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Wahnsinn

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Immer und immer wieder zwickte sich William mit Daumen und Zeigefinger der rechten in den Handrücken der linken Hand. Wie jedes Mal zuvor, konnte er den Schmerz spüren. Es war kein Traum.

Wir sind verloren, dachte er, während er scharf einatmete und die Luft anhielt. Schon leckten die Wellen der Unser wieder an seinen schon ganz aufgeweichten Füßen. Abermals wurde er ins bitterkalte Wasser hinabgelassen. Abermals war er vollständig untergetaucht. Die Wellen schlugen über seinem Kopf zusammen und ihn umfing absolute Stille und völlige Finsternis. Es war mitten in der Nacht, der Himmel war von Wolken bedeckt, weder Mond noch Sterne erhellten den dunklen Fluss, in dem man ihn wieder und wieder versenkte. Eine halbe Ewigkeit kämpfte er in der Dunkelheit gegen das Ertrinken an, bis er spürte, wie das Seil, das man an seinen gefesselten Handgelenken befestigt hatte, wieder nach oben gezogen wurde. Die matschige, weiche Haut darunter hing bereits in blutigen Fetzen herab. Seine Hände fühlten sich seltsam taub an.

Mit gesenktem Kopf tauchte William wieder aus den Fluten auf, spuckte modriges Flusswasser aus und japste verzweifelt nach Luft. Er hatte kaum zwei Atemzüge getan, da drehte der Soldat in der schwarzen Rüstung mit dem roten Wappen darauf die Seilwinde bereits wieder in die entgegengesetzte Richtung. William zappelte hilflos wie ein Fisch am Haken, als seine Beine bereits erneut untertauchten. Er holte ein weiteres Mal röchelnd Luft und fand sich bald erneut in der tiefen Schwärze der Unser wieder. Dann holte man ihn wieder herauf, ließ ihn wieder ab, holte ihn wieder herauf ... Seine Peiniger wiederholten die Prozedur noch dreimal, bis William völlig kraftlos am Seil hing, am ganzen Körper zitterte und nur noch flach atmen konnte. Seine Lungen brannten, sein ganzer Körper triefte vor Wasser und er konnte kaum die Augen offen halten.

„Ihr bringt ihn noch um!“, schrie Späher und wand sich in seinen Fesseln am anderen Arm des hölzernen Krans. „Lasst den Jungen gehen!“

Grau, der Graf von Ruder, ergriff das Wort. William konnte den kleinen Mann nur verschwommen sehen, erkannte ihn aber am Pfeifen seiner Zahnlücke, wenn er sprach.

„Seht ihn euch an, den tapferen Mann, der für seinen Freund einsteht. Bist du neidisch? Weil der Junge baden durfte und du nicht?“ Er lachte unverschämt. „Keine Sorge, du bist gleich dran.“

Er gab dem Soldaten an der Seilwinde ein Zeichen, der daraufhin den hölzernen Kran herumschwenkte, sodass William in Richtung Ufer und Späher über den Fluss gehoben wurde. Kaum hatte man den Haken der Seilwinde von seinen Fesseln gelöst, stürzte William. Seine Fußsohlen berührten ganz kurz den glitschigen Steg im Hafen zu Ruder – dann gaben seine Beine nach und er landete hart auf den Knien. Unerklärlicherweise brachte er irgendwie die Kraft auf, sich mit gefesselten Händen abzufangen, um nicht mit dem Gesicht aufzuschlagen. Nur undeutlich nahm er wahr, wie Späher an seiner statt in der Unser versenkt wurde.

William hustete Wasser aus. Seine Lungen fühlten sich vollkommen unbrauchbar an. Die Luft war zu trocken, um sie atmen zu können. Es fühlte sich an, als würde er außerhalb des Wassers ertrinken.

„Wollt ihr nun endlich reden?!“ Wut mischte sich in die süffisante Stimme des Grafen.

Späher war eben zum zweiten Mal aus der Unser aufgetaucht. Er prustete. „Nein!“, keuchte er, bevor man ihn wieder hinunterließ.

