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Schweiz Kaminfeger – ein Unglück

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Auf Reisende übt das Verzasca-Tal im Tessin einen Zauber aus. Der Fluss hat im Tal-Grund eine bizarre Felslandschaft geschaffen.

Heute ist der Kanton Tessin wohlhabend. Früher war er so arm, dass die Bergbauern ihre Kinder verkauft haben

Von Richard Mayr

Wie viele sind dieser Landschaft, diesem Flecken Erde schon verfallen! Wer ein Herz für diese Mischung aus mediterranem Flair und Bergen hat, den packt eine Sehnsucht nach dem Tessin, die schwer zu stillen ist, die gar nicht mehr nachlassen will. Unten am Lago Maggiore, am Großen See, wachsen Orangen, Zitronen und Palmen, oben in den Höhenlagen wandert man durch ausgewachsene Mondlandschaften. Die Gegensätze könnten kaum größer sein. Das spiegelt sich auch beim Essen, dieser Mischung aus deftiger Bergküche und raffinierter italienischer Kochkunst. Die Dichte der Feinschmecker-Restaurants im Tessin sucht ihresgleichen. Nicht nur dort, auch in den Grottos, den früheren "Fels-Lokalen" draußen im Freien, ist das Essen etwas Besonderes. Deftig, aber eben auch mit Raffinesse - alpin und mediterran in einem. Das Tessin verwöhnt seine Gäste.

Diesem besonderen Reiz erlagen zuerst die Künstler. Aussteiger wollten am Monte Veritá in einer Kolonie ein neues Menschsein erproben. Wenig später ließ sich Hermann Hesse dauerhaft in Montagnola nieder, es folgten Stefan George, der in Minusio starb, Max Frisch und Alfred Andersch, die Häuser in Berzona bezogen. Den Künstlern folgten die Reichen, die vor allem aus Ascona eine Luxusenklave machten. Die Häuser und Villen der Stadt sind für Normalverdiener heute unerschwinglich. Wer sich nicht dauerhaft niederlassen will und über genügend große Barschaft verfügt, findet in dem kleinen Ort am großen See gleich mehrere Fünf-Sterne-Hotels, wie es sie in mancher ausgewachsenen deutschen Großstadt nicht einmal gibt - mit besten Gourmet-Restaurants, Wellness-Paradiesen und ganzen Parklandschaften zum Flanieren.

Es ist geradezu paradox: Das frühere Armenhaus der Schweiz hat sich in sein Gegenteil verwandelt. Das geht so weit, dass sich heutzutage Lehrerinnen mit Hochschulabschluss aus Italien darum bewerben, in den Schweizer Hotels als Zimmermädchen zu arbeiten, weil sie dort - wegen des Mindestlohns - mehr verdienen als in Italien. Eine erstaunliche Entwicklung, vor allem wenn man bedenkt, dass es vor 150 Jahren genau andersherum war. Damals verkauften die Bauern in den Tessiner Seitentälern für ein paar Franken ihre Kinder an die Mailänder Kaminfeger. Eine erschreckende Geschichte, die zeigt, wie hart und entbehrungsreich das Leben früher dort war.

Ergreifend, einfühlsam und spannend erzählt die Geschichte dieser Kaminfeger-Jungen die Schweizer Schriftstellerin Lisa Tetzner in ihrem Kinderbuch-Klassiker "Die Schwarzen Brüder". Der Roman handelt von dem Jungen Giorgio, der in einem katastrophalen Hunger-Jahr aus Not von seinen Eltern nach Mailand verkauft wird. Das Buch bietet nicht nur Kindern eine spannende Geschichte in historischem Ambiente, es zeigt auch Erwachsenen auf, wie es den Ur-Ur-Ur-Großeltern einmal im Leben erging, wenn sie so beschwerliche Böden wie das wild-romantische Verzasca-Tal bewirtschaften mussten.

Rund 1000 Einwohner leben heute im Verzasca-Tal

Heute ist dieses Tal eine der Sehenswürdigkeiten bei einem Kurz- und Lang-Trip ins Tessin. Eine Autofahrt von 200 Höhenmetern auf knapp 1000 Höhenmeter, entlang an einem Bach, der zur Schneeschmelze oder bei schweren Unwettern eine reißende, zügellose Kraft entfalten kann. Die harmlose Verzasca hingegen hat etwas Zauberhaftes. Eingebettet in fantastisch abgeschliffene Felsen, umgeben von steil nach oben ziehenden Hängen, umrahmt von Dörfern, die mit ihren trutzigen Steinhöfen Geschichte gespeichert haben. Rund 1000 Einwohner hat das Tal noch. Die meisten von ihnen arbeiten nicht mehr in der Landwirtschaft, sondern sind zum Pendeln gezwungen.


Dieses Tal hat eine Geschichte des Leidens: Denn die Bauern mussten ihre Kinder für ein halbes Jahr als Arbeiter verkaufen.

Wie sich das Leben im Tal früher abgespielt haben muss, das erzählt Tetzner in ihrem Roman "Die Schwarzen Brüder" eindringlich, wenn sie etwa beschreibt, was für Böden dort bewirtschaftet werden mussten: "Dann kamen sie auf eine kleine Matte, die sich wie ein schmales Band um eine Felswand zog. Auf der Matte wuchs schönes hohes Gras. "Das wollen wir heute mähen." [...] Er nahm die lange Leine heraus, die er mitgebracht hatte, und sah sich um. Dort war ein kleiner Kastanienbaum. Er prüfte seine Stärke. Ob er wohl hielt? Sicher. Er band den Strick fest um den Baum, knüpfte sich das Ende um den Leib und ließ sich langsam hinunter. Er rutschte bis an den Rand der abschüssigen Matte. Sie fiel beinahe dreihundert Meter steil ab. Unter ihm kochte, zischte und donnerte das Wasser der Verzasca."

