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Deutschland Watt ’ne Wanderung

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Das Wattenmeer der Nordsee ist rund 9000 Quadratkilometer groß. Genug Platz für eine Wanderung.

Das Meer ist mal wieder weg, die Sonne steht tief, endlich Ruhe. Auf der Insel Spiekeroog gelten Fahrräder als „Stressfaktor“, Urlauber sind damit einfach zu schnell unterwegs. Am besten geht man hier den Herbst ganz langsam an

Von Manuela Mayr

„Genieße das Meer“, hatte ein Kollege vor der Abreise gesagt. Das Meer. Die ewige Sehnsucht. Wild bewegt wie der Atlantik oder sanft gewellt wie die Adria – wie wird sie sein, die Nordsee, bei unserer ersten Begegnung? Silbergrau und glatt wie Eis hat sie sich vor Wilhelmshaven ausgebreitet. Kein Lüftchen rührt im Dämmerlicht des frühen Abends an der spiegelblanken Wasserfläche im Hafenbecken. Kein Laut stört das Einschlummern des warmen, klaren Herbsttages.

Über Nacht wandelt sich das Bild. Wolken sind aufgezogen. Es nieselt leicht. Vielleicht ist sie ja heute zu erleben, die stürmische See, von der immer erzählt wird – in Neuharlingersiel, dem Ziel unserer ersten Ausflugsfahrt. Im Hafen sieht es nicht danach aus. Der alte Fischer aus Bronze, der dem Gast den Hintern entgegenstreckt, blickt stoisch aufs trübe Wasser. Ruhig wie ein Dorfteich, umgeben von spitzgiebeligen bunten Häuschen, liegt es da. Die Masten der Boote an der Kaimauer stehen kerzengerade. Da wogt nichts, da schwankt nichts.

Aber immerhin ist ein Pegel erreicht, der die Überfahrt nach Spiekeroog erlaubt.

Bei Ebbe geht das nicht. Da kann man durch das Watt in vier Stunden zur Insel hinüberwandern, natürlich nur unter fachkundiger Führung. Denn wer auf eigene Faust loszieht, riskiert, plötzlich von der Flut mitgerissen zu werden. Vor Jahren ist es einer Urlauberfamilie so ergangen, erzählt Susanne Mäntele, die Sprecherin des Nordseeheilbads Neuharlingersiel. Als das Wasser kam, klammerten sich die unerfahrenen Wattwanderer an Tonnen, die die Fahrrinne für die Schiffe markieren, und wurden in letzter Minute gerettet.

Auf Spiekeroog sind selbst Fahrräder zu schnell

Aber wir haben ja einen professionellen Wattführer dabei. Frank Hensel kennt das Geschäft seit zwölf Jahren. Der junge Mann mit dem blonden Pferdeschwanz weiß, in welchem Zeitfenster der Meeresboden vor den Ostfriesischen Inseln gefahrlos erkundet werden kann. Der Gezeitenrhythmus von Hoch- und Niedrigwasser, der sich zweimal täglich wiederholt und im Laufe des Jahres verschiebt, bestimmt den Tagesablauf an der Küste. Jetzt, am Vormittag, ist Flut. Die „Gorch Fock“ legt ab. Im Zickzackkurs steuert Wilhelm Jakob seinen Kutter durch die mit Bäumchen gekennzeichnete Fahrrinne. Ihr Verlauf ändert sich mit der Zeit, weil die Sedimente im Watt vom Auf und Ab der Strömung permanent umgelagert werden, erzählt der Kapitän. Etwa um drei Kilometer habe er sich von 1998 bis 2004 verschoben.

Eigentlich ist Jakob Küstenfischer, schon in der siebten Generation. Aber mittlerweile fährt der 60-Jährige notgedrungen nur noch Touristen. Weil er auf seinem Kutter keine Kühlmöglichkeit hat, darf er keine Krabben mehr vermarkten. Aber er fischt trotzdem. Und er beweist, dass das hier ein richtiges Meer ist, auch wenn sich das Schleppnetz nur wenige Meter tief auf den Grund senkt. Schon nach wenigen Minuten hievt er die Beweisstücke in die Höhe: Krebse und kleine Fische sind ins Netz gegangen. An Bord stehen Bottiche voll Wasser bereit, um die Beute aufzunehmen. Jetzt ist Frank Hensel in seinem Element. Er hat Umweltwissenschaften studiert und ist Spezialist für den Lebensraum Wattenmeer, das im Jahr 2009 zum Weltnaturerbe erklärt wurde.