„Und du?“, fragte Grau leise.

William konnte seine Stiefelumrisse vor sich auf dem Steg sehen. Des Sprechens nicht mehr mächtig, schüttelte er nur leicht den Kopf. Er würde Späher folgen, wenn nötig bis in den Tod. Wenn er nicht aufgab, würde William das auch nicht tun.

Das einzige Problem war ...

„Johanni! Süßer, kleiner Johanni. Was meinst du? Möchtest du uns nicht sagen, warum ihr im Hagelhaus herumgeschnüffelt habt? Es wird alles gut, wenn du mir die Wahrheit sagst, Kleiner. Dann kannst du mit deinen beiden Freunden wieder nach Hause gehen.“ Lächelnd ging der Graf vor dem kleinen Jungen in die Hocke. „Was meinst du, hm?“

Furchtlos sah der Vierjährige dem Grafen von Ruder ins Gesicht. Er saß am Ufer im Gras, unfähig, aufzustehen, da man ihm seinen Gehstock abgenommen hatte. Ganz kurz nur sah er hinüber zu Späher, der gerade mit einem Platschen wieder untertauchte.

Erst dann antwortete er: „Späher sagt, du bist ein böser Mann. Ihr alle seid das.“

Er schaute in das gute Dutzend schemenhafter Soldatengesichter, die von flackerndem Fackelschein erleuchtet waren. Am Freiherren von Hagel, der gleich neben der Seilwinde stand, blieben seine unschuldigen Kinderaugen hängen. Er legte den Kopf schräg.

„Du bist der böse Mann. Du bist es.“

Dann verschränkte er trotzig die Arme und sagte nichts mehr. Grau bohrte weiter, drohte ihm, schmeichelte ihm, bat ihm eine Belohnung an – aber Johanni schnaubte nur und schmollte weiter.

Währenddessen war William Stück für Stück auf Unterarmen und Knien über den Steg gekrochen. Er keuchte, kämpfte damit, nicht das Bewusstsein zu verlieren und bemühte sich, normal zu atmen. Seine Kehle war so trocken! Ganz langsam robbte er zum Wasser und beugte sich über den Rand. Verzweifelt versuchte er, an die Wasseroberfläche zu gelangen. Er streckte die gefesselten Hände aus, schob sich weiter nach vorne – aber er konnte das Wasser nicht erreichen. Schließlich lag er auf dem Bauch, das Gesicht gegen das modrige Holz gepresst und streckte mit letzter Kraft die Arme aus. Tatsächlich berührten seine Fingerspitzen die Wasseroberfläche – doch es gelang ihm nicht, Wasser zu schöpfen. Dünne Rinnsale von hellrotem Blut rannen an seinen aufgescheuerten Handgelenken hinab und tropften in den schwarzen Fluss.

Letzten Endes zog er die Hände wieder zurück, blieb am Rand des Stegs liegen und betrachtete sein schemenhaftes Spiegelbild im Wasser. Es war von goldenem Licht umgeben, das von der Fackel herrührte.

Eine ganze Weile blickte er in sein Antlitz, während Späher immer wieder in die Unser getaucht wurde. Nächtliche Vögel sangen, Blätter rauschten sachte im Wind, Schiffe wiegten sich auf den leichten Wellen im Hafen auf und ab. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag, sein Atem wurde gleichmäßiger, auch wenn immer noch jede Pore seines Körpers schmerzte. Mit der Atemnot schwand die Schwäche und mit dem Schmerz kam der Zorn. Er hasste diese Männer, er hasste sie alle. Wie konnten sie es wagen, so mit ihnen umzugehen?! Gewiss, sie waren keine Kinder mehr, das Leben auf der Straße hatte sie abgehärtet und stark gemacht. Dennoch waren sie lange nicht erwachsen. Grau würde es bereuen. Fürchterlich bereuen. William war nur froh, dass seine geliebte Robin sie nicht begleitet hatte, sondern auf dem Hof der Familie Kornblum in Sicherheit war.