So bekannt diese Geschichte um den Kaminfeger-Jungen Giorgio auch ist, so sehr rührt sie heute an einen wunden Punkt der Tessiner Seele. "Das Tessin schämt sich", sagt Marco Solari, hoch gewachsener ehemaliger Manager, Präsident des Filmfestivals in Locarno und ein Impresario. Der 70-Jährige erzählt bereitwillig, wie seine Mutter früher ihnen die Geschichten von den armen Kaminfeger-Jungen aus dem Tessin erzählt habe - mit einer Mischung aus Mahnung und Scham. Die Bauern der Seitentäler waren so arm, litten teilweise so große Not, dass sie gezwungen waren, ihre Jungen für eine Knochenarbeit verkaufen zu müssen, die für viele tödlich endete.

Es gab fürchterliche Hungersnöte

Am Ende des Verzasca-Tals in Sonogno, einem wunderbaren Dorf, erinnert man im örtlichen Museum an diese Vergangenheit. Dort sind auch die Spachteln zu sehen, mit denen die Jungen die Kamine von innen auskratzen mussten. Tetzner beschreibt das folgendermaßen: "Giorgio fasste Mut, schloss die Augen, packte das erste Eisen und zog sich an ihm in die Höhe. Der Ruß stürzte wie ein Bach über ihn. Er rieselte seinen Rücken hinunter. Er stieg in seine Nase, dass er niesen musste, in seine Ohren, in seinen Mund. Es war wirklich gut, dass er die Augen geschlossen hatte. Jetzt musste er sie aber öffnen. Er hob die Hand, um nach dem zweiten Eisen zu fassen. Da fiel ein solcher Berg Ruß über ihn, dass der feine, schwarze Staub auch in beide Augen kam. Am liebsten hätte er aufgeschrien, biss aber die Zähne zusammen und zog sich zum dritten Eisen."

Tourismuspräsident Marco Solari setzt er sich vehement dafür ein, daran zu erinnern, wie arm der einzige italienischsprachige Kanton der Schweiz früher gewesen war. "Es gab fürchterliches Elend und fürchterliche Hungersnöte, vor allem in den Bergtälern", sagt er. "Dieses Tessin hat eine Geschichte des Leidens."


Ein Museum erzählt die Geschichte der Kaminfeger-Kinder.

Der Hunger war in manchen Jahren so schlimm, dass die Bauern in den Bergtälern auf jeden zusätzlichen Franken angewiesen waren. Wenn sie ihre Kinder für ein halbes Jahr verkauften, bekamen sie Geld und hatten einen Esser weniger zu versorgen. Im Jahr 1853 waren es rund 250 Jungen aus dem Tessin, die in der reichen Lombardei den Ruß aus den Kaminen kratzten. Schlecht versorgt, damit sie immer schlank genug für die Kamine waren. Tagsüber kroch ihnen der Ruß in Augen, Nase und Mund, abends mussten sie sich mit einem Jute-Sack als Bettdecke bescheiden, während ihre Familien weit weg waren.

Die Bergbauern wiederum hatten auch Grund zum Klagen. Die Landwirtschaft in den engen, kargen und rauen Bergtälern war an Mühsal und Beschwerlichkeit kaum zu überbieten. Wenn heute das Verzasca-Tal mit seinen Dörfern, den steilen Hängen, den hohen Gipfeln pittoresk erscheint, war es damals für die Bauern eine fortwährende Herausforderung. Sie hatten einen Winterhof unten im Tal und einen Sommerhof viel, viel höher am Ende des Tals. Und wenn im Sommer auch noch die Weiden bewirtschaftet werden mussten, sahen sich die Familien nur äußerst selten.

Das änderte sich erst, als die Industrialisierung und der Tourismus das Tessin erreichten. Die Gotthard-Bahn (erbaut 1882) schloss den Kanton an die Moderne an. Mit der Eisenbahn kamen Reisende, die wiederum Geld mitbrachten, das die Not abdämpfte. Allerdings brachte das auch neue Härten mit sich. "Der Tourismus damals hat das Tessin vergewaltigt", sagt Solari. Die Touristen wollten in den Tessinern Südländer sehen. Also mussten diese fortan vor den Fremden eine Rolle spielen: mit Winzerumzügen und Mandolinen, fröhlich und lustig, genauso, wie sich die ersten Touristen die Südländer vorstellten. "Für mich ist es essenziell, dass wir von diesem Bild weggehen", sagt Solari. Ihm ist wichtig, dass der Kanton seine Geschichte nicht vergisst, damit er seine Identität nicht verliert.

Kurz informiert:

 Information: www.ticino.ch/de/

 Einreise : Gültiger Personalausweis oder Reisepass

 Währung: Schweizer Franken

 Einwohner: ca. 8 Mio.

 Hauptstadt: Bern

 Geodaten: 46°21'00.6"N 8°47'11.4"E (Sonogno), Google Maps

 Reisezeit: ganzjährig, am schönsten sind die Sommermonate ab Mai

 Gesundheit: Pflichtimpfungen sind nicht erforderlich.

 Nicht verpassen: Ein Bad in der Verzaska. Der schmale Gebirgsfluss schimmert in allen Grüntönen. Aber Vorsicht, er ist eiskalt. Füße reinhängen ist auch schön.

 Besonderheiten: Das Tessin ist der südlichste Kanton der Schweiz, Er ist zum Großteil von Italien umgeben. Das Tessin verbindet Schweizer Tugenden mit mediterranem Reiz. Die Hauptorte sind Bellinzona, Locarno, Ascona und Lugano

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