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1.2. Das Unendliche und das Dynamische – die neue Wissenschaft und die endgültige Entdeckung der Welt

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Die aufbrechende Dynamik von Wissenschaft und Technik war der wesentliche Motor, der Europa ab dem 18. Jh. in dem inzwischen globalen Wettbewerb zur führenden Position verhalf. Die Abbildung auf dem Titelblatt von Francis Bacons Magna instauratio, die ein Schiff zeigt, das mit geblähten Segeln, aus den Weiten des Ozeans kommend, die Enge von Gibraltar, die Grenze der alten Welt, durchfährt, ist ein eindrückliches programmatisches Signal für das Selbstverständnis dieser neuen Zeit. Bacons zupackender Optimismus der Unterwerfung der Natur durch den Menschen wurde nun in zunehmender Geschwindigkeit und mit erstaunlichem Erfolg eingelöst.

Die Qualität der Wissenschaft hatte sich verändert. Mit der Hinwendung zur mathematischen Beschreibung und zum Experiment im Schoß der beiden philosophischen Schulen der Neuzeit, des Rationalismus und des Empirismus, befreite sich die Wissenschaft aus den magischen Verstrickungen in der Zeit der Renaissance. Der alte Aristotelismus war durch Experimente und Beobachtung (z.B. durch das 1608 in den Niederlanden erfundene Fernrohr) über weite Strecken widerlegt. Die Wissenschaft befreite sich zudem aus dem Gängelband der Kirche. »Während die Erben Osmans in einem Dämmerzustand verharrten, trieben die europäischen Herrscher in der 2. Hälfte des 17. Jh.s die Forschung voran, ohne sich allzu sehr um die Einwände des Klerus zu kümmern.«

Ferguson 2011, 119

Eine wichtige Grundlage der neuen Wissensqualität war naturgemäß das gedruckte Buch. Es war nicht nur ein neutraler Kanal der Verbreitung von Wissen, sondern formte die Organisation dieses Wissens mit. Damit einher ging die Ablösung des Lateinischen als Wissenschaftssprache durch Nationalsprachen. Die Scholastik hatte das Latein auf einen formelhaften Kanon reduziert. Es war dadurch besonders für die empirisch gestützte Wissenschaft denkbar ungeeignet. In der frühen Neuzeit war es die Wissenschaft, die sich nicht auf eine, sondern auf eine Mehrzahl von Sprachen stützte.

Buchdruck

VI.2.0

Mit der von Descartes vorbereiteten, von Leibniz und Newton entwickelten Infinitesimalrechnung konnten unendlich kleine Intervalle quantitativ gefasst werden. Der Reiz der Mathematisierung, die jetzt nicht mehr wie im Platonismus eine metaphysische oder mythische Komponente hatte, sondern auf rationalen Kalkülen aufbaute, wurde immer stärker. »Das beginnende 18. Jahrhundert ist durchdrungen von der begeisternden, rauschhaft wahrgenommenen Einsicht, dass die Beschaffenheit der göttlichen Schöpfung und die sie beherrschenden Gesetze allein aus der Mathematik erkannt werden können. Überwunden ist die mittelalterliche Vorstellung, dass jedem Naturding sein Platz im Weltganzen durch seinen Zweck zugewiesen ist, was alle Fragen nach dem Wie notwendig offenlässt.« Die neue mathematische Sicht der Welt setzte das platonische Erbe, die Welt in die Zahl zu übersetzen, um – aber mit Blick auf die instrumentelle und pragmatische Seite.