Plötzlich schlugen kleine Wellen gegen den Steg und Williams Spiegelbild verzerrte sich auf groteske Weise. Ganz still, begleitet nur von einem leisen Plätschern, tauchte ein Kopf aus dem Wasser auf, genau da, wo William lag. Zuerst sah er nur einen schwarzen Haarschopf, dann kamen in der Dunkelheit ebenso schwarze Augen, eine Hakennase und ein zusammengekniffener Mund zum Vorschein. Das Gesicht des noch unentdeckten jungen Mannes war hässlich. Seine linke Schläfe war eingedrückt und mit dem blau geschlagenen Auge verschwollen, seine Hakennase war mehrfach gebrochen, bucklig und blutverkrustet, die Lippe war aufgeplatzt und eiterte, um das rechte Auge war ein Bluterguss entstanden, die linke Wange war zerkratzt, und, und, und ... Es schien nicht eine Stelle zu geben, auf die man nicht eingeschlagen hatte – selbst unter dem dichten, schwarzen Zottelhaar zeichneten sich mehrere Beulen ab.

Bevor William seine Überraschung irgendwie zum Ausdruck bringen konnte, legte der Fremde ihm einen Finger an die Lippen und schüttelte ganz leicht den Kopf. Sein eindringlicher Blick sprach Bände – nur keinen Mucks, sonst war alles verloren. William beobachtete, wie der junge Mann eine Hand auf den Steg legte und sich vorsichtig hochzog, um über seinen Kopf hinweg zu schauen.

„Nicht umdrehen“, wisperte er William mahnend ins Ohr. „Sieh mich nur an und rühr‘ dich nicht.“

Langsam und kaum merklich bewegte William den Kopf und nickte. Aus dem Augenwinkel meinte er zu erkennen, dass auch Späher den Fremden bemerkt hatte.

„Mein Name ist Schnitzer. Ich rette euch.“

Inzwischen wurde die Seilwinde wieder gekurbelt, Späher schwebte zurück zum Ufer und schlug auf dem rutschigen Steg auf. Keuchend und nach Atem ringend wand er sich auf dem Boden.

„Steh auf, komm schon. Mach nicht so ein Theater. Und wehe, du übergibst dich, du Weichei“, blaffte ihn der Freiherr von Hagel an. Es war das erste Mal, dass William Hagel sprechen hörte.

Ein Soldat trat heran und zog Späher gewaltsam auf die Füße, dem man tatsächlich ansah, dass ihm übel war. Er schluckte mehrmals und taumelte im Griff des Soldaten.

Unvermittelter Hass durchflutete William. Er wollte ebenfalls aufstehen, wollte loslaufen und sie alle totschlagen, sie alle lehren, was es hieß, seinem Freund weh zu tun. Aber er war doch nur ein ängstliches Kind, das es nicht wagte, sich den bösen Männern entgegenzustellen. Aber wie sehr hasste er sie alle. Den Grafen, den Freiherren, jeden einzelnen Soldaten. Er konnte es vor seinem inneren Auge sehen, wie auch sie an der Seilwinde hingen. Wie sie wieder und wieder untertauchten, bis ihnen ebenfalls übel war. Er stellte sich vor, wie sie würgten, sich krümmten und sich über ihre eigene Kleidung erbrachen – irgendetwas war in ihm zerbrochen, das bemerkte er jetzt. Wenn es Wahnsinn war, der von ihm Besitz ergriffen hatte, dann war dies ein wunderbares Gefühl. Er fühlte sich so unbändig zornig, mächtig und unsterblich.

Er warf einen Seitenblick auf Schnitzer und entdeckte in dessen Gesicht genau die gleichen Gefühle. Er konnte regelrecht sehen, wie Hass und Zorn wuchsen und wie sich bittere Entschlossenheit in seinen Zügen breitmachte. Sein deformiertes, zerstörtes Gesicht konnte seine wie Feuer lodernden Emotionen nicht verbergen, sondern verstärkte sie eher noch.