Seehunde auf der Sandbank. Für ein Sonnenbad genügt ihnen auch trübes Licht.

Hensel hält eine stattliche Strandkrabbe mit zwei unterschiedlich großen Scheren hoch. Die eine hatte sie wohl im Kampf verloren, und die wächst jetzt nach, sagt er. Auch eine Schwimmkrabbe mit abgeflachten Hinterbeinen ist dabei, und natürlich Langschwanzkrabben, auch Garnelen genannt. Man kennt sie von den Krabbenbrötchen. Im vorderen Teil des Kutters wird ein ganzes Sieb voll davon in siedend heißes Wasser getaucht – für den kleinen Hunger zwischendurch. Der Fang im Bottich ist allerdings nicht zum Essen bestimmt. Alle Anschauungsobjekte werden wieder freigelassen – der kleine Dorsch mit den silbernen Schuppen, die winzige Scholle, der stachelige Seeskorpion mit dem furchterregend aufgerissenen Maul, der Steinpicker und der Seestern, der die Miesmuscheln auf dem Wattboden knackt.

Draußen auf dem Wasser lenken jetzt größere Tiere die Aufmerksamkeit auf sich: Seehunde nehmen auf einer Sandbank ihr Sonnenbad. Auch wenn das Licht nur gedämpft durch den Dunstschleier dringt, bauen die Robben so ihren lebensnotwendigen Vitamin-D-Spiegel auf. Von dem herannahenden Kutter lassen sie sich nicht stören. Noch ein kleines Stück tuckert das Boot weiter, und Spiekeroog, die grüne Insel, ist erreicht. Auf der Salzwiese hinter dem Hafen grasen Islandpferde, hinter dem Deich weiden Schafe und dazwischen erstreckt sich ein langer gepflasterter Weg. Von nun an wird zu Fuß gegangen. Drei Autos gibt es auf der Insel – eines für die Feuerwehr, zwei für den Rettungsdienst – und ein Dienstfahrrad für den Polizisten.

Ansonsten rollen hier vor allem zweirädrige Gepäckwagen. Mit Vorhängeschlössern gesichert stehen sie an der Schiffsanlegestelle für die Hotel- und Pensionsgäste breit. Wer ein Fahrrad mitbringt, zahlt extra. „Ein Fahrrad ist ein Stressfaktor“, sagt Patrick Kösters, der Tourismuschef der Kurverwaltung. So schalten eben alle einen Gang zurück. Man sieht es den Urlaubern an, die gemächlich an Vorgärten und Veranden vorbeispazieren oder auf den Terrassen der Lokale an ihrem Ostfriesentee nippen: entspannte Gesichter, verwöhnt von frischer Luft, Sonne, Sauna und Massagen und erfüllt von Naturerlebnissen.

Endlich da: dieses Nordseegefühl …

Es ist später Nachmittag, als wir zur Wattwanderung aufbrechen. Die Sonne steht tief, die Landschaft wirkt milchig überzogen, weich und weit. Das Meer ist weg, doch es hat in Bodenvertiefungen Pfützen und Wasseradern hinterlassen – kleine Priele, gesäumt von Pflanzenteppichen oder einzelnen Büscheln in Grün, Beige, Hellgrau und Rostrot. Auf einer Wiese in Hafennähe bückt sich Frank Hensel nach vertrocknetem Strandflieder. Im Juli habe der violett geblüht, sagt er. Wie die Strandaster und der Strandwermut, der früher als Absinth getrunken wurde, toleriert er die regelmäßigen Salzwasserduschen.

