Читать книгу Mythalia - C. Berz - Страница 6

Stürmische Nächte

Оглавление

Der Himmel verdunkelte sich zusehends. Dichter und dichter wurden die Wolken. Aus einem lauen Sommerlüftchen entwickelte sich rasch ein pfeifender, kühler Wind, der das Gras niederdrückte und Wellen auf der Wasseroberfläche der Unser entstehen ließ. Ganz leicht nur kräuselte sich das Wasser, verzerrte die Spiegelbilder der Bäume und Gräser bis zur Unkenntlichkeit. Auf einmal wirkte der Fluss düster und bedrohlich. Das Licht drang nur noch schwach durch die Wolken und nahm die Farbenvielfalt der Welt mit sich fort.

Doch die Welt störte sich nicht daran. Das fröhliche Trällern der Vögel drang unaufhörlich durch den Wald. Dutzende verschiedene Arten zwitscherten ihre Lieder weiter, das Hämmern eines Schwefeltrommlers klang durch die Luft. Die Dämmerung lockte aber auch die Geschöpfe der Nacht langsam hervor.

Eine kleine Fledermaus schoss zwischen den dichten Blättern einer Baumkrone hervor und flog in raschem Zick-zack auf eine weite Grünfläche hinaus, die sich in einer ausladenden Kurve der Unser mitten im Wald auftat. Ein Mädchen saß dort, auf einem mit gelbem Eselskraut bewachsenen Stein, unweit des Flussufers. Linnea blickte auf, als sie das helle Pfeifen der Fledermaus vernahm und strich sich das dunkelbraune Haar hinter eines ihrer Ohren, um sie besser betrachten zu können. Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Für eine Türmerin war Linnea außergewöhnlich hellhäutig. Die Türmer waren Nomaden und konnten es sich nicht leisten, teure Unterkünfte zu bezahlen – abgesehen davon durften sie ohnehin nur außerhalb der Städte lagern. Auch dieses 17-jährige Mädchen war also ohne jeglichen Luxus aufgewachsen, hatte nie hinter dicken Mauern in einem weichen Bett mit unzähligen Kissen geschlafen und war ohne Diener und Kammerzofen ausgekommen, die sie jeden Morgen weckten und in prunkvolle Seidengewänder kleideten. Linneas Kleidung bestand aus einer schmutzigen, ausgefransten Hose und ebenso verdreckten und ausgetretenen Korbsandalen, sowie dem für Spielleute typischen bunten Überwurf aus einem groben, sackartigen Stoff.

Einen Augenblick lang sah Linnea der Fledermaus zu, wie sie ihr ein paar Mal pfeifend um den Kopf schwirrte, bis sie schließlich einen Haken in der Luft schlug und hinter dem Mädchen zwischen den Zelten der Spielleute verschwand. Das halbe Dutzend Zelte gab ein armseliges Lager ab, dort neben dem großen Gutshof am Rande des kleinen Ortes Markt Ruder.

Das Türmermädchen wandte sich den Zelten zu. Die dünnen Planen flatterten im Wind und die Glockenspiele vor den Zelteingängen klimperten um die Wette. Sonst rührte sich nichts. Ein Schatten hatte sich über das Lager gelegt wie ein unsichtbares, drohendes Unheil. Doch die Stille und die Düsternis lagen nicht nur am Wetter. Die Dämmerung brach herein.

Ein Gefühl sagte Linnea, dass es noch lange nicht regnen würde, doch sie beschloss trotzdem, zurückzukehren. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und schlang die Arme um ihren Körper, um sich vor dem plötzlich schneidenden Wind zu schützen. Eben schaute sie sich noch ein letztes Mal um, da blieb ihr Blick an etwas auf der anderen Seite des Flusses hängen. Linnea kniff die Augen zusammen – doch dann wandte sie sich ab und stapfte zu den Zelten zurück, während sie sich einredete, sich die Bewegung zwischen den Bäumen am anderen Ufer nur eingebildet zu haben.

