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»Auch an der Ammersee-Beach wartet man auf Ereignisse. Doch es macht nichts, wenn keines eintritt. Nichts ist schöner als Nichtstun. Schon allein, weil es das Klima schont. Weißbier statt Kerosin!«

THILO BODE

Einer von diesen Spätsommertagen muss es sein. Silbrig kräuselt sich der See, am Horizont verschwimmt das Alpenpanorama im Dunst. Das Licht ist weißlich, sodass man die Augen immer ein wenig zusammenkneift. Heiß wird es werden, aber nicht zu sehr. Es wird vielleicht ein wenig schwül sein, aber garantiert kommt kein Gewitter. Im Spätsommer am Ammersee herrscht das wunderbare Gefühl absoluter Stabilität. Man kann ganz sicher sein. Man weiß genau, dass das Nirwana eintreten wird. Das Herrschinger Gefühl.

Von diesem Zustand unendlicher Glückseligkeit träume ich jeden Tag, und erst recht, seit ich in Amsterdam arbeite. Ich mag die Stadt sehr, nur ihren Sommer verstehe ich nicht. Es regnet, es nieselt immerzu, es ist so oft so grau. Ein Glück, dass die Selbsterhaltungsmechanismen des menschlichen Geistes unermesslich sind. So fahre ich morgens, wenn ich mal wieder tropfnass durch die Kajsersgracht ins Büro radle, im Tagtraum an den Herrschinger Strand. Genauer gesagt: an »die Beach«.

Eine frische Ammerseerenke habe ich schon im Gepäck. Eine große muss es sein, und vom Fischer Schlamp natürlich, denn der räuchert besonders würzig. Dann hole ich mir am Kiosk zwei Flaschen Weißbier. Ganz nah am Wasser breite ich mein Handtuch aus, lege mich lang hin und döse, träume, schaue.

Das Kräuseln des Wassers. Der ferne Dunst. Die Sonne. Die Renke. Das Weißbier. Das sind die Essentials. Dann gehören definitiv die Kieselsteine zum Herrschinger Gefühl. An der Beach liegt man auf schönen, weißen Steinen, nicht wie an der Nordsee auf schmuddeligem Sand, den man sich abends ewig aus den Schuhen hauen muss. Die weißen, bayerischen Kiesel haben etwas Perfektes. Ob sie wehtun oder ob sie durch Massage glücklich machen, darüber gibt es Glaubenskriege. Ich gehöre zu denen, die das sanfte Reiben im Rücken lieben und den kleinen Widerstand unter den Fußsohlen beim Hineinwaten in den See. Aus den Kieselsteinen baue ich mir auch einen kleinen Hafen für das Weißbier. Die zwei Flaschen bleiben im Gebirgswasser schön kühl.

Ich weiß nicht, ob es Denken ist, was mir auf dem Handtuch an der Beach durch den Kopf geht. Zusammenhanglos tauchen die nicht bezahlte Stromrechnung und Fetzen aus Beziehungsgesprächen auf oder die Tour mit der Rainbow Warrier durchs chinesische Meer. Doch viel stärker, viel intensiver sind die Botschaften der Sinne. Die Renke riecht nach Geräuchertem. Die Boote riechen nach abgeblättertem Lack. Das Wasser riecht nach einer Mischung aus Niveaöl und feuchtem Holzsteg. Die blitzweißen Segel. Der blaue, leicht schlierige Himmel. Die Wespe. Die Möwenscheiße auf den Kieseln – all diese Gerüche und Bilder schmettern die Gedankenangriffe aus den anderen Weiten ab.

Und natürlich das Weißbier. Weißbier mit Sonne ist besser als ohne. In ganz kurzer Zeit hat man so eine selige Grundbetäubung erreicht. Bis man schließlich in den Suri kommt. Das ist das bayerische Wort für Nirwana. Ein milder, harmloser Rausch, absolut umweltverträglich. Denn natürlich trinke ich Andechser Bier aus regionaler Produktion.