Mathematisierung

Felsner 2010, 83

Mitte des 16. Jh.s war die schon in den arabischen Traktaten der Jahrtausendwende verbreitete Ansicht des Kopernikus Allgemeingut geworden, dass nicht die Erde, sondern die Sonne der Mittelpunkt des Kosmos sei. Viel von dem schon lange bekannten astronomischen Wissen wurde erst jetzt, im Zuge der neuen Emanzipation der Wissenschaft in der Renaissance, virulent und bei Galileo Galilei und Johannes Kepler in eine zeitgemäße Astronomie überführt. Über das schwierige Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kirche, wie es sich an der Person Galileo Galilei entzündete, wurde bereits berichtet. Ein besonderer Impuls mag die Entdeckung der Fernwirkung der Gravitation durch Isaac Newton gewesen sein. Gegenüber der bisherigen unmittelbaren Kraftübertragung von Druck und Stoß blickte man nun auf eine Wirkung über weite Distanzen. Diese revolutionäre Entdeckung wurde nur zögernd akzeptiert. Die Bewegungsgesetze der Planeten, die sich in einem durch Dynamik stabilen System befinden, wo sich Zentrifugal- und Zentripetalkräfte kompensieren, gab auch für andere Wissenschaften eine praktikable Folie ab. Pointiert zugespitzt könnte man im Unendlichen und Dynamischen jene Motive sehen, um die sich die Themen der Wissenschaft rankten. Marin Mersenne bemühte sich um den Nachweis eines harmonischen Gefüges für die gesamte Welt und die Gesellschaft. Dies exerzierte er auch in der Musik durch und gelangte 70 Jahre vor Bachs Wohltemperiertem Klavier zu wichtigen Einsichten zur Stimmungslehre. Carl von Linné nahm in seiner Systema Naturae (1735) eine Systematisierung der Pflanzenwelt in Angriff. Descartes’ Anspruch auf ein universales Wissenssystem spiegelt sich im Système de la nature (1770) des Julien Offray La Mettrie, in den physikalischen Schriften Isaac Newtons oder in Blaise Pascals Ordnungssystem. Auch die Erforschung des Blutkreislaufs durch Girolamo Fabrizio d’Acquapendente und seinen Mitarbeiter in Padua, dem Engländer William Harvey, nützte das Paradigma eines dynamisch-stabilen Systems.

Astronomie

VI.3.2.

Harrasser 2012, 213

Solche Ergebnisse der Wissenschaften waren durchaus alarmierend. Otto von Guericke ließ die Welt auf dem Magdeburger Reichstag 1654 mit der Vorführung seines Vakuum-Experiments mit den beiden zusammengefügten Halbkugeln, aus deren Hohlraum er die Luft abgepumpt hatte, erschauern. Erstmals hatte ein Mensch das »Nichts«, wie es vor der Erschaffung der Welt bestand, erzeugt. Prompt schrieb Joseph Priestley, dass die englische Kirchenherrschaft inzwischen vor einer Luftpumpe zittere. Eine Folge der Gasforschung war der erste Heißluftballon der Brüder Joseph Michel und Jacques Étienne Montgolfiere im Juni 1783. Im September desselben Jahres fand der erste Flug einer Montgolfière im Schloss Versailles mit einem Hammel, einem Hahn und einer Ente an Bord statt. König Ludwig XVI. und Marie Antoniette konnten sich mit eigenen Augen überzeugen, dass man Luftreisen mit einer solch »aerostatischen Maschine« machen kann, ohne Schaden zu nehmen. Im November fuhr der erste Mensch auf diese Weise durch den Himmel. Der Himmel gehörte jetzt dem Heißluftballon. Bereits damals sinnierten aufgeklärte Geister, wie Juri Gagarin 300 Jahre später, dass sich im Himmel kein Gott erspähen lasse.

Busch 1993, 480

Die Wissenschaft war nicht mehr ein Geschäft interesseloser Erkenntnisgewinnung, sondern sie war in technische und Wirtschaftsinteressen eingebunden. »Wissen ist Macht« konstatierte Francis Bacon zutreffend. Als globale Kommunikationsstränge dienten die Seewege, die inzwischen dank fortgeschrittener Schiffs- und Navigationstechnik bekannt und gesichert waren. Es galt, die letzten weißen Flecken der globalen Landkarte zu füllen. Dabei traf sich wissenschaftliche Neugier mit den Interessen der Wirtschaft.

Wissen ist Macht

James Cook, der bedeutende Kartograph und Navigator, revolutionierte die Seefahrt von Grund auf. Am 3. Juni 1769 beobachtete er auf Tahiti den Sonnendurchgang der Venus. Dadurch konnte der Abstand Erde-Sonne bestimmt werden, von dem sich mit den Keplerschen Gesetzen die Abstände der Planeten im Sonnensystem berechnen ließen. Zugleich entwickelten Wissenschaftler die Zeitbestimmung, sodass Schiffe auf dem ganzen Globus ihren Standort exakt bestimmen konnten. Cook, auf dessen Schiffen regelmäßig Wissenschaftler, Astronomen und Botaniker, mitfuhren, umsegelte und kartographierte Neuseeland und betrat als erster Europäer Australien (Neu-Holland). Er entdeckte Alaska und durchfuhr die Beringstraße. Der große Forscher und Entdecker, dessen Unternehmungen biologische, ethnologische, geographische und wirtschaftliche Forschungsreisen waren, kam durch einen Angriff Eingeborener auf Hawaii ums Leben.

