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Heute war gestern schon morgen

Chima

Rechnen Sie, liebe Leserinnen und Leser, immer noch in D-Mark um? Oder sogar in DDR-Mark, so wie ich? Die Maß Bier auf dem Oktoberfest kostete zuletzt zwischen 10,80 Euro und 11,80 Euro. Oder – bei günstigem Kurs – 92 DDR-Mark. Die Miete meiner ersten Wohnung in Berlin-Treptow betrug nur achtzig DDR-Mark. Außentoilette. Hinterhof. Parterre. Und nein, ich habe sie nicht besetzt, weil sie keiner wollte. Ich bewarb mich für diese Wohnung. Ich kämpfte um sie. Und nur, weil ich ein kleines Baby hatte, bekam ich sie letztendlich. Und obwohl sie Wohnung hieß, war sie nicht sehr wohnlich.

Irgendwann und irgendwie erstand ich diese Bastmatten, die Ende der Achtzigerjahre dem spießigen Teppich den Todesstoß versetzten. Zwanzig Quadratmeter Bastglück. Krümelnd, fasernd, merkwürdig riechend, Hauptsache kein Teppich. Aller Dreck fiel durch das sehr großzügig zusammengewirkte Gewebe. Heute weiß ich, dass meine nicht enden wollenden Niesanfälle nicht auf Heuschnupfen im Winter, sondern auf eine erstklassige Hausstauballergie zurückzuführen waren. Dass meine extrem ordentliche Mama (das Wort »pingelig« wage ich, im Zusammenhang mit ihr, nicht zu verwenden, es kommt der Sache aber sehr, sehr nahe, verzeih, Mama) mich dennoch regelmäßig besuchte, zählt bis heute zu den unerklärlichen Wundern meiner Familie …

Stellen Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich vor, was wäre, wenn die Mauer vor dreißig Jahren nicht gefallen wäre? Wie lebten wir dann? Welche Musik hörten, welches Essen bevorzugten wir? Woran glaubten wir? Mir fallen zum Thema »Was wäre, wenn es die DDR noch gäbe?« tausend und mehr Fragen ein. Nach wie vor fühle ich einen Verlust, ohne etwas verloren zu haben. Nach wie vor spüre ich eine Grenze, obwohl die Mauerreste zwischen Ost- und Westberlin längst unter Denkmalschutz stehen. Nach wie vor rechtfertige ich mich für mich, dabei stellt mich niemand infrage – außer ich mich selbst.

Ich glaube, wir hatten zu wenig Zeit, uns anzunähern, uns kennen- und lieben zu lernen. Mauer weg, DDR weg, alles weg, was uns was bedeutete, einzig das Ampelmännchen überlebte. Das ist maßlos übertrieben, aber gelegentlich muss man weit übers Ziel hinausschießen, um sich dem Kern der Wahrheit nähern zu können.

Glücklicherweise verloren meine Eltern 1999 im bayerischen Hochwasser am Ammersee (der Keller glich tagelang einem Indoorpool) nur unsere Diasammlung. Über tausend kleine Plastikquadrate voller Urlaubserinnerungen an Stettin, Krakau, Usedom und den Ostberliner Tierpark. Andere Schätze überlebten.

»Mama, liebe Mama, darf ich ein bisschen in deiner Schmuckschublade stöbern?«

Egal, wie alt man ist, man bleibt die Tochter von Eltern, die fragend die Augenbrauen hochziehen.

»Was erwartest du zu entdecken, Andrea?«

Ich täusche Interesse an allem vor, liebäugle aber mit DDR-Reliquien wie den alten Armbanduhren meines Vaters oder meiner Mutter. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie mir ausgezeichnet stehen werden. Sie sind Vintage und aus dem Osten. Mehr geht beinahe nicht.

Als Kind bekam ich eine schlichte Armbanduhr mit Handaufzug, Sekundenzeiger und Datumsanzeige. Danach folgten diverse winzig kleine Varianten, bis heute bin ich nicht sicher, ob die Uhren tatsächlich die Zeit anzeigten. Ein wenig später kam meine Groß-und-rund-Phase, ich wollte aussehen wie eine Architektin. Anschließend hatte ich ein Verhältnis mit Swatch, welches übergangslos abgelöst wurde durch die fetten G-Shock-Brummer am Handgelenk, dann etwas Zeitloses, meinem Jahrgang entsprechend, und das war’s. Heutzutage lese ich die Uhrzeit vom Handy ab, weswegen ich es noch viel öfter aus der Tasche ziehe als überhaupt nötig.

Ich brauche eine Armbanduhr. Früher gab es sogar eine Telefonnummer, die man anrufen konnte, um zu erfahren, wie viel Uhr es ist. Im Radio hieß es: »Piep, piep, piep: Beim letzten Ton des Zeitzeichens war es 19 Uhr. Hier ist der Berliner Rundfunk mit den Nachrichten.«

Ich öffne behutsam die Schmuckkästchen meiner Mama. Einige Schächtelchen sind aus Pappe, andere aus Samt mit goldenen Initialen, inhaltlich gleichen sie sich sehr: viel Modeschmuck – wenig nach meinem Geschmack. Was hatte ich für schöne Abzeichen. Halsketten. Armbänder. Wo sind die geblieben? Wieso warf ich alles weg, auf dem »DDR« stand? Wieso sagte mir niemand, dass Dreiraumwohnungen im DDR-Plattenbau, Eterna-Klassik- und Amiga-Schlager-Schallplatten sowie gebrauchte DDR-Trainingsanzüge mal Ausdruck erlesenen Geschmacks sein würden?

Und dann finde ich sie, die kleine Armbanduhr meiner Mutter. Goldglänzend, aber Lichtjahre davon entfernt, aus echtem Gold zu bestehen. Wenn ich mich richtig erinnere, brachte sie die Uhr einst sehr stolz von einer Dienstreise aus der UdSSR mit und trug sie so lange, bis Tchibo, Eduscho und Co. sie davon überzeugten, dass deren Billiguhren schicker seien, weil aus dem goldenen Westen. Akzeptanz durch Penetranz. Arme UdSSR-Armbanduhr …

Die größte Überraschung aber ist: Sie geht. Sie tickt ganz leise. Aber sie geht. Exakt zeigt sie Minute für Minute, Stunde für Stunde an. Handaufzug, echt Blech, kein Datum.

Die trage ich jetzt.

»Mama, darf ich sie mir bitte ausborgen? Für immer?«

Meist sonnig

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