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Sei du selbst, alle anderen sind vergeben

Oscar Wilde

»Du schwimmst wie die letzte Fichte!«

Nein, zart war der Umgangston in meiner Schwimmhalle in Berlin-Hohenschönhausen nicht. Zuweilen war er eher grob. Ich korrigiere: immer!

Ich ließ mich für eine RTL-Dokumentation breitschlagen, an die Stätte meiner großen, nicht wahr gewordenen Träume zurückzukehren. Seit ich den Nationalmannschaftsbadeanzug an den Nagel hing, habe ich meine Schwimmhalle im Berliner Sportforum nie wieder betreten. Die Wahrheit? Ich ängstigte mich. Vor dem Geruch von Chlor auf warmen Sitzbänken, vor dem Geräusch, welches entsteht, wenn Schwimmer schnell und gleichmäßig ihre Bahnen ziehen. Vor den Rufen und Pfiffen der Trainer am Beckenrand. Ich brauchte Begleitschutz in Form einer Fernsehkamera, um nicht zu ertrinken im Tsunami an Gefühlen und Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend, die eigentlich keine waren. Oder doch. Nur eben ganz, ganz anders.

Mit geschlossenen Augen hätte ich den Weg zum Sportforum in der Fritz-Lesch-Straße gefunden. Links die Brauerei, aus der es an schlechten Tagen übel nach einem Hefe-womit-auch-immer-Gemisch roch. Rechts meine Schwimmhalle. Schräg gegenüber die sogenannte Sportmedizin, welche eher eine Art Versuchslabor war, in dem man mir nur mit örtlicher Betäubung Muskelfasern (Biopsie) entnahm, um festzustellen, ob ich besser für Hundert- oder Vierhundert-Meter-Freistil geeignet bin und dementsprechend die Trainingspläne zu optimieren. Man entfernte mir dort aber auch den Blinddarm und durchbohrte mir die Nasennebenhöhlen, Blinddarm mit und Nasennebenhöhlen ohne Narkose.

Aus der Blechhalle (so nannten wir das Freibad, das auch im Winter dank eines Blechdachs beschwimmbar war) von einst ist nun eine Bogenschützenhalle geworden. Das Becken ist noch da, aber eben ohne Wasser, es liegt grüner Teppich auf dem Grund, und unsere Olympiahoffnungen im Bogenschießen trainieren unermüdlich an dem Ort, an dem ich bis zum 17. Lebensjahr meinen Olympiaträumen nachhing.

Ich weinte. Es erschütterte mich, mit solcher Wucht an meine Kindheit und Jugend erinnert zu werden. Nicht dass ich sie vergessen hätte, ich hatte sie nur sorgfältig weit nach hinten in meinem Herzen gepackt. Das Schwimmen und ich – wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Wir waren mehr als fertig miteinander. Unsere Langzeitbeziehung hatte aus gutem Grund ein jähes Ende gefunden. Diese jahrelange unbeschreibliche Quälerei, diese Entsagungen aller Vergnügungen, das sich tägliche Schinden und Plagen waren überhaupt nur möglich, weil ich es unbedingt wollte. Es gab nichts, was mir wichtiger war. Gegen den ausdrücklichen Willen meiner Eltern. Ich wollte Olympiasiegerin werden, das hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Deswegen schwamm ich. Okay, zuweilen schwamm ich auch für den Trainer, aber die Goldmedaille und der Trainer gehörten ja auch irgendwie zusammen. Mein Gott, war ich naiv, mein Gott, war ich gutgläubig. Ich dachte, das muss so sein. Und wenn um einen herum alle so denken, ihr Leben nach diesem einen großen Ziel ausrichten, den Kopf ins Wasser tauchen, Dreieratmung, Ellbogenvorhaltung und tiefe Wende trainieren, wie kann man dann auf die Idee kommen, es könnte noch etwas anderes geben als Schwimmen?

Ich bereue nichts. Ich trauere nicht einer anderen Kindheit, Jugend nach, die ich nicht erlebte. Stattdessen erinnere ich mich an die verrücktesten Erlebnisse, zum Beispiel, wie wir auf der Abschlussparty des Schwimmländerkampfes in Pesaro (Italien) Rotwein und Weißwein in leere Fanta-Dosen mischten und ich am Morgen danach verstand, was die Redewendung »einen Kater haben« (das Wort »Hangover« war noch nicht erfunden) bedeutete. Oder wie wir bei einem Aufräum-Subbotnik in einem Internat meiner Sportschule Pornomagazine fanden, deren Fotos mich nachhaltiger verstörten als alle sehr anstrengenden Höhentrainingslager in Bulgarien zusammen.

