Читать книгу Traumafolge(störung) DISsoziation - Zora Kauz - Страница 9
1.3 Okay. – Und jetzt?
ОглавлениеWir sind uns selbst das fremdeste Wesen, welches ich mir nur vorstellen konnte/kann. Ganz einfach, weil ich mir über „das Selbst“ nicht im Geringsten bewusst sein konnte und das, was jetzt stückchenweise ins Bewusstsein tröpfelt, alles andere als einfach annehmbar, bekannt oder vertraut ist. Der Körper gehört(e) nicht zu uns. Aber alles ist fremd, wenn wir uns selbst nicht kennen, weil wir dann gar nicht wissen, was uns eigentlich bekannt ist. Manche Art der Musterbildung und Koppelungen ist von Persönlichkeitssystemen auf äußere Systeme übertragbar, so wie manche Netzwerkeigenschaften des Gehirns auf soziale Netzwerke übertragbar sind: Wenn wir unsere eigene Unsicherheit annehmen können, unsere (zumindest großen, stark beeinflussenden) Themen kennen, dann können wir dem Unwissen mit Zutrauen begegnen. Dann können wir uns dem, was möglich ist, zutrauen, weil wir wissen, dass Handlungsspielräume unmöglich vor ihrer Entfaltung und Entdeckung zu bemessen sind. Nur wenn wir uns selbst als subjektives, mit Würde geborenes Wesen anerkennen (das ist ein ganz sachlicher Fakt), dann können wir anderen auch so begegnen.
Wenn wir uns im Mitgefühl üben, dann geht uns alles Leid etwas an, dann gibt es kein Leben, welches weniger wert ist als ein anderes. Dann müssen wir nicht kategorisieren und uns gegenseitig Etiketten aufdrucken, weil wir einfach zusammenlebende Wesen sein können. Und wenn du dich als Mensch siehst (wir müssen das noch üben, aber die Intention ist da), dann werden Fremde auf einmal auch nur noch Menschen. Auch nur welche mit einem Hirnstamm und Krone außen herum. Auch nur welche, die Grundbedürfnisse haben und sich, als Rudeltiere, nach Gemeinschaft in irgendeiner Art und Weise sehnen. Wenn wir Integration zulassen und unterstützen, dann bemerken wir, dass die Todesgrenzen und nicht „die Fremden“ das Problem sind. Wenn wir respektvolle Toleranz und würdevolles Begegnen wirklich ernst nehmen, wird deutlich, dass die Abspaltung und der auf konditionierte oder vorgegebene Haltungen basierende Hass das Problem ist, nicht die Existenz von Unterschieden. Wenn es um Leben und Tod geht und weder Kampf noch Flucht möglich ist, sind wir alle nur primitive knochenlose Fische ohne irgendeinen schützenden Sonderstatus. Ja, mit ein bisschen limbischem System und Cortex außen herum, aber die sind in dem Moment zweitrangig.
Konkrete Zusammenhänge und Mechanismen bzw. die genauen molekularen Wege der Epigenetik und deren Einfluss auf psychische Krankheiten sind noch nicht ausreichend belegt, da die Krankheiten zu komplex und die Forschung in diesem Bereich zu jung ist, jedoch gibt es im Kleinen Fortschritte und Erkenntnisse, auch wenn noch viele Unsicherheiten, Fragezeichen und Streitpunkte, auch das Folgende betreffend, bestehen.
