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Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer

DDR-Pionierlied, Text: Herbert Keller

Sollte dieses Buch an der einen oder anderen Stelle etwas wehmütig klingen, so entspricht das nur bedingt meinem generellen Seelenzustand.

Schuld an diesem »Zurückblick« ist ein Schwarz-Weiß-Foto aus den späten Siebzigerjahren, auf dem ich zusammen mit Mitschülern zu sehen bin. Ich wollte den Kindern einer Freundin zeigen, dass es ein Leben vor Nike-Turnschuhen, E-Scootern und Basecaps gab und suchte nach Beweisen. Und ich fand sie in Form dieses Fotos. Darauf abgebildet bin ich im weißen Hemd und mit blauem Tuch um den Hals, der Kleidung für Jungpioniere. Wir waren stets angehalten worden, einen dunkelblauen Rock oder eine entsprechende Hose zu tragen. Und die Pionierkleidung galt immer als etwas Besonderes, man trug sie nur zu entsprechenden Anlässen. Das Tuch richtig knoten zu können, war Ehrensache. Wer den Knoten nicht auf Anhieb beherrschte, übte brav zu Hause. Der Pionierknoten von damals ist der Krawattenknoten von heute. Nur ist Letzterer komplett ideologiefrei. Warum ich auf diesem Foto so aussehe, weiß ich nicht mehr. Und erst viel, viel später fragte ich mich, warum die DDR, das Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, die Tradition dieser Organisationen, die stark an die Hitler-Jugend und das Jungvolk Nazideutschlands erinnerten, fortsetzte. Jungpioniere, Thälmann-Pioniere, Freie Deutsche Jugend (FDJ), Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Die Vereinigungen bekamen neue Namen, aber immer gab es einheitliche Kleidung (Uniform), und wir Kinder und Jugendliche waren durchorganisiert, damit niemand sich einen eigenen Kopf mit eigenen Gedanken machte. Die Ähnlichkeit der Fackelaufmärsche in den 1930er-Jahren mit denen fünfzig Jahre später in der ehemaligen DDR ist nicht zu leugnen. Warum fiel mir das nicht schon damals auf? Ich behaupte NICHT, dass wir, die Menschen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, unisono Nazis waren oder gar sind. Man organisierte uns, weil organisierte Menschen leichter zu führen und zu verführen sind. So weit, so gut. Oder nicht gut.

Immer mittwochs gab es Pioniernachmittage, an denen ich nur selten teilnehmen konnte, weil ich ja im Schwimmverein war und unbedingt Olympiasiegerin werden wollte. Aber ich erinnere mich, wie viel Spaß mir unsere Altstoffsammlungen gemacht haben. Wir teilten uns in Dreier- oder Vierergrüppchen auf und klingelten an allen Wohnungstüren in der Nachbarschaft: »Guten Tag, haben Sie Altpapier oder leere Flaschen und Gläser?«

Wir sammelten nicht etwa für uns, nein, das Geld, welches man bekam, wenn man wertvolle Rohstoffe wie Papier und Glas zum »SERO« brachte, wanderte in die Klassenkasse. SERO bedeutete Sekundär-Rohstoffe. Meine Familie nannte die Annahmestelle »Rumpelmännchen«. Dieser Ort, zu dem wir jungen Pioniere unsere eingesammelten Schätze brachten, war ein kleiner Raum neben dem Haupteingang der Kaufhalle. Extra Tür. Extra Öffnungszeiten. Das Papier war gebündelt und wurde abgewogen. Ich glaube, ein Kilo Altpapier war damals dreißig Pfennig (Ost) wert. Für ein leeres Glas bekam man fünf Pfennig, den Flaschenpreis habe ich vergessen. Auch, woher das Geld eigentlich kam, wer es zur Verfügung stellte. In der Annahmestelle, in dem es sogar an helllichten Sommertagen immer dämmrig war, arbeitete ein mürrischer Mann. Ich erinnere mich nur allzu gut an den Geruch von vergorenem Alkohol der leeren Bierflaschen und Schnapsreste und dass ich mich beim Betreten des »Rumpelmännchens« stets gruselte. Aber da wir gute Pioniere waren, erfüllten wir unsere Pflicht und unterstützten die Wirtschaft unseres jungen Landes, indem wir teure Rohstoffe wie Papier und Glas einsammelten und so zur Wiederverwertung brachten.

So war die DDR – auf der einen Seite Kohleöfen und Bitterfeld, auf der anderen Altpapier sammeln. So viel Sinn und Unsinn gleichermaßen – hat wirklich jemand jemals gedacht, dieses System könnte funktionieren?