Bis heute frage ich mich, ob sich meine Trainer ihres inakzeptablen Umgangstons mir gegenüber bewusst waren? Nie wieder bin ich in meinem Leben so schlimm und so oft beschimpft und angebrüllt worden wie als Schwimmerin beim SC Dynamo Berlin. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, egal, wie schnell ich schwamm, ich war nicht gut genug. Die Male, die ich im Alter zwischen elf und achtzehn Jahren gelobt oder gar gefeiert wurde, kann ich an einer Hand abzählen. Es kostete mich viel Zeit, zu verstehen, dass ich mich dennoch lieben darf.

Selbstbewusstsein wurde mir in der ehemaligen DDR eher ab- als antrainiert. Was auch mit meiner Ausnahmeposition zu tun hatte. Wer eben nicht Schülerin an ganz normalen polytechnischen Oberschulen war, wer auf eine Sport-, Russisch-, Musik- oder Ballettschule delegiert wurde, der war privilegiert. Ich war ab der vierten Klasse Schülerin an der Kinder- und Jugendsportschule »Werner Seelenbinder«. Trainer, Sportärzte und Funktionäre hatten große Hoffnungen, dass ich eines Tages internationale Goldmedaillen für die DDR gewinnen würde. Ich glaubte auch fest daran, durchlief alle Prozesse des sozialistischen Sportkadersystems – und scheiterte. Ich gewann keine Olympiamedaille, und ich vergaß in zehn Jahren Hochleistungssport, mein Ich zu entwickeln.

Ich glaube, es war den Trainern sehr recht, denn Sportler, die etwas hinterfragen oder sich gar eigene Gedanken machen, sind schwerer zu trainieren. Ich gehorchte und musste, nachdem die tägliche Schinderei vorbei war, sehr mühsam herausfinden, wer ich bin, was ich will und vor allem, wie ich sein möchte. Und als ich endlich zu wissen glaubte, wer diese Andrea Mathyssek ist, hörte mein Land auf zu existieren und mit ihm all das, was ich gerade über mich herausgefunden hatte.

Bis heute kann ich nicht langsam schwimmen. Springe ich in einen Pool, muss ich schnell sein. Ich sehe die Beine des Schwimmers auf der Nebenbahn und fange an zu rechnen: In drei Zügen habe ich ihn, dann eine schnelle Wende und er ist überholt. Dieser Wettkampfmodus steckt so unauslöschlich in meiner Matrix. Ist das nun DDR? Oder Ehrgeiz? Ich weiß es nicht.

Ich kaufe auf Vorrat, weil drei Packungen Spaghetti mir das Gefühl von Sicherheit geben. Erdbeben, Vulkanausbrüche, kein Geld mehr, Quarantäne? Zumindest ist Essen da. Es ist die DDR in mir. Oder vielleicht die DDR und meine Mama, sie war diejenige, die sich um den Haushalt kümmerte, obwohl sie voll berufstätig war, und sie war diejenige, die auf Vorrat kaufte – wer weiß, wann es das nächste Mal »Mocca Fix Gold Kaffee« geben wird …

Frauen wie meine Mutter arbeiteten in der DDR. Dafür mussten sie nicht kämpfen, im Gegenteil, das war erwünscht, von »Oben« verordnet. Wer keiner geregelten Arbeit nachging, galt als »asozial«, so etwas wie »sich erst einmal finden« oder »ausprobieren wollen« gab es in der DDR nicht.

Ich wünsche mir, dass mir niemals wieder jemand vorschreibt, wie ich zu leben und zu sein habe. Diesen Zustand nennt man Freiheit. Meine Kindheit und Jugend waren das Gegenteil davon. Ich lebte in einer Box, fünfzig Meter lang und acht Schwimmbahnen breit. Nein, es zwang mich niemand. Aber es stellte sich auch niemand schützend vor mich, als schreiende Trainer am Beckenrand behaupteten, ich sei das Letzte. Als sie mich grob anfassten, links liegen ließen oder fragwürdigen medizinischen Untersuchungen aussetzten.

Ich kann nicht langsam schwimmen. Weil ich es nicht will. Und das ist der beste Unterschied zu damals und versöhnt mich unendlich mit mir – weil ICH es nicht will.

Meist sonnig

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