Die Entdeckungen wurden ausführlich beschrieben und mittels neuer Drucktechniken vielen Interessierten zugänglich gemacht. Der Kupferstecher und Verleger Matthäus Merian hatte teils aus eigener Hand, teils als Verleger für andere neben bebilderten Bibeln (Merian-Bibel) Reisebücher, geographische und historische Stiche herausgebracht. Sein Hauptwerk, die Topographia Germaniae (1642–1654), enthielt über 2000 Ansichten von Städten, Schlössern und Klöstern. Bei manchen Beschreibungen finden sich Anleihen beim antiken Städtelob.

Hoppe 2008, 383

Die Anrainerstaaten der Meere profitierten mit ihren wohl-gehüteten Monopolen am meisten von dieser Entwicklung und sie machten viel Geld im Seehandel. Besonders England hatte die Nase vorne. 1739 überholte der Hafen von London jenen in Amsterdam, der im 17. Jh. der größte Hafen Europas war. Ein gewaltiger Wettbewerb der Handelsflotten nach Ostindien und nach Amerika (mit »Westindien«) fand statt. Seide, Baumwolle, Wein, Öl, getrocknete Früchte, Reis, Zucker, Tee, Kaffee und Gewürze, darunter vor allem Zimt, Gewürznelke, Pfeffer und die Muskatnuss, waren die begehrten Güter, die allein in England des Jahres 1776 auf knapp 10.000 Handelsschiffen, die erstmals bei Lloyd’s registriert waren, transportiert wurden. Wissenschaftler nützten die exotischen Geschäftsreisen und schlossen sich den Delegationen an, die sich in China um Handelsprivilegien mit Europa bemühten. Beide Seiten zogen aus den gemeinsamen Expeditionen Gewinn. Die Wissenschaftler konnten ihre Forschungen vorantreiben, die Geschäftsleute profitierten von der besseren Kenntnis des fremden Handelspartners. Die Ergebnisse der Reisen wurden rege publiziert. Auf diese Weise entstand das erste illustrierte Werk über China von Jan Nieuhoff, das 1665 auf Holländisch und Lateinisch (1669 folgte eine englische Ausgabe mit der als Appendix beigebundenen Zusammenfassung China Monumentis von Athanasius Kircher) in Amsterdam erschien. Fischer von Erlach nützte Nieuhoffs Bericht für seine Darstellung der chinesischen Architektur in seinem monumentalen Entwurf einer Historischen Architektur.

Seehandel

Rudé 1983, 77–105

Rykwert 1980, 65

1.5.6.

Die Exotik dieser neu entdeckten Welt im fernen Orient übte größten Reiz auf das Abendland aus. Jedes größere Stadtpalais plante ein chinesisches Zimmer, pagodenartige Türme gehörten zu einem englischen Garten und die chinesische Ornamentik fand man überall, nicht nur auf Porzellangeschirr, das im 19. Jh. wegen der Verfeinerung der Tischsitten in großen Auflagen in den Manufakturen angefertigt wurde. Das erste europäische Lustgebäude mit chinesischem Dekor soll das 1670 von Le Vau gebaute Trianon de Porcelaine für die Mätresse Ludwig XIV., Madame de Montespan (Françoise de Rochechouart), in Versailles gewesen sein. Für den kontinuierlichen Informationsfluss sorgten nicht zuletzt die vielen Missionare in China, an erster Stelle die Jesuiten.

Kluckert 2008, 202

Freilich waren die großen Erfolge auch immer wieder von Rückschlägen und Pleiten begleitet. 1720 ging die englische Südsee-Kompanie an allzu gewagten Spekulationen bankrott.

Die großen Verlierer dieser neuen Dynamik aber waren die alten Handelsmetropolen: Venedig, dessen Einwohnerzahl als einzige der größeren Städte im 18. Jh. stagnierte und die norddeutschen Hansestädte.

Kunstphilosophie und Ästhetik

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