„So, dann also das gleiche Spiel nochmal. Wirst du mir endlich sagen, WAS – IHR – VORHATTET?“, bellte der Graf Späher ins Gesicht. „Warum spioniert ihr im Haus meines Vasallen herum, hä? Ich hätte ja gar nichts davon mitbekommen, wären meine Soldaten nicht zufällig vor Ort gewesen.“ Er warf Hagel einen giftigen Blick zu, wandte sich aber gleich wieder dem Jungen zu. „Wer schickt euch? In wessen Auftrag handelt ihr? Rede!“

Späher spuckte aus. „Wir haben dir gar nichts zu sagen.“

Der Graf schob verärgert das Kinn vor. Dann gab er dem Freiherren einen Wink, worauf dieser vortrat. Er musterte Späher einen Moment lang – dann schlug er ihm die behandschuhte Faust in die Magengrube. Späher krümmte sich und wäre wohl gefallen, würde ihn der Soldat nicht immer noch eisern festhalten. Erneut rang er mit dem Brechreiz, spuckte dem Freiherren schließlich Blut vor die Füße.

„An deiner Stelle würde ich folge leisten. Das könnte ausgesprochen hässlich für dich werden“, raunte Hagel ihm zu.

Tu etwas!, formte William mit den Lippen. Zur Antwort packte Schnitzer Williams Hände und begann vorsichtig, seine Fesseln zu lösen. Doch er tat sich schwer mit dem nassen Seil und William musste hilflos zusehen, wie Späher ein zweites Mal geschlagen wurde, wieder Blut spuckte und mit bitterbösem Blick beteuerte, dass sie nichts aus ihm herausbekommen würden.

Er brauchte einige Anläufe, bis er sagte: „Es scheint, … als hättest du … ein paar Probleme, dich hier einzufinden, Grau.“

Der Graf von Ruder hob eine Augenbraue. „Wie bitte?“

„Die Menschen … hassen dich. Du kannst dir ihre Loy-alit-ät … nur durch Angst erkaufen. Sie lie-ben dich nicht. Du hättest den alten Grafen … nie fortschicken dürfen. Du wirst … hier nie heimisch werden.“ Ein gequältes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Wie lebt es sich … mit so vielen Leben auf den Gewissen, Ha-gel? Wie ist es, in dem H-aus zu schlafen, wo sie verbrannt sind? Hörst du ihre Stimmen … manchmal?“

„Ich wüsste zu gerne, wo du diese Dinge aufgeschnappt hast, Junge“, fragte der Graf mit sichtlicher Neugierde.

Späher sprach weiter. „Ihr habt beide … einen großen Fehler gemacht. Ich werde sie rä-chen. Ihr werdet sehen. Keine ruhige Nacht werdet ihr noch haben.“

„Weißt du... Ich habe einen ausgesprochen guten Schlaf. Ruhig und traumlos. Ich lasse mir das ganz bestimmt nicht von einem wie dir verhageln – verhageln! Ha, bin ich nicht gut? Verhageln! Oh, der Wahnsinn. Was meint ihr, Hagel?“

Hagel kam leider nicht mehr dazu, zu antworten. Denn während Späher gesprochen hatte, waren Schnitzer und William aufgesprungen und zum Ufer geschlichen. Unterwegs hatte Schnitzer bereits vier Soldaten lautlos die Kehlen durchgeschnitten, sodass sie keinen Alarm schlagen konnten. Während der Graf nun über seinen eigenen Witz lachte, stürmten die beiden los. William machte sich sofort daran, Johanni seinen Stock wieder zu bringen, damit der Vierjährige aufstehen und notfalls weglaufen konnte, falls etwas schief lief. Schnitzer hatte sich den Speer eines toten Soldaten angeeignet und streckte damit sogleich zwei weitere nieder, bevor sich die Aufmerksamkeit der anderen ihnen zuwandte.

Während der Graf von Ruder völlig perplex dastand, brüllte der Freiherr von Hagel bereits laut Befehle. „Nein! Was geht hier vor?! Fangt sie! Lasst die Jungen leben, tötet den Mann! Formiert euch, ihr Unfähigen!“ Er selbst zog nun auch sein Schwert und rannte Schnitzer entgegen.