Mittlerweile bekennen sich ja alle Parteien zum Autowahn, beschwören den Geschwindigkeitsmythos, träumen von Freiheit und Abenteuer durch Mobilität. Ich hingegen träume vom Stillstand. Mein Traum ist die totale Aufmerksamkeit für das Gegenwärtige und die Gegenwart. Gut, auch an der Herrschinger Beach wartet man auf Ereignisse. Aber es macht gar nichts, wenn keines eintritt. Es gibt ohnehin nichts Schöneres als Nichtstun. Es reicht, wenn man den ganzen Tag bloß döst, träumt und schaut. Bis man gegen Mittag seine Renke und dazu das zweite Weißbier verzehrt. Beinahe hätte ich die Brez’n vergessen. Auch ein Essential. Eine richtige knusprige Butterbrez’n natürlich, nicht so eine labbrige, viel zu schnell gebackene Bahnhofs-Schande aus dem künstlichen Gebläse. Die erste Brez’n isst man gleich morgens, die zweite zur Renke. Am schönsten ist es, die von Butter und Räucherfisch fettigen Finger am Bauch und am Oberschenkel abzuwischen. Dann steht man auf und trägt das Einwickelpapier zum Papierkorb. Auf dem Weg dorthin reift ein Gedanke: »Ich will noch eine Halbe.« Also macht man am Kieselstein-Weißbierhafen wieder eine auf. Und legt sich wieder hin. Und döst, träumt und schaut.

Gegen Mittag gehe ich ins Wasser. Auch im Spätsommer prickelt es noch ziemlich frisch auf der Haut. Ich schwimme in langen Zügen zur Boje hinaus. Dort lasse ich mich von den Wellen wiegen und verliere mich in der Zeit.

Mit dem See bin ich schon groß geworden. Damals war die Boje nur viel größer, wenn wir beim Schwimmen darauf herumkletterten und versuchten, das Gleichgewicht zu halten. In den fünfziger Jahren schickten sie uns jeden Tag im Bademantel und mit einem Stück Seife ans Ufer, um zu Hause Wasser zu sparen. Im Zeitalter des Massentourismus ist das Umweltverschmutzung. Aber im Bademantel gehe ich immer noch an den Strand. Denn das habe ich immer so gemacht.

Wir waren den ganzen Tag im Wasser. Wir zitterten, weil wir gar nicht merkten, ob wir drinnen waren oder draußen. Wir waren total eins mit dem See. Was in der Kindheit ganz normal war, Teil des Lebens, das genieße ich jetzt höchstens noch manchmal in den Sommerferien. Aber dann jede einzelne Sekunde. Und ich zähle die Tage. Noch fünf, vier, drei – nein, das soll nie aufhören. Zeit, bitte nicht mehr vergehen!

Am späten Nachmittag kommen die Herrschinger direkt aus der Arbeit an die Beach. Dann ziehe ich um vom Kieselstrand aufs »Brett«. Das ist ein drei mal drei Meter großer Badesteg. Ganz privat, mit privilegiertem Zugang, den der Voglsamer Seppi nach undurchsichtigen Zulassungskriterien gewährt. Ich habe, wie die anderen alten Freunde, das Privileg einer ewigen Freikarte. Auf dem Brett sind wir eine verschworene, klassenlose Gesellschaft. Wir liegen auf dem sonnenwarmen Holz, schweigen, träumen, dösen und schauen gemeinsam.

