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ОглавлениеLampenfieber
von Ursula März
Wodka gilt als hochprozentige Spirituose, mit der sich Osteuropäer ohne Maß und Verstand in die Besinnungslosigkeit saufen. Dieses Image ist grundfalsch. Wer je Gast einer russischen Hochzeitsgesellschaft war, konnte erleben, dass es sich bei den Alkoholleichen, die bei Sonnenaufgang unter den Tischen liegen, durchweg um Nichtosteuropäer handelt, die sämtliche Regeln ignorieren, die sinnvolles Wodkatrinken erfordert.
Regel Nummer eins: niemals Wodka mit anderen alkoholischen Getränken mischen, auch nicht mit Bier. Regel Nummer zwei: sehr viel Wasser zum Wodka trinken. Pro Wodkaglas mindestens einen halben Liter. Regel Nummer drei: zum Wodka etwas Fettes essen. Ein dick mit Schinkenspeck belegtes Brot bietet sich an.
Es braucht also, um dem Wodka gerecht zu werden, eine gewisse Disziplin. Auch Konzentration und Willensstärke sind gefragt. Allesamt Tugenden, von denen man normalerweise annimmt, dass sie im Alkoholgenuss verdampfen. Tun sie natürlich auch bei Wodka, wenn er umfangreich konsumiert wird. Aber: Ein kräftiger Schluck bringt die genannten Tugenden schlagartig in Form. Und deshalb wirkt dieser Schluck – wie gesagt: ein Schluck – in ebenjener mentalen Krisenlage Wunder, die sich Lampenfieber nennt.
Das schließlich kann sich keineswegs nur vor öffentlichen Auftritten einstellen, sondern auch vor Heiratsanträgen, Gehaltsverhandlungen mit dem Arbeitgeber, Terminen beim Finanzamt oder Besuchen in Nachtbars, die einen üblen Ruf genießen, die man aber doch gern mal gesehen hätte. Also immer dann, wenn das Ego schwächelt, die Gedanken konfus und die Bewegungen fahrig werden, weil Furchteinflößendes bevorsteht. Allein das Regelwerk (siehe zuvor), das bei Wodka zu beachten ist, strafft den Charakter und fokussiert das Gemüt. Wer sich daran hält, muss Betrunkenheit nicht fürchten. Auch nicht morgens um neun Uhr. Ein Pfefferminzbonbon im Anschluss wäre trotzdem empfehlenswert.
Im Übrigen besteht das Leben, je länger man darüber nachdenkt, aus einer einzigen Abfolge von Lampenfiebersituationen.