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Seid freundlich. Seid komisch. Für nichts anderes ist Zeit.

Sir Philip Anthony Hopkins

Die Frau in der Mitte kennen Sie. Ich stehe zwischen Harel und Amir. Einer der Jungen ist jüdisch, der andere ist Moslem. Erkennen Sie, wer wer ist? Nein. Das ist unmöglich, und es ist gut so, uns eint nämlich viel mehr, als uns trennt.

Meine kleinen Freunde sind elf Jahre alt, sie gehen beide in die sechste Klasse, sie wohnen in derselben Stadt – und sind doch aus verschiedenen Universen. Amir wohnt im Ostteil Jerusalems, welcher arabisch ist. Harel wohnt im Westteil Jerusalems, er ist jüdisch, die allermeisten Einwohner dort sind es auch. Beide Kinder sind Israelis, aber es ist wahnsinnig kompliziert, zu erklären, warum alles so kompliziert ist. Es ist die alte, schmerzende Geschichte von Hass, Leid, Tod, Wut, neuem Hass und neuem Leid. Es ist möglich, Trauer und Schmerz zu vererben, von Generation zu Generation, auch wenn man nicht miteinander verwandt ist. Wenn keiner nachgibt, sich eines Besseren besinnt, dann hört es niemals auf.

Unter normalen Umständen wären sich Harel und Amir nie begegnet, aber es gibt das Israel-Museum in Jerusalem, und mit ihm das Kinder- und Kunstprogramm Bridging the Gap. Lücken schließen, Gräben überwinden, Grenzen überschreiten – so könnte man sehr großzügig Bridging the Gap übersetzen. Jüdische und muslimische Kinder Jerusalems treffen sich einmal in der Woche, um sich durch Kunst näherzukommen, sie gemeinsam zu erleben, zu erkunden, zu gestalten. Und mit der Kunst lernen sie sich gegenseitig kennen, was zu Hause nie passiert wäre, denn zwischen dem Ostteil und dem Westteil Jerusalems klafft eine Lücke, die gefühlt die Größe des Marianengrabens hat. Diese Lücke heißt Misstrauen und scheint unüberwindbar. Alle Versuche, sie zu überwinden, sind – um beim Brückenbauen zu bleiben – winzige, wackelige und nicht besonders stabile Stege.

Aktuell gestalten Harel und Amir und all die anderen Kinder im Israel-Museum bei Bridging the Gap Wandfliesen nach jahrhundertealten Vorbildern, wie man sie an vielen Fassaden wunderschöner, uralter Häuser in Jerusalem sehen kann.

Für uns klingt das völlig normal – miteinander zeichnen, töpfern, Plastiken anfertigen. Aber Amir und Harel erleben jeden Mittwoch aufs Neue ihr eigenes kleines Weltwunder. Die Direktoren der Schulen von Amir und Harel redeten monatelang auf die Eltern der Jungs ein, bis diese erlaubten, dass die Kinder in Bussen – getrennt voneinander – abgeholt und nach der Kunststunde wieder nach Hause gebracht werden. Der eine in den arabischen Teil Jerusalems, der andere in den hauptsächlich jüdischen. Eine kleine Zweierbank in einem neuen Schulbus ist nicht breit genug, um alte Gräben zu überwinden. Eine kurze Busfahrt von Jerusalem ins zehn Kilometer entfernte Museum gleicht einer Weltreise. Allem Hass zum Trotz aber, treffen sich Amir und Harel jeden Mittwoch, um gemeinsam Kunst zu machen und anschließend johlend durch die Gänge des Museums zu toben. Zum Glück gibt es Menschen wie die Eltern von Amir und Harel, die versuchen, ihrem Leben und dem ihrer Kinder eine neue Richtung zu geben, einen neuen Sinn. Ach, gelänge es uns doch wenigstens endlich, uns zu respektieren. Viel mehr braucht es doch gar nicht. Wir müssen uns nicht feindlich gegenüberstehen, weil wir aus verschiedenen Kulturen kommen, weil wir unterschiedliche Sprachen sprechen und an verschiedene Götter glauben, weil Eltern auf der ganzen Welt ihren Zorn und ihre Ohnmacht an ihre Kinder vererben.