William half unterdessen dem kleinen Johanni auf die Beine und schob ihn schützend hinter sich. Suchend ließ er seine Augen über ihre Gegner schweifen, hielt Ausschau nach dem kleinen verrosteten Messer, das ihm sein Vater einst geschenkt hatte. Zusammen mit dem Amulett, das er unter seinen Kleidern versteckt um den Hals trug, war das Messer alles, was ihm von seinem Vater, einem begnadeten Dichter ohne Budget, geblieben war. Er hatte es stets bei sich. Vorhin hatten sie es ihm abgenommen, er musste es also unbedingt wiederfinden. Außerdem brauchte er ohnehin eine Waffe.

Nur ein paar Schritte entfernt rammte Schnitzer eben einem Soldaten den Speer in die Kniekehle, bevor der Schaft schließlich brach und ihm nur noch ein zersplitterter Holzstecken übrig blieb. Zwei weitere Soldaten nutzten seine vorübergehende Schwäche aus, um ihn anzugreifen. Einer schlug ihm mit dem Schwert – zum Glück mit der flachen Seite der Klinge, andernfalls hätte es Schnitzer wohl den Schädel gespalten – auf den Hinterkopf, was Schnitzer in die Knie zwang. Der andere machte einen Ausfallschritt nach vorne, um ihm das Schwert in den Oberschenkel zu treiben – da traf ihn ein Faustschlag seitlich am Kopf und ließ ihn taumeln. Erfreut erkannte William, dass es Späher war, der Schnitzer zu Hilfe eilte.

Offensichtlich hatte er sich befreien können. Der Junge versetzte dem Soldaten einen zweiten Schlag gegen die Seite, woraufhin dieser sich keuchend krümmte. Und bevor er in die Offensive gehen konnte, schlug Schnitzer ihm einen Stein in der Größe einer kleinen Friedensmelone gegen die Stirn. Blut spritzte Schnitzer ins Gesicht und der Soldat fiel ihm mit zermatschtem Gesicht vor die Füße.

Schnitzer nahm den Schwung mit und wirbelte herum zu dem Soldaten, der ihm eben den Hinterkopf zertrümmern wollte. Mit einem weiten Schwinger warf er ihm den Stein entgegen, der den Angreifer von den Füßen riss und dabei eine gewaltige Delle in dessen Brustpanzer hinterließ.

Doch nun standen Schnitzer und Späher wieder ohne Waffen da. Der Freiherr von Hagel zögerte keinen Augenblick. Ein Rückhandhieb mit dem Schwert genügte, um Schnitzer umzureißen und ihm eine tiefe Wunde in die Wade zu schneiden. Mit einem schmerzvollen Aufschrei stürzte er ins Gras, wo ihn zwei Soldaten festhielten.

Späher wich Schritt für Schritt vor Hagel zurück. William wollte ihm zu Hilfe eilen, doch der Graf von Ruder riss ihn zurück und stieß ihn zu Boden. Die Spitze seines Dolches war auf Williams Adamsapfel gerichtet. Nun standen sich beide Jungen gegenüber – jeder mit einer kalten, scharfen Klinge an der Kehle. Späher hatte den Hals gestreckt und das Kinn nach oben gerichtet, als könne er so der blutigen Schneide von Hagels Schwert entfliehen, die an seine Kehle gepresst war. Sein Atem ging schwer, die Augen waren vor Furcht verdreht und an seinem Kinn lief ein dünnes Rinnsal Blut hinab, wie ein roter Faden.

„Liebe Kinder“, säuselte Grau, der Graf von Ruder, während er beiläufig gegen Johannis Stock trat.

Der kleine Junge plumpste neben William ins Gras. Trotzig verschränkte er die Arme und schob beleidigt die Unterlippe vor. Der Junge schien überhaupt keine Angst zu haben. Entweder er verstand nicht recht, was geschah, oder er hatte mehr Mut als die anderen drei zusammen.