Frühe und heftige Umwelteinflüsse können zu epigenetischen Veränderungen führen, unsere Stressreaktionen werden geprägt. Grenzverletzungen in der Kindheit können ein Gen hemmen, seine Aktivität herabsetzen, das für die Produktion eines Faktors verantwortlich ist, welcher hilft, Cortisol zu neutralisieren. Umgekehrt bedeutet dies, dass genetische Dispositionen kein unumkehrbares Schicksal sind, weil die Gene für psychische Erkrankungen, mal sehr gewichtig, mal weniger, jedoch immer nur ein Faktor sind. So sind im Gegensatz zur Erbinformation selbst deren epigenetische Prozesse, dadurch Aktivierung bzw. Ablesbarkeit mit Dynamik verbunden, also beeinfluss- und veränderbar. Wohl ist eine Gravur der Epigenome nie wieder so gut/leicht zu setzten wie während der Schwangerschaft, in den ersten drei Lebensjahren und teilweise auch noch mal im Umbaualter der Pubertät, trotzdem ist unser Organismus nicht statisch, da ist immer Bewegung, Lernen, Regeneration, Evolution. Doch auch wenn vieles davon immer und ganz ohne unser Wissen stattfindet, ist große Bewegung, entfaltende Entwicklung, horizontweitendes Lernen und heilsame Flexibilität nichts, was einfach so von allein passiert. Das mag uns (emotional) sehr fern scheinen, doch ist es für uns – und hoffentlich für viele – auch hoffnungsvoll, denn es bedeutet, dass vieles möglich ist. Es bedeutet, dass wir, wohl nicht grenzenlos und einiges betreffend bestimmten, schwer einschränkenden Erfahrungen leider unterlegen, aber in vielen Bereichen mehr Möglichkeiten zur Entwicklung haben, als wir vielleicht glauben können. Manche Gegebenheiten, primär früh und oder heftig prägende Erfahrungen, setzten hier eben leider Grenzen, weil frühe, tiefe Spuren nicht zu löschen sind. Immer schwieriger wird es bei chronischen und gezielt gesetzten Prägungen, aber was innerhalb der Grenzen möglich ist, ist meist mehr, als wir es wagen würden, uns vorzustellen. Und wenn wir uns trauen (wollen/können), diese Grenzen kennenzulernen, dann können wir auch unseren Möglichkeitsraum entdecken und uns in darin ein Leben wachsen lassen. Wir brauchen Menschen, die uns ermutigen (nicht überreden!), neue Erfahrungen zu machen, und uns offen einladen, Begeisterung und Interesse zu entwickeln, denn dann können neuroplastische Botenstoffe für eine nachhaltigere Koppelung und dadurch Verinnerlichung des Neu-gelernten sorgen. Ich glaube, dass bei den meisten psychischen und oder auch neurologischen Krankheiten, ebenso wie bei Ausgrenzung, Diskriminierung und anderer Gewalt, das Wissen um Neurodiversität und -plastizität sehr hilfreich ist, um sich davon wegbewegen oder andere Lösungen finden zu können. Sich dessen gewahr zu sein, dass andere anders wahrnehmen und anders von der Umwelt beeinflusst werden, hilft manchmal, Unverständnis und impulsive Abwertung zu hinterfragen oder ganz ruhen zu lassen. Bei psychischen Krankheiten kommt es zu Störungen bestimmter Kommunikationssysteme und oft auch dadurch zu einer Hemmung der Neuroplastizität, bzw. ist es so, dass funktionelle Verbindungen weniger oder instabiler modulübergreifend vernetzt sind, natürlich in verschiedenen Bereichen bzw. verschiedene Kommunikationswege schwerer oder geringer betreffend. Das Wachstum neuer Nervenzellen, das im Gehirn ständig passiert, sowie das Entstehen neuer Synapsen und eine Veränderung der Myelin-Beschleunigungs-Isolierung sind neuronale Regeneration. Und damit auch psychobiologisch heilsam, weil z. B. neue Wege der Stressbewältigung erlernt/angewandt, schneller (auch langfristig adaptive) Lösungen gefunden und Zufriedenheit und Aufmerksamkeit gesteigert werden können. Ferner ist unser Neurotransmitter-Haushalt mehr im Gleichgewicht, wodurch wiederum die Hemmungen der Plastizität sinken. Wenn wir das wirklich wollen und es eben innerhalb unserer Möglichkeits-Grenzen liegt, können wir die Plastizität unseres Gehirns aktiv nutzen, um festgefahrenen Muster verändern (oder schädigend konditionierte zumindest hemmen) und – im Rahmen mancher Gegebenheiten – Krankheiten1 mildern oder heilen zu können. Alles, was neuronale Plastizität stimuliert, macht flexibel, ist heilsam.
1 Gemeint ist bspw. die akute PTBS-Symptomatik oder eine Komorbidität bzw. Erkrankungen im Allgemeinen, nicht Traumatisierungen und unsere dissoziative Identitätsstruktur als solche.