»Gebt den Kindern das Kommando«, singt Herbert Grönemeyer. »Die Welt gehört in Kinderhände. Dem Trübsinn ein Ende. Wir werden in Grund und Boden gelacht, Kinder an die Macht.«

Hoffentlich ist es mir vergönnt, Amir und Harel eines Tages wiederzusehen. Sie werden dann junge Männer sein. Wer weiß, vielleicht sind es ausgerechnet mein Amir und mein Harel, die die Baumeister solider Brücken sind. Die die Gabe haben, Menschen miteinander zu versöhnen. Oh, was werde ich jubeln und rufen: »Die beiden kenne ich!«

»Eine aufregende Zeit ist die beste Zeit, die Menschen kennenzulernen.« Es ist, als hätte Joseph Stanislaus Zauper schon 1840 gewusst, was da auf zwei kleine Jungs aus Jerusalem, was da auf uns alle zukommt.

Im Frühjahr 2020 sah es auf einmal so aus, als gäbe es keine Brücken mehr. Auf einmal wechselten Menschen die Straßenseite, wenn ich ihnen entgegenkam. Und taten sie es nicht, hielt ich die Luft an. Wir hatten Angst. Ich hatte Angst. Weil etwas Fremdes zwischen uns getreten war und weil niemand uns erklären konnte, wie tief die Gräben zwischen uns allen tatsächlich sind. Ein Hüsteln glich einer persönlichen Bedrohung, es war so, als richteten sich die Marschflugkörper des NATO-Doppelbeschlusses der Achtziger gegen jeden Einzelnen von uns. Und so wie Hass und Rache nicht zu sehen sind, so war der Schöpfer unseres Grabens, ein Virus namens COVID-19, auch nicht zu sehen. Auf einmal verstand ich Amir und Harel, deren Brüder und Schwestern, ihre Eltern und Großeltern, ich konnte nachvollziehen, wie es sich anfühlt, wenn man einander nicht vertraut. Man misstraute mir. Menschen projizierten ihre Ängste auf mich, mehr noch, sie erwarteten, dass ich genauso verängstigt bin wie sie und mich dementsprechend verhalte. Auf einmal waren Ost- und Westjerusalem in Frankfurt und Berlin, an Bord eines Flugzeugs und im Supermarkt. Es kam genau so, wie es seit Tausenden Jahren passiert: Erst wurde ich traurig, dann sauer und dann wütend. Ich hatte die alte Spirale aus Hass und Leid in mir, und es gab keine Kunstoder Museumsprojekte, die mich mit mir selbst und den Menschen um mich herum versöhnen konnten. Man zwang uns, Abstand zu halten, wir entschieden uns, äußerlich und innerlich für Distanz, weil wir mussten. Tatsächlich? Oder wollten wir es auch?

In einer aufregenden Zeit lernte ich mich selbst kennen – und ich war entsetzt von mir. Ich sehnte mich nach Boxhandschuhen und fühlte mich wie zu lange unter Wasser. Irgendwann beschloss ich, mich zu heilen. Weil ich entschied, so nicht sein zu wollen. Weil ich lieber versuche, Gräben zu schließen, statt welche aufzureißen. Ich bin richtig gut im Streiten, aber im Mich-wieder-Vertragen bin ich besser. Ich lasse lieber das Kind in mir schaukeln und jauchzen, statt der erwachsenen Frau zu erlauben, unentwegt besorgt zu sein. Ich bin lieber zu naiv als zu misstrauisch. Dinge, die ich vermasselte, weil ich zu naiv war, konnte ich bei zweiten und dritten Versuchen wiedergutmachen. Misstrauen hingegen hinterlässt irreparable Schäden. Hauptsächlich in mir selbst. Ich dachte für einen Moment, der sich unendlich lang anfühlte, ich müsste mich im Ängstlichsein üben. Und wurde von meinem Leben eines Besseren belehrt. Denn – so der Schauspieler Anthony Hopkins – es kommt sowieso keiner von uns lebend hier raus. Also schaukle ich. Und baue Brücken, um bloß nicht allein zu sein.

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