete gerade seine Gebete in der Blasienkirche und wollte sich auf den Weg zurück ins Antoniushospital machen, als Bruder Anselm auf ihn zutrat.
»Der Komtur hat sich nach der Edelfreien und dem Säugling erkundigt und wünscht einen Bericht von dir. Hast Du denn eine Amme für die Kleine gefunden?«
»Agnes, die Frau von Georg, dem Fuhrmann, hat vor zwei Tagen einen Jungen zu Welt gebracht. Sie wird die Amme und – so Gott will – auch die Mutter für das winzige Wesen. Die leibliche Mutter wird morgen beerdigt. Ihre Kleider habe ich in ein Bündel gepackt. Ich werde sie nach dem Begräbnis zu Agnes bringen, damit sie sie für die kleine Antonia aufbewahrt. So wird sie ein Andenken an ihre Mutter haben. In einer Innentasche des Mantels habe ich eine goldene Kette mit einem Medaillon gefunden, in das ein Pferd mit langem Schweif eingraviert ist. Ich habe die Kette mit dem Anhänger in ein Holzkästchen gelegt und zu den Kleidern getan. Agnes wird ihr die Sachen geben, wenn die Kleine alt genug ist, die dramatischen Umstände ihrer Geburt zu verstehen.«
Schweigend passierten die beiden Mönche die Pforte der Blasienkirche. Während Bruder Anselm auf dem Weg in die Küche des Antoniushospitals war, ging Bruder Jordan zu einem der Sariantbrüder des Ordenshauses gegenüber der Kirche, damit dieser ihn bei Rupert von Nordhausen, dem Komtur des Deutschen Ordens in der Altstadt, meldete.
Als der Mönch die Kammer des Ordensvorstehers betrat, blickte er sich verstohlen um. Noch nie zuvor war er zum Komtur gerufen worden.
Der Raum war gemütlich eingerichtet. In einem offenen Kamin in der Ecke brannte ein Feuer. Es erwärmte und beleuchtete die Kammer zugleich. Auf dem steinernen Boden lag ein riesiger Teppich und die weiß getünchte Lehmwand zierte ein mit Edelsteinen besetztes Schwert in seiner Scheide. Die Flammen des Feuers spiegelten sich in ihr wieder. An der gegenüberliegenden Wand hing ein großes Holzkreuz mit der Figur des gekreuzigten Gottessohnes. Darin eingraviert war der Schriftzug INRI zu lesen. Die schweren dunkelgrünen Samtvorhänge waren bereits zugezogen.
Es geschah selten, dass der Ordensvorsteher Besuch in seinen Gemächern empfing. Aber die Angelegenheit sollte in aller Vertrautheit besprochen werden und nicht vor den Ohren der Mitbrüder. Jordan trat vor das Kreuz, sprach ein kurzes Gebet und schaute dann fragend zu dem Komtur. Dieser, ein etwa fünfundvierzigjähriger kräftiger Mann mit schulterlangem dunklen Haar und ordentlich gestutztem ebenso schwarzen Vollbart, stellte seinen Pokal auf den Tisch und forderte den Mönch mit kalter Stimme auf, alle Einzelheiten der letzten beiden Tage mitzuteilen.
Als der Ordenspriester den Bericht beendet hatte, räusperte sich der Komtur.
»Ich werde Erkundigungen in den umliegenden Klöstern und Burgen einholen, ob in den letzten Wochen eine junge Edelfreie vermisst wurde. Vielleicht klärt sich diese leidige Angelegenheit doch noch zu aller Zufriedenheit auf. Bis dahin ist das Balg wohl in der Familie des Fuhrmannes gut aufgehoben. Ich möchte nicht, dass das Mädchen und ihre Verbindung zu unserem Orden zum Stadtgespräch werden. Ich vertraue also darauf, dass du, Bruder Anselm, die Kräuterhexe und auch die Fuhrleute Stillschweigen bewahren. Sollten irgendwelche Gerüchte verbreitet werden, dann, dass das Mädchen das Kind einer nahen Verwandten sei. Ich habe dem Burgvogt von den Umständen berichtet und er wird ebenfalls Erkundigungen einziehen.«
Bevor Bruder Jordan die Kammer des Komturs verließ, öffnete dieser einen kleinen Lederbeutel, den er an seinem Gürtel gebunden hatte, und reichte dem Mönch ein silbernes Geldstück.
»Gib das der Fuhrmannsfrau. Sie soll sich gut um das Balg kümmern, für den Fall, dass eine begüterte Familie darauf Anspruch erhebt.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ den Ordenspriester mit einer verblüfften Miene stehen. Der Komtur hatte ihm eine Silbermark gegeben. Das war mehr Geld, als eine Familie wie die des Fuhrmanns, in einem Vierteljahr verdienen konnte. Er beschloss, das Geldstück zusammen mit den Kleidern und der Kette der Edelfreien am kommenden Morgen nach der Frühmesse zu Georg und Agnes zu bringen.