Heute werfen wir so viel weg. Gläser, Papier, Plastik, Bekleidung, Essen, Computer. Ich merke, wie viel junger Pionier immer noch in mir steckt, wenn ich zur Papiertonne im Innenhof gehe. Viele Bäume werden gefällt, um Papier herzustellen. Im Fernsehgarten haben meine umweltbewussten Kollegen mittlerweile durchgesetzt, dass wir Papier beidseitig bedrucken, weshalb nur noch halb so viel Papier verbraucht wird. Vieles wird per E-Mail geregelt und nur noch im Notfall ausgedruckt. Dennoch: Wie sparsam und achtsam man mit Dingen umgehen kann, lernt man durch Erziehung im Kindes- und Jugendalter oder aus der Not heraus.

Befragte man meine Mama nach ihren liebsten gesamtdeutschen Errungenschaften, käme ganz sicher der Plastikbeutel zur Sprache, weswegen wir uns regelmäßig in die Haare kriegen.

Meine Mutter liebt es beispielsweise, mir die Überreste von Essen, welches wir uns gelegentlich unserer Kochfaulheit schuldend beim Lieferservice bestellen, in Plastiktüten mitzugeben.

»Aber Mama, ich bin TV-Moderatorin, ich laufe doch nicht mit einer Tüte vom Supermarkt durch die Stadt. Gib mir bitte einen richtigen Stoffbeutel.«

Mein Vater schaltet sich aus dem Hintergrund ein: »Weißt du eigentlich«, sagt er an mich gewandt, »dass wir früher in der DDR immer einen Stoffbeutel dabeihatten? Bei jedem Spaziergang. Es hätte ja sein können, es gibt was …«

»Bananen? Apfelsinen? Joghurt?«, falle ich ihm ins Wort.

Mein Papa: »Wir hatten überhaupt keine Plastiktüten in der DDR.«

»Warum nicht?«, will ich wissen.

»Weil wir dafür kein Geld hatten, die Herstellung von Plastik ist teuer. Man benötigt dafür Erdöl.«

Positiv betrachtet bedeutet das, dass die Deutsche Demokratische Republik schon umweltbewusst war, als sich noch niemand Gedanken über Klimawandel und Erderwärmung machte. Ich weiß, verehrte Leserinnen und Leser, dies ist Schönfärberei, Braunkohle, Ofenheizungen, Zweitaktmotoren, die Plaste und Elaste aus Buna-Werken Schkopau (eine kleine Stadt im Bundesland Sachsen-Anhalt) und wie die anderen Umweltsünden meines ehemaligen Heimatlandes auch immer geheißen haben mögen, waren alles andere als ökologisch einwandfrei.

Meine Mutter bringt mir einen schwarzen Jutebeutel eines renommierten Berliner Kaufhauses, schüttelt wortlos den Kopf, gibt mir einen Abschiedskuss und verschließt die Wohnungstür, nicht ohne mir ein »Fahr vorsichtig!« mit auf den Weg zu geben. Mamas sind immer besorgt. Und da ich selbst eine Mama bin, besorgt es mich, wie achtlos ich an diesem speziellen Tag mal wieder mit unserer Umwelt umgehe. Denn als ich den Jutebeutel zu Hause auspacke, entpuppen sich die köstlich duftenden Essensüberbleibsel vor allem als eines: der größte Haufen Plastikmüll, den ich seit Monaten verursacht habe. Ich schäme mich. Erstens, weil ich deswegen ungezogen zu meiner Mutter war. Und zweitens, weil ich es viel besser kann.

Würden wir, verehrte Leserinnen und Leser, alle zusammenwohnen, würde ich Sie zu einer Challenge herausfordern. Zu einem Wettbewerb, der genau einen Sieger haben würde: unsere Umwelt. Versuchen Sie mal, eine Woche lang Ihren kompletten Plastikmüll, also Verpackungen, Tüten, Tuben, Flaschen, Becher etc. zu sammeln. Stapeln Sie alles auf Ihrem Esstisch und machen Sie ein Foto davon. Sie werden geschockt sein. Es ist einfach unglaublich, wie viele Produkte in Plastik verpackt sind. Und es ist unverständlich, warum unsere Bundesrepublik so lahmarschig nach Alternativen sucht.

Ich jedenfalls gelobe Besserung. Und ich werde nicht müde, andere Mitglieder meiner Familie darauf hinzuweisen, dass in Plastik eingeschweißter Brokkoli absolut inakzeptabel ist. Jawohl!

Meist sonnig

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