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»Ich fliege langsam auf die Wesen zu. Sie haben mir ein wunderschönes Buch mitgebracht und sagen: Wir haben hier etwas, was wir dir zeigen wollen.«

MARIANNE FAITHFULL

Lange Zeit habe ich sehr exzessiv gelebt. Diesen ganzen Drogen-und-Sex-Hedonismus, der in der Musikszene damals alles war. Besonders nach meiner Trennung von Mick Jagger habe ich massenhaft gesoffen und Heroin gefixt, einige Zeit habe ich sogar auf der Straße gelebt. Das tust du nur, wenn du vollkommen fertig bist, mit Kreativität hatte das nichts mehr zu tun. Ich wollte nur meine Schmerzen und Ängste auslöschen. Am Ende stellte sich heraus, dass das keine gute Idee gewesen war, es machte alles nur noch schlimmer. Vielleicht hat mein Hang, mich selbst zu verletzen, mit meiner Herkunft zu tun, mein Urgroßonkel war Leopold von Sacher-Masoch. Was Masochismus bedeutet, habe ich schon in meinen Zwanzigern begriffen.

Heute bin ich zweiundfünfzig und brauche keine Exzesse mehr. Manchmal rauche ich einen Joint, trinke ein Glas Wein, das war’s. Ich habe eine Menge meiner Träume vergessen, aber die, die wichtig für mein Leben sind, habe ich im Gedächtnis behalten. Mein Traumleben ist sehr intensiv, ich habe sehr starke, lebendige Träume, die eng mit meinem Leben verbunden sind. Für mich sind sie nur eine andere Dimension meiner Realität – etwas, das zur gleichen Zeit an einem anderen Ort stattfindet.

Vor ungefähr zwölf Jahren hatte ich einen Traum, der mir vielleicht das Leben gerettet hat. Das war, als ich anfing, clean zu werden, als ich nach all den Drogenexzessen vom Heroin runterkam. Damals hatte ich fürchterliche Angst, war total verunsichert. Ich hatte immer schon Angst gehabt, nicht mehr in der Lage zu sein, ein Lied zu schreiben. Es war meine größte Furcht, in dieser Welt aus Genie, Sex und Hipness nicht bestehen zu können. Doch nach dem Entzug war es besonders schlimm. Ich wusste nicht, ob ich je wieder etwas zustande bringen würde. Eigentlich sind solche Angstzustände ziemlich normal, wenn du mit Alkohol und Drogen aufhörst. Trotzdem hat mich das damals sehr erschreckt.

Dann hatte ich diesen Traum, den ich auch heute noch häufig träume. Da sind diese Wesen, ich weiß nicht, was sie sind, irgendwie erinnern sie mich an Engel. Sie wirken weise und strahlen Größe aus, wunderbare Geschöpfe. Sie sind in einem Garten, der aussieht wie ein Gemälde von Raffael, einem sehr geschmackvollen Ort, aber unwirklich. Meine Träume sind räumlich sehr verschieden von der Realität – sie sehen aus, als spielten sie nicht in dieser Welt. Eher wie im Inneren eines Gemäldes. Räume haben darin völlig andere Dimensionen, und die Farben sind anders.

Ich fliege langsam auf die Wesen zu. In meinen Träumen fliege ich meistens, spüre den Wind an mir vorüberrauschen. Ich sehe die Dinge näherkommen, immer schneller. Alles verändert sich, die Dimension, die Sichtweise. Alles sieht völlig anders aus – es ist das komplette Gegenteil von dem, was wir normalerweise empfinden. Wir sind viel freier in unseren Träumen.

Diese Wesen haben ein Buch mitgebracht. Ein wunderschönes Buch, mit prachtvollem Einband und geschwungener Schrift. Sie sagen zu mir: »Wir haben hier etwas, was wir dir zeigen wollen.« Das Buch ist so unfassbar schön, ich kann es nicht beschreiben. Ich schlage es auf und erkenne, dass darin all jene Songs aufgeschrieben sind, die ich noch nicht geschrieben habe und noch schreiben werde in meinem Leben. Dann verschwinden die Wesen.

Das wirklich Erstaunliche ist, dass ich das Buch so klar sehe. Damals, vor zwölf Jahren, wollte ich unbedingt die Songs erkennen, die Texte, die Titel, aber das war nicht möglich. Als ich wach wurde, fiel mir ein, dass das gar nicht nötig war. Einzig die Tatsache, dass dieses Buch so viele Songs enthielt und ich sie noch schreiben würde, war genug. Danach war ich meine Angst los.

Dieser Traum war ein Geschenk. Ich war an einem Wendepunkt in meinem Leben, war mir meiner Ängste und Unsicherheiten nicht wirklich bewusst gewesen. Ich glaube, wenn ich damals nicht mehr in der Lage gewesen wäre, zu schreiben, hätte es für mich keinen Grund gegeben, clean zu bleiben. Der Traum hat mein Leben wieder lebenswert gemacht. Das ist jetzt zwölf Jahre her. Und das Buch war verdammt dick. Ich habe also auch heute noch keinen Grund, mir Sorgen zu machen.

Ich glaube, ein Traum ist eine Art Embryo, der Anfang einer Idee. Er löst etwas aus. Meine Träume tun das oft. Wenn ich will, kann ich, nachdem ich aufgewacht bin, an den Punkt zurückgehen, an dem ich den Traum verlassen habe. Und ihn weiterspinnen. Ich kann auch zurückgehen in frühere Träume. Auch in den Buchtraum begebe ich mich häufig. Ich träume ihn immer, wenn ich ihn brauche.

Ich besuche auch meine Mutter sehr oft im Traum. Als sie starb, war ich nicht da und konnte mich nicht verabschieden. In meinen Träumen lebt sie, dort kann ich sie treffen, wann ich will.

Eine Freundin hat für eines meiner früheren Alben einen Titel geschrieben, der »Bored By Dreams« heißt. Sie nahm damals Tranquilizer, Beruhigungsmittel, und sie erzählte mir, das Schlimmste daran sei, dass ihre eigenen Träume sie langweilten. Das waren wohl Nebenwirkungen dieser Medikamente. Eine schreckliche Vorstellung.

15. JULI 1999

AUFGEZEICHNET VON JÖRG BÖCKEM

FOTO VON JIM RAKETE/PHOTOSELECTION

MARIANNE FAITHFULL, geboren 1946, landete als Siebzehnjährige 1964 mit dem von Mick Jagger und Keith Richards geschrieben Song As Tears Go By einen Hit. Damit begann die Karriere der Sängerin und Songwriterin, die aber zunächst vor allem als Partnerin von Mick Jagger Berühmtheit erlangte. Mit Broken English gelang ihr ein Comeback als Sängerin, in dessen Folge sie sich auch als Theater- und Filmschauspielerin einen Namen machte. 2011 erschien ihre CD Horses And High Heels.

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