Bruder Jordan folgte seinem Freund und Ordensbruder Anselm nach kurzem Abschiedsgruß in die Küche des Spitals, um noch einen Kanten Brot und verdünnten Wein zu sich zu nehmen. Er war froh, die Räume des Komturs verlassen zu können, da ihm das Verhör des Ordensritters starkes Unbehagen bereitet hatte. Wenn er nur daran dachte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
In dem Gewölbekeller des Antoniushospitals, in dem sich die Küche befand, herrschte trotz der späten Stunde reges Treiben. Ein Koch und einige Küchenhilfen waren dabei, das Mittagessen für den folgenden Tag vorzubereiten. Der Koch trat freundlich lächelnd auf den kleinen Mönch zu und fragte ihn, ob er vielleicht noch ein wenig Rosmarin zum Würzen des Lammbratens erübrigen könne.
»Natürlich kann ich das, ich habe das Kraut in meiner Kammer in einem Topf überwintert. Schicke eine der Küchenhilfen nach der Abendmahlzeit zu mir.«
Bruder Jordan setzte sich auf eine der Holzbänke neben Bruder Anselm und erzählte ihm von dem Zusammentreffen mit dem Komtur. Anselm runzelte die Stirn und stimmte seinem Freund zu, dass es hier sicherlich noch zu unschönen Verwicklungen kommen würde. Der Komtur war nicht für seine Mildtätigkeit bekannt, umso mehr wunderten sich die beiden Mönche über die Bezahlung für die Fuhrmannsfrau. Welche Intrigen mochte Rupert von Nordhausen wohl spinnen und damit eine ganze Familie ins Unglück stürzen?
Sie beschlossen, gemeinsam ein Auge auf die junge Familie zu haben und ganz besonders auf die kleine Antonia, fügte Bruder Jordan in Gedanken hinzu.
Am nächsten Vormittag traf der Mönch nach der Morgenmesse in der Sankt Blasienkirche auf den dünnen Georg und begleitete ihn noch ein Stück zurück zu seinem Haus. Das Bündel mit den Habseligkeiten der jungen Edelfreien hatte er im Hospital zurückgelassen. Georg hatte Bruder Jordan zum Mittagsmahl eingeladen und der Mönch hatte dankend angenommen.
»Ich werde nur schnell noch eine Kleinigkeit holen und komme in einer halben Stunde zu euch.«
Als Georg das Haus betrat, fand er seine Frau mit dem Kochlöffel in der Hand in einem Kessel rührend vor. Aus dem hochgesteckten, geflochtenen Zopf hatten sich mehrere Haarsträhnen gelöst. Ihre Wangen waren gerötet. Sie war so bildschön. Er liebte sie noch genauso wie bei ihrer ersten Begegnung, als sie auf dem Markt die Einkäufe vom Boden zusammengesammelt hatte. Georg wusste, wie viel Glück er hatte, dass er aus Liebe heiraten durfte. Nachdem seine Eltern bei einer Grippeepidemie, die fast in jeder Familie der Stadt wenigsten ein Todesopfer gefordert hatte, gestorben waren, hatte seine ältere Schwester Griseldis sich um ihn gekümmert. Sie hatte keine Einwände erhoben, als Georg um die Jüngste der Bäckerstöchter warb. Er trat auf seine Frau zu, nahm ihr den Löffel aus der Hand und erntete ein dankbares Lächeln. Erschöpft von der Hausarbeit und dem Versorgen der Neugeborenen setzte sie sich auf einen Schemel, den sie in die Nähe des Herdfeuers geschoben hatte.
»Die beiden schlafen jetzt, Konrad hatte noch eine ganze Weile Schluckauf. Die kleine Antonia hat sich satt getrunken und ist gleich wieder eingeschlafen. Was für ein liebes Kind. Seit sie bei uns ist, hat sie nicht einmal geweint. Und auch Konrad beruhigt sich viel schneller, wenn sie neben ihm liegt.«
Lächelnd betrachtete Georg seine Frau. Die von dunklen Ringen umschatteten Augen leuchteten, als sie liebevoll von den Kindern sprach. Ihre Wangen waren rosig und die losen Haarsträhnen umspielten ihr Gesicht. Auf dem Kleid hatten sich Milchflecken abgezeichnet.
»Ich habe Bruder Jordan zum Mittagsmahl eingeladen. Er sagte, er hätte etwas mit uns zu besprechen. Er wird in einer halben Stunde da sein. Wenn du dich noch ein wenig zurechtmachen möchtest, kann ich mich gern weiter um die Suppe kümmern.«
»Hat er angedeutet, was er will? Hat er irgendetwas über die Mutter in Erfahrung gebracht?«
»Nein, er hat nur gesagt, dass er etwas besprechen möchte. Wir werden es ja gleich hören.«
Beruhigend legte er die Hand auf Agnes Schulter. Sie lächelte noch einmal matt und ging nach nebenan in die Schlafkammer.