„Begreift es doch, ihr könnt nicht gewinnen. Wenn ihr euch weiterhin widersetzt, wird das unschön für euch enden, ihr Lieben. Wobei ich zugeben muss: reife Leistung. Ihr habt sieben meiner Männer getötet und zwei verwundet. Oder besser: Du warst das.“

Der Graf befahl einem der drei übrigen Soldaten, William zu bewachen und schritt fast vorsichtig auf Schnitzer zu, der auf dem Bauch lag. Zwei Soldaten hielten seine Arme fest. Mit der Stiefelspitze trat Grau dem Geschlagenen auf die Hand.

„Oh, entschuldige!“ Schnitzers Handknöchel knirschten, als Grau begann, seinen Stiefel hin und her zu drehen und die Spitze noch etwas fester in die Hand zu drücken. „So ist es besser, nicht wahr?“

Eine Weile sah ihn der Graf nur von oben herab an, runzelte die Stirn und legte den Kopf schräg.

„Wer bist du?“

„Aah ... Bitte. Ich wollte nur den Jungen helfen, bitte. Aah ...“, stöhnte Schnitzer. Weil er den Kopf nicht bewegen konnte, verdrehte Schnitzer die Augen und spähte nach hinten zu seinem Bein. Bei jedem Atemzug trat glänzend schwarzes Blut aus der tiefen Wunde. In der Dunkelheit war alles Blut schwarz.

„Falsche Antwort.“

Der Graf nahm den Fuß hoch und setzte eben dazu an, seinen Männern einen Befehl zu geben, da erhob sich der Soldat mit dem eingedrückten Brustpanzer schwerfällig auf ein Knie und rief ihm zu: „Erlauchter Herr Graf. Verzeiht. Ich kenne den Mann.“

Auf Geheiß von Grau stemmte sich der Soldat mit den kalten schwarzen Augen unter Stöhnen hoch und und humpelte ein paar Schritte auf Schnitzer zu, wobei er seine Waffe – einen zwei Meter langen Streitflegel – wie einen Gehstock benutzte.

„Sprich“, forderte ihn der Graf von Ruder auf.

„Seinen richtigen Namen kenne ich nicht, Erlaucht. Alle nennen ihn Schnitzer – wohl, weil sein Vater Tischler ist und er hier sehr gut schnitzen kann. Seine Familie lebt schon lange in Markt Ruder. Sie waren nie gern gesehen. Seine Mutter war eine Hure. Als sein Vater erfahren hat, dass er sie geschwängert hat, tat er etwas, das ein rechtschaffener Mann nicht tut.“

„Halt dein Maul, du Elender!“, schrie Schnitzer, wurde aber nicht beachtet.

„Er hat sie geheiratet, die Schlampe. Hat sich im ganzen Ort herumgesprochen. Eine Türmerin hat kein Recht, hinter festen Mauern zu wohnen. Aber durch die Heirat hat er ihr dieses Recht gewährt – und sich selbst zur Schande gemacht. Sein Sohn ist in aller Augen ein Bastard – ein Hurensohn.“

„Verfluchter! Elender!“ Schnitzer wand sich in den Armen der Soldaten, kam aber nicht frei.

Grau nickte. „Ist er deshalb so aufmüpfig?“

„Es scheint so, Erlaucht. Es ist ihm entsagt, den Ruderburschen beizutreten, weil er kein rechtmäßiger Bürger von Markt Ruder ist. Er wollte Soldat werden, der Idiot. Natürlich wird er nicht genommen, der Hurensohn. Erlaucht, er ist ein Verbrecher. Er steht dem Militär ganz offen feindselig gegenüber. Er prügelt sich mit Ruderburschen und Soldaten, wurde schon zweimal bei Sabotage unserer Einsätze erwischt und hatte erst vor zwei Tagen eine Auseinandersetzung mit einer Truppe Soldaten. Meiner Truppe, um genau zu sein, Erlaucht.“

„Daher die Verletzungen. Verstehe. Ich dachte schon, er wäre eine Missgeburt. Aber wenn er Glück hat, geht das wieder weg.“ Grau lachte ein paar Mal laut auf. „Du meinst also, er tut das hier nur, um uns eins auszuwischen? Ohne die geringste Ahnung, worauf er sich einlässt?“ Als der Soldat nur mit den Schultern zuckte, sprach er weiter. „Ein armer, naiver, unschuldiger Bastard. Bist du das?“