Achtlos lief sie an den ersten Zelten vorbei – deren Bewohner kannte sie nicht, es war das erste Mal, dass das ganze Lager aus für sie völlig fremden Türmern bestand. Das Mädchen näherte sich dem letzten Zelt in der Reihe. Die Zeltplanen waren bereits alle heruntergeschlagen und fest verschnürt, um dem nahenden Sturm standhalten zu können. Auf die weiße Plane war ein farbiges Wappen gestickt. Ein silberner Turm auf rot-weißem Grund – das Zeichen der Spielleute. Daneben hieß es in verschnörkelter Schrift: Die Muskelfurchen und gleich darunter war noch ein kleineres Symbol gestickt: Es stellte den Umriss eines Mannes dar, der mit seinen nach oben gereckten Oberarmen prahlte.

Die Männer dieser Familie hatten wohlgeformte Muskeln, die sie gerne zur Schau stellten. Sie verdienten ihr Geld mit Vorführungen ihrer Stärke und Ausdauer. Dabei kämpften sie regelmäßig mit Schwertern und Felsbrocken oder rangen mit wilden Tieren. Ihre Körper waren vernarbt und ihre weitbekannten Muskeln wiesen tiefe Furchen auf, woraus schließlich mit der Zeit ihr Familienname entstanden war.

Auf dem lockeren Kiesboden vor dem Zelteingang lag eine weiße Lichtwölfin. Sie hob den Kopf, als Linnea näher trat.

„Na, Räubertochter?“, sprach sie die Wölfin an und bückte sich, um ihr das pelzige Kinn zu kraulen. Das Tier brummte zufrieden und rutschte demutsvoll zur Seite, damit das Mädchen eintreten konnte.

„Achte gut auf uns, ja?“, flüsterte Linnea der Wölfin zu, bevor sie die Eingangstür – in den Stoff eingenähte, dünne Holzbretter – zur Seite schob und das Zelt betrat.

Drinnen empfingen sie wohlige Wärme und blauer Kerzenschein. Das halbe Dutzend flackernder blauer Kerzenflammen vermittelte Linnea eine Geborgenheit, wie man sie nur Zuhause spüren konnte. Der Sturm hatte das Lager inzwischen erreicht und heulte um das Zelt, doch der dicht gewebte Stoff hielt Kälte und Wind ab.

Ein anderes Geräusch übertönte das Pfeifen des Windes: der Gesang ihrer Mutter. Sie saß auf einem dreibeinigen Holzschemel, ein aufgerolltes Blatt Pergament in den Händen, und sang konzentriert, was sie las. Eine wundervolle Stimme hatte sie. Sie musste sich nicht anstrengen, sie sang einfach. Sie war geboren, um zu singen, um die Herzen ihrer Zuhörer zu erfreuen. Auf den Märkten sang und tanzte sie für ein breites Publikum, während ihre Tochter die Begleitmusik spielte. Die Lieder, die sie vortrug, stammten allesamt aus der Feder ihrer Tochter.

Von ihren Zuhörern wurden die beiden oft für Schwestern gehalten. Linneas Mutter wusste die kleinen Fältchen um ihre Augen gekonnt mit dem Saft gestampfter Beeren zu kaschieren. Die beiden schminkten ihre Gesichter auf die gleiche Art und Weise, sodass man kaum mehr einen Unterschied erkannte. Lediglich ihre Hautfarbe unterschied die beiden voneinander. Die Mutter besaß die für Türmer übliche, von der Sonne gebräunte Haut, während ihre Tochter die vornehme Blässe ihres Vaters geerbt haben musste. Dunkelbraunes Haar und dunkelrot geschminkte Augen waren die Markenzeichen der Linnie-Schwestern, wie sie unter den Türmern genannt wurden. Lannie und ihre Tochter Linnea waren besonders in Markt Ruder gerne gesehene Berühmtheiten.

Linnea blieb im Eingang stehen und lauschte der engelsgleichen Stimme ihrer Mutter, wie sie die letzten Strophen eines schönen aber düsteren Liedes sang:

„Die Nebel am Grunde, sie singen

Von Asche und Feuer und Glut.