Georg deckte den Tisch und holte einen Krug Bier aus der Speisekammer. Als es klopfte, öffnete er Bruder Jordan die Tür. Inzwischen hatte Agnes ihr Haar gekämmt und mit einer Haube bedeckt, ein neues Obergewand angezogen und war in die Wohnkammer zurückgekehrt. Freundlich begrüßte sie den Ordenspriester und bot ihm einen Becher Dünnbier an.
Nachdem sie zu Mittag gegessen hatten, öffnete Bruder Jordan das Bündel, das er mitgebracht hatte. Zum Vorschein kamen ein kleines Holzkästchen, ein wunderschöner indigoblauer, mit Pelz verbrämter Umhang und ein noch schöneres moosgrünes Bliaut, das mit ockerfarbenen Einsätzen und seitlichen Schnüren in derselben Farbe verziert war.
Mit einem Zischen strömte die Luft aus Agnes Lunge. Sie hatte erst jetzt bemerkt, dass sie die ganze Zeit über den Atem angehalten hatte. Die junge Frau hatte noch niemals solch edle Stoffe berührt und wagte nun ebenfalls nicht, die Kleider anzufassen. Nachdem der Mönch nun die Kette mit dem Medaillon aus der Holzschachtel nahm und diese neben die Silbermark auf den Tisch legte, schüttelte Agnes den Kopf und konnte kein Wort hervorbringen. Selbst Georg hatte sich auf seinen Schemel gesetzt und war sprachlos.
»Die Kleider und die Kette waren alles, was die Mutter der kleinen Antonia bei sich trug. Vielleicht könnt ihr die Sachen für ihre Aussteuer aufbewahren. Das Geld schickt euch der Komtur. Er hat unmissverständlich klar gemacht, dass keine Gerüchte über das Mädchen, dessen leibliche Mutter und die Verbindung der beiden zu unserem Orden verbreitet werden dürfen. Ihr habt euch gut um Antonia kümmern. Sollten neugierige Nachbarn fragen, so denkt euch eine glaubwürdige Geschichte aus, wie ihr zu dem Kind gekommen seid. Ich werde wegen der Notlüge für euch beten. Wenn es euch recht ist, würde ich gern das eine über das andere Mal nach der Kleinen sehen, denn sie wärmt mein Herz«, fügte er mit fragendem Blick hinzu. »Natürlich. Ihr seid jederzeit in unserem Haus willkommen. Mit dem Mädchen habt ihr unser Glück vollkommen gemacht. Wir werden die Kleider und die Kette für Antonia aufbewahren. Aber das Geld werden wir nicht anrühren, denn sonst käme es mir so vor, als hätten wir unser Glück erkauft«, antwortete die für gewöhnlich so ruhige Agnes mit einem für sie ungewohnt barschen Unterton.
Georg nickte zur Bekräftigung dessen, was seine Frau dem Mönch gesagt hatte.
»Darf ich, bevor ich mich wieder auf den Weg mache, noch einmal nach dem Mädchen sehen?«
Agnes ging voran in die Schlafkammer. Bruder Jordan trat auf die Wiege zu. Der kleine Konrad schlief friedlich und Antonia war bereits wach geworden. Sie nuckelte an ihrem Fäustchen. Aus einem Impuls heraus nahm der Geistliche das Mädchen auf den Arm. Genau wie am Tag ihrer Geburt durchströmte ihn ein Gefühl von tiefer innerer Zufriedenheit.
Als hätte Konrad bemerkt, dass seine kleine Schwester nicht mehr mit in der Wiege lag, fing er an zu weinen. Schnell nahm Agnes ihren Sohn auf den Arm, um ihn zu beruhigen. Sie trug ihn zum Stillen nach nebenan in die Wohnkammer. Georg war leise neben Bruder Jordan getreten.
»Wir wären euch sehr dankbar, wenn ihr uns über die Erkundigungen und Pläne des Komturs unterrichten würdet. Ich habe ein ungutes Gefühl, was den Mann betrifft.«, flüsterte der junge Vater. »In den nächsten Wochen werde ich mit meinem Schwager viel unterwegs sein. Ich habe heute Morgen mit dem Tuchmacher Michael und seiner Frau Hannah gesprochen. Sie sind bereit, ihre Tochter Lena in unsere Dienste zu geben. Somit hätte Agnes Hilfe im Haushalt und mit den Kindern. Ich wäre euch aber sehr verbunden, wenn ihr ab und zu nach meiner Familie sehen könntet.«
»Nichts lieber als das«, antwortete der Geistliche aus vollem Herzen. Dabei strich er zärtlich über den dunklen Flaum auf Antonias Kopf. Sie war wieder eingeschlafen und zog niedliche Grimassen. Vorsichtig legte Bruder Jordan den Säugling zurück in die Wiege und verabschiedete sich von dem Fuhrmann und seiner Frau. Er wollte dafür sorgen, dass es der kleinen Antonia an nichts fehlte. Er war sich sicher, dass die Fuhrleute das Ihre dazutun würden, aber die Gefahr vermutete er von Seiten des Ordensritters.
Nachdem er das Haus verlassen hatte, beschloss er, in der Sankt Blasienkirche für die Zukunft der kleinen Familie zu beten.