„Ich bin kein Bastard.“

„Nein? Aber deine Mutter ist eine Hure. Was sonst könntest du sein?“

„Sie ist keine Hure. Sie war eine Dirne, aber jetzt ist sie eine ehrbare – “

„Hure.“

„Nein, du verdammter ... !“

Der Graf von Ruder knirschte mit den Zähnen. „Ja? Sag schon. Verdammter ... was? Hm?“

Schnitzer schlug die Augen nieder. „Ich ... Ich wollte nicht ...“

„Was? WAS? Rede!“ Grau trat ihn gegen die Schulter.

„Entschuldigt!“, heulte Schnitzer auf.

Plötzlich klang er wahnsinnig verängstigt, wie ein Hund, der nach seinem Herrn schnappt und dafür Schläge erwartet. Ein Hund, der zu hart und zu oft geschlagen wurde. Unterwürfig und ergeben lag er da.

„Ich wollte Euch nicht beleidigen, ehrlich! Es tut mir leid! Ich hab solche Schmerzen ...“

„Schmerzen. Ach so. Helft ihm“, wies er die Soldaten an, die Schnitzer auf den Boden drückten.

Die beiden zögerten. Als sie erkannten, dass der Graf süffisant lächelte, ließen sie Schnitzer los und erlaubten ihm, sich ein wenig aufzurichten. Da sauste der erste Hieb herab. Die Keule traf Schnitzers Rücken und ließ ihn sofort wieder zusammenbrechen. Beim ersten Schlag hatte er aufgeschrien. Beim zweiten und dritten Hieb aber hatte er die Kraft, sich zusammenzureißen. Sein Gesicht war ins Gras gepresst und seine Zähne gruben sich in die Erde, wo sie versuchten, Halt zu finden und sich fest zu beißen. William schmeckte unwillkürlich Galle bei diesem Anblick.

„Nein!“, schrie Späher. Aber sein Protest wurde im wahrsten Sinne des Wortes im Keim erstickt, als der Freiherr von Hagel ihm den Mund zuhielt.

„Bitte! Bitte, aah! Nein! Bitte, lasst – aah!“, stieß Schnitzer zwischen den Schlägen hervor. „Bitte, nicht weiter schlagen, ich tu alles, was ihr wollt! Bitte, nein! Ich werde ein guter Mensch, ich – aah! Nein, das tut weh, nein! Bitte!“ Langsam schwenkte sein Tonfall um. „Ihr verfluchten Schweine! Warum?? Grau, du verfluchter – aah! Verdammtes Ar – aah! Lass mich in Frieden!“ William begriff nicht, wie Schnitzer es schaffte, doch er schien tatsächlich immer wütender zu werden, je mehr Hiebe er einstecken musste.

Und dann geschah das Unfassbare. Schnitzer brachte sein rechtes Bein irgendwie unter einen der Schläger und trat ihm mit aller Kraft, die er noch hatte, gegen das Schienbein. Der Soldat verlor das Gleichgewicht und stürzte. Schnitzer wand ihm die Keule aus der Hand und schlug sie dem anderen gegen den Unterkiefer, der mit einem grauenvollen Knirschen brach.

„Rührt mich nie wieder an!“, brüllte er die beiden Soldaten zu seinen Füßen an, als er sich hochgerappelt hatte.

„Und du!“ Er wandte sich an den Grafen von Ruder, der mit erhobenen Händen zurückwich. „Ich hab genug von dir, Grau! Du kannst nicht alle deine Probleme wegprügeln. Du sadistischer, alter Sack! Aber wenn dir Prügel so gut gefallen, dann bitte.“

Die Keule in Schnitzers Hand glänzte blutrot im Schein der Fackeln, als er sie über den Kopf hob. Seine Kiefer bebten vor Hass und Schmerz, als er mit fast zärtlicher Stimme sprach: „Und jetzt stirb.“

Mythalia

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