Es gibt eine Menge zu sehen, aber am liebsten schauen wir mittlerweile Graumelierten natürlich die Bikinischönheiten an. In meinem Amsterdamer Tagtraum sehe immer wieder diese unglaubliche Badeschönheit. Sie hatte das, was man in Bayern einen Atombusen nennt, und als sie zum ersten Mal auftauchte, haben nur wenige nicht hingeguckt. Eines Tages kam sie in einem sehr weit ausgeschnittenen schwarzen Badeanzug an den Strand und hatte bis hoch oben an der Schulter den Arm eingegipst. Geht ins Wasser, schwimmt einarmig los, und aus dem Wasser ragt senkrecht der Gips. Da haben dann alle anderen auch geguckt. Das sind so die besonderen Highlights an der Beach.

Manchmal sagt auch einer was auf dem Brettchen. Zum Beispiel: »Heit is aber bsonders schee.« Man diskutiert, ob die Renke vom Schlamp besser ist als die milde vom Fischer Stumbaum. Oder einer fragt:

»Geh, Thilo, bist immer noch in Amsterdam?«

»Ja, bin ich.«

»Aha.«

Dann ist es wieder ruhig. Die Greenpeace-Debatten mit den Wirtschaftsvertretern in Davos sind in solchen Momenten ganz weit weg.

Etwa nach drei Wochen täglichem Nirwana kommt die Zeit, wo man eine Aufgabe braucht. Gern übt man dann ein wenig zivilen Ungehorsam. In einem Jahr beispielsweise gab es mehrere Vorfälle mit Hunden. Ich nahm mir also das Projekt vor: Schluss mit der Kackerei auf dem Strand! Als sich der erste Hundebesitzer nicht einsichtig zeigte, rief ich die Polizei an. Das gab es noch nie in der Geschichte der Herrschinger Beach. Nach dem Aufruhr musste man sich dann erst wieder bei einer Flasche Weißbier entspannen.

Das Kräuseln des Wassers. Der ferne Dunst. Die Sonne. Die Renke. Das Weißbier. Der Duft nach nassem Holz, die vom Seewasser geglättete und allmählich dunkler werdende Haut.

Aus allen Eindrücken und Erlebnissen, die man im Leben gesammelt hat, gibt es ein Gefühl, das alles vereinigt und das stärker ist als alle anderen. Für mich ist es das Herrschinger Gefühl. Das ist einzigartig, niemals kann man anderswo, sagen wir am Steinhuder Meer, so empfinden. Das dachte ich, bis ich eines Tages an der Beach ein sehr unglückliches Ehepaar traf: »Wir sehnen uns so nach der Duisburger Seenplatte!« Mit Heimat wird das alles also schon was zu tun haben. Und das ist auch gut so, denn sonst kämen ja bald alle an den Ammersee.

Sich nicht mehr vom Fleck bewegen, gar nichts machen, einfach nur sein: Dieser Traum geht nicht nur in Herrsching in Erfüllung. Und der Traum hat Zukunft. »Nichtstun ist die ökologisch verträglichste Form des Daseins«, hat schließlich auch der weltweit renommierte Klimaforscher Hartmut Graßl gesagt, als man ihn fragte, was jeder Einzelne gegen die Verseuchung der Erdatmosphäre tun kann. Nichtstun ist garantiert emissionsfrei. Also: Weißbier statt Kerosin!

15. JUNI 2000

AUFGEZEICHNET VON CHRISTIANE GREFE

FOTO VON FRANZ JANSEN

* RENKEN, Felchen, Coregonus, Gatt. der Lachsähnlichen, wirtschaftl. bedeutende, engmäul. schlanke Lachsfische v. a. in Seen und Flüssen im mittleren u. nördl. Eurasien u. in Amerika. Hierzu der 20 cm lange sibir. Tugun …, die bis 45 cm lange Maräne mit schräg nach oben gericheteter Mundspalte …, der bis 40 cm lange Nordseeschnäpel …

Aus: Herder Lexikon der Biologie

THILO BODE, geboren 1947, war fünf Jahre lang Greenpeace-Geschäftsführer in Deutschland und leitete von 1995 bis 2001 das Internationale Büro der Umweltschutzorganisation in Amsterdam. 2002 gründete er die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch.

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