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»Wann immer ich das Radio anschaltete, gab es nur gute Nachrichten: Die Proteste schwollen an, dann kamen die ganzen Rücktritte, die Pressefreiheit, das Versprechen freier Wahlen. Es war eine Zeit, in der alles zu glücken schien. Man musste sich nur etwas wünschen – und schon passierte es!«

THOMAS BRUSSIG

Die Zeit zwischen dem Herbst 1989 und dem Sommer 1990 war so intensiv, so prall gefüllt mit neuen Erfahrungen und unschuldigem Glück, dass ich davon träume, einen solchen Zustand immer wieder zu erleben. Mir tun die Holländer und die Schweizer leid: fünfhundert Jahre ohne Revolution! Nette kleine Gesellschaften, aber das Salz in der Suppe fehlt.

Das unschuldige Glück von 1989 fing für mich schon vor dem 9. November an. Am 7. Oktober, dem Nationalfeiertag, irrten Demonstrationen durchs Berliner Zentrum, zu einer Zeit, in der Protestler noch mit dem Schlimmsten rechnen mussten. Wir trafen uns an der Weltzeituhr und liefen zu Hunderten zum Palast der Republik, kehrten vor der Polizeikette um und liefen zum ADN-Gebäude, wo wir erneut die Richtung wechselten und zur Gethsemanekirche liefen. Unterwegs wurden wir immer mehr. Ein unvergesslicher Umzug. Wir protestierten alle das erste Mal und hüpften, ja fast schon tanzten wir, weil wir so erregt waren. Wir sahen uns an und lachten, weil wir plötzlich begriffen: He, wir sind frei! Wir haben keine Angst mehr, und wir zeigen allen, dass wir uns ab heute nichts mehr gefallen lassen.

Wir dachten, wir müssen irgendwas rufen, nur was? Wir schrien »Gorbi, Gorbi«, oder »Neues Forum, Neues Forum«, und weil mir danach war, rief ich »De-mo-kra-tie!«. Ich wusste genau, die anderen würden einstimmen. Als ich abends in den Radionachrichten hörte, die Demonstranten hätten auch »Demokratie!« gerufen, war ich selig. Nie zuvor hatte ich eine Meldung in den Nachrichten erzeugt.

Die Angst abzustreifen, plötzlich aus dem Angstpanzer zu treten, war etwas unglaublich Schönes. Das hat alle elektrisiert. Darauf folgte eine leuchtende Zeit, in der es, wann immer ich das Radio anschaltete, nur gute Nachrichten gab. Die Proteste schwollen an. Dann kamen die ganzen Rücktritte, die Pressefreiheit, das Versprechen freier Wahlen. Und alles ohne Gewalt. Eine Zeit, in der alles zu glücken schien. Man musste sich nur etwas wünschen – und schon passierte es. Der Fall der Mauer war da nur ein Moment unter vielen. Als ich dann am 10. November in West-Berlin stand, wurde mir klar, dass es niemals wieder so wird wie früher. Die dunkle und langweilige und unglückliche Zeit meines Lebens war vorbei.

Der November 1989 war im Prinzip perfekt. Wenn diese Revolution im Mai gewesen wäre, dann wäre das Glück nicht zum Aushalten gewesen.

Ich träume von einer Gesellschaft, die sich ständig neu infrage stellt und die Karten immer wieder neu mischt. In meinem Traum können wir uns noch einmal neu erfinden. Es gibt keinen Schreibkram und keine ausgelatschten Wege. Ich träume von einer Gesellschaft, die ihre Anliegen weder zerredet noch verschweigt, sondern anpackt. In der sich alle sicher sein können, dass das Beste, was sie geben können, auch gebraucht wird. Es regiert keine langweilige Tagesordnung, sondern die Lust am Aufbruch, am Wagnis, und der Geist der Gerechtigkeit und der Solidarität schwebt über allem. Gegen alle Arten von Ungerechtigkeit und Not bilden sich Instanzen, die Abhilfe schaffen.

Ich habe mich besonders in den Wochen vor dem Mauerfall der Politik völlig ausgesetzt gefühlt und zum ersten Mal an mir selbst erlebt, wie sehr persönliches Glück oder Unglück von politischen Verhältnissen abhängen kann. Ich habe begriffen, dass Freiheit bei aller Angst, die sie einem einjagt, etwas Unersetzliches und ganz Essenzielles ist. Andererseits wurde mir auch ziemlich schnell klar, dass eine freie Gesellschaft nicht automatisch freie Menschen hervorbringt. Für mich ist ein freier Mensch jemand, der die Kraft hat, seinen Impulsen zu folgen. Ein freier Mensch muss seine Freiheit immer wieder neu ergreifen. Viele von uns sehe ich als unfreie Menschen in einer freien Gesellschaft. Alles hinter sich lassen können – Besitz, Gemütlichkeit, Gewohnheit –, auch diese Vorstellung geistert durch meinen Traum.