Ein unwirtlicher Lebensraum, der im Herbst Pausenplatz von Millionen Zugvögeln ist. Weit draußen fressen sie sich das Fett für die Reise in ihre Brutgebiete an. Austernfischer, Sandregenpfeifer, Meerstrandläufer, Ringelgänse, Eiderenten, Rotschenkel – die Liste der Arten, die im Sand und im Schlick ihre Nahrung finden, ist lang. Ihre Schnäbel sind so geformt, dass sie das für sie passende Getier perfekt erreichen. Der Wattführer braucht dafür eine Stechgabel. Mit nackten Füßen spürt er, wo Herzmuscheln stecken. 28 Stück findet er auf einem Quadratdezimeter. Wenn es wärmer wäre, würden sie sich mit ihrem Grabefuß wieder einbuddeln. Aber jetzt im Herbst sind sie träge und stellen sich tot.

Warm genug ist es dagegen für die pazifischen Austern. Feinschmeckerlokale haben sie eingeschleppt, als sie die importierten Muscheln in Körben ins Wasser tauchten, um sie frisch zu halten. Die Migranten fühlen sich wohl – dem Klimawandel sei Dank. Manche Wattwanderer kommen nur ihretwegen, um sie an Ort und Stelle zu knacken und zu schlürfen. Den Sekt haben sie im Rucksack dabei, erzählt Hensel. Allmählich senkt sich Dunkelheit herab. Wir müssen zurück. Und dann heißt es warten, bis die Flut kommt. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt steigen wir dann eine lange Leiter hinab in den Kutter. So tief liegt er im Hafen. Langsam und vorsichtig steuert der Kapitän ihn in Richtung Festland. Wer zur falschen Zeit kommt, muss das Meer an der Nordsee regelrecht suchen. Gut, dass es Flugzeuge gibt. In Harle heben sie ab, allerdings nicht nach Spiekeroog, denn dort gibt es keinen Flugplatz. Aber nach Baltrum die kleinste der sieben ostfriesischen Inseln.


Spiekeroog, die Insel der passionierten Fußgänger. Fahrräder gelten hier als zu „hektisch“.

Aus der Luft ist es tags darauf endlich zu sehen, das offene Meer – wild und rau, mit Schaumkronen auf den Wellenkämmen. Davor liegt das Watt in herbstliche Farben getaucht. „Das ist unser Indian Summer“, sagt der Pilot der Cessna. Der Mann ist ein Routinier. Sanft setzt er die Maschine auf der nur 360 Meter kurzen Landebahn auf und bremst sie gefühlvoll ab. Draußen ist Schluss mit der weichen Tour. Der Wind wühlt die Haare durcheinander. Karen Kammer, die Leiterin des Nationalparkhauses auf Baltrum, hat sich mit einer Mütze gewappnet. Über die Dünen führt sie uns in den Ort mit den strengen Backsteinhäusern, vorbei an Hecken voller Kartoffelrosen mit dicken roten Hagebutten.

Dieses Nordsee-Gefühl stellt sich ein. Das Gefühl, der Naturgewalt ausgesetzt zu sein wie die karge Insel selbst. Zweigeteilt war sie schon einmal durch eine Sturmflut im Jahre 1720, an der Westseite hat sie viereinhalb Kilometer Land eingebüßt. Massive Steinschwellen, sogenannte Buhnen, schützen sie jetzt vor dem weiteren Abbröckeln.

Kurz informiert:

 Info: www.die-nordsee.de

 Geodaten: 53°46'20.2"N 7°44'15.8"E (Spiekeroog), Google Maps

 Gesundheit: Bei Lungenerkrankungen hilft das heilsame Klima der Nordsee. Der Schlick des Watts wird für Thalasobehandlungen genutzt.

 Nicht verpassen: Barfuß über den Meeresboden gehen und die Konsistenz des Watts spüren, sich eine Reflexzonenmassage der Fußsohlen in freier Natur gönnen und dabei in Bewegung sein.

 Besonderheiten: Das Wattenmeer der Nordsee ist eine rund 9.000 Quadratkilometer große, 450 Kilometer lange und bis zu 40 Kilometer breite Landschaft zwischen Dänemark im Nordosten und Niederlande im Südwesten. Den bei Niedrigwasser freiliegenden Grund der Nordsee bezeichnet man als Watt. Fast das gesamte Wattenmeer steht unter Naturschutz. Der deutsche Teil ist – außer den großen, als Schifffahrtsrouten richtigen Flussmündungen – als Nationalpark geschützt. Seit 2009 zählt das gesamte Watt zum Weltnaturerbe.

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