Ich träume von einer Erregung und Wachheit, in der wir zu unglaublichen Lösungen und unglaublichen Fortschritten kommen, ohne dabei von einer Vision oder Utopie angetrieben zu sein, die wir glauben vollstrecken zu müssen. Wir handeln, ermächtigt von unserer Unzufriedenheit und Entschlossenheit. In meinem Traum wäre ich frei wie im Herbst 89 – doch ich wäre derjenige, der zur Gitarre greift und seine Wut herausschreit.

Schon wieder rede ich vom Herbst 89. Ich weiß, da war was – aber das Gefühl ist verweht, so wie ein Traum verweht. Dass ich mich heute kaum noch richtig empören kann, ist etwas ganz Merkwürdiges. Empörung scheint an ein Alter gekoppelt zu sein. Nennen Sie mir Vierzigjährige, die empört sind?! Die sind frustriert. Oder von gleichgültiger Coolness. Oder so zufrieden wie ich.

Mein Traum mag ein Traum sein, den auch ein Fünfzehnjähriger träumen kann. Aber in Sachen Empörung macht mir jeder dritte Fünfzehnjährige noch was vor. Es graut mir vor meiner eigenen allgemeinen Zufriedenheit. Zufriedene Menschen sind die, die es gelernt haben, sich mit dem Unabwendbaren zu arrangieren. Das ist kein tiefes Glück, sondern nur ein seichtes Glück. Ein zufriedenes und ein erfülltes Leben in einem gibt es nicht. Erfüllt leben heißt, das Leben in vollen Zügen auszukosten, was auch das Scheitern, die Ohnmacht, Schmerz, Trauer und die Verzweiflung beinhaltet. Dafür schlägt dann in seltenen Momenten auch das Glück mit voller Wucht zu. Vermutlich. Denn ich rede von etwas, wovon ich keine Ahnung habe.

Ich fange langsam an, Depressionen zu verstehen, ohne selbst welche zu haben. Die Langeweile am eigenen Leben. Das Versinken in einer Watte-Wohlstandswelt … Man hat alles und kann sich gegen alle Widrigkeiten abschirmen oder betäuben … Mein Traum ist ein ungeschütztes Leben, immer unterwegs, ohne garantierten Schutz vor Niederlagen, aber reich an unglaublichsten Wendungen. In meinem Traum lebe ich so wie die Gesellschaft, die mich umgibt. Irgendein großer Anarchist hat mal gesagt: »Alles muss in eine tobende Ordnung gebracht werden.«

Ich bin jedes Mal erleichtert, wenn sich Menschen für ihre eigenen Angelegenheiten verantwortlich fühlen. Insofern fand ich die Montagsdemonstrationen dieses Jahr erst mal ganz gut, weil Menschen da gezeigt haben, dass sie für ihre eigenen Belange noch das Maul aufmachen können. Aber wenn alle Welt übers Fernsehen schimpft – warum kommt niemand auf die Idee, die Fernsehstationen zu besetzen?

Warum spüren wir so wenig unsere Ketten? Wie, beispielsweise, konnte so etwas wie der Wecker in die Welt kommen? Eine von unzähligen absurden Erscheinungen, denen gegenüber wir viel zu dickfellig sind. Jeder hasst dieses Ding, und doch beruht unsere ganze Zivilisation auf dem Wecker. Angeblich müssen wir früh aufstehen. Aber was wir dem Wecker tatsächlich zu verdanken haben, ist, dass ein Großteil der Menschheit jeden Tag, den Gott werden lässt, mit einem Fluch beginnt. Da kann das doch nichts werden. Sie merken: Wenn ich von Freiheit rede, dann meine ich’s ernst.

In der Weltgeschichte hat kein politisches Ereignis so viel Glückseligkeit freigesetzt wie der Fall der Mauer: weder die Befreiung der Franzosen von den Nazis noch das Ende der Sklaverei noch die Befreiung des Iraks von Saddam Hussein.

Ich habe das Gefühl, dass ich von dieser Zeit 1989/90 wie von einem Bakterium infiziert bin. Noch schlummert es – aber es kann wieder ausbrechen! Wenn es mal wieder um eine bessere Welt geht und nach dem Unvorstellbaren gegriffen wird, ihr da draußen, dann könnt ihr mit mir rechnen.

28. OKTOBER 2004 AUFGEZEICHNET VON ANDREA THILO

FOTO VON WERNER AMANN

Der Schriftsteller THOMAS BRUSSIG, 1965 in Ost-Berlin geboren, arbeitete unter anderem als Möbelträger, Tellerwäscher, Museumspförtner und Hotelportier. Unter einem Pseudonym debütierte er 1991 mit dem Roman Wasserfarben, vier Jahre später erschien Helden wie wir. Sein dritter Roman, Am kürzeren Ende der Sonnenallee, wurde 1999 zum Bestseller und, in der Verfilmung von Leander Haußmann, zum erfolgreichsten deutschen Kinofilm des Jahres. Zusammen mit Edgar Reitz schrieb er das Drehbuch für Heimat 3 — Chronik einer Zeitenwende (2004).

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