Das Wasser, es dürstet nach mir

Und schäumt bis zum Morgen vor Blut.


Der Rauch des Schicksals vergeht.

Der Schatten zur Sonne hin blickt.

Blutiger Nebel verebbt,

Vom Schatten fortgeschickt.“

Lannies Stimme wurde leiser, bis sie völlig vom Heulen des Windes verschluckt wurde, doch das traurige Lied hallte im Kopf ihrer Tochter noch lange nach und säte Schwermut in ihrem Herzen. Als sie geendet hatte, wandte Lannie sich ihrer Tochter zu und lächelte. Sofort wich die Traurigkeit, die der Gesang hinterlassen hatte, einem Gefühl von Vertrautheit und Wärme.

„Da bist du ja.“

Linnea trat näher und griff nach dem Blatt Pergament, das ihre Mutter vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Nachdenklich betrachtete sie es und erkannte ihre eigene Note in der Schrift.

„Ist das von mir?“, fragte sie überrascht.

Lannie lächelte. „Das ist eines deiner ersten Werke. Wenn ich mich nicht täusche, ist es sogar das Erste, das du speziell für meine Stimme geschrieben hast.“

„Wirklich? Das weiß ich gar nicht mehr …“

Mit einem Schulterzucken rollte Linnea das Blatt wieder zusammen und legte es zurück. Dann ließ sie sich Lannie gegenüber auf einem hochlehnigen Holzstuhl nieder.

Nach einer Weile schob Lannie ihr einen Tonbecher hin.

„Hier. Trink etwas Trauersaft mit mir.“

Dankbar nahm Linnea den Becher entgegen. Der Alkohol ließ ihre Kehle brennen, doch es tat gut, zu spüren, wie sich in ihrem Körper wieder Wärme ausbreitete. Sogleich nahm sie einen zweiten Schluck. Eine Zeit lang genossen Mutter und Tochter das stille Beisammensein, tranken ab und zu einen Schluck und beobachteten die flackernden blauen Kerzenflammen auf dem Tisch. Doch schließlich stellte Linnea die Frage, die ihr auf der Zunge lag, seit sie das Zelt betreten hatte:

„Mutter, ist Steinspalter immer noch nicht zurück?“

Steinspalter war Lannies Ehemann, jedoch nicht Linneas Vater. Lannie beteuerte, sich nicht mehr an den Mann zu erinnern, der ihr eine Tochter geschenkt hatte. Sie sagte stets, sie habe alles vergessen, was geschehen war, bevor sie sich den Spielleuten anschloss. Niemand wusste etwas über ihre Vergangenheit. Sie war schwanger bei den Spielleuten aufgenommen worden und hatte drei Jahre später Steinspalter von den Muskelfurchen geheiratet. Er war der Stärkste unter ihnen. Seinen Namen hatte er sich verdient, indem er bei nahezu jeder Vorstellung ganze Steinbrocken mit bloßen Händen zermalmte.

Lannie stellte ihren Becher langsam ab und fuhr sich mit den Fingern über die Lippen, bevor sie mit einem leisen Seufzen antwortete:

„Er ist bei seinem Vater. Das weißt du doch.“

„In Wintertal? Immer noch?“

Steinspalters Vater war der Graf von Wintertal. Er herrschte über Markt Wintertal, einen kleinen Ort, genau an der Stelle, wo sich die Unser teilte und ihr Flusswasser zwei getrennten Strömen übergab. Er war einmal ein einfacher Tagelöhner gewesen, doch er war durch schmutzige Geschäfte und unverschämten Geiz reich geworden. So hatte er sich die Gunst des Pfauenkönigs und einen Adelstitel erkaufen können. Seine vier Söhne und zwei Töchter jedoch erhielten kaum etwas von seinem Gold und mussten sich ihren Lebensunterhalt als Spielleute verdienen.

In letzter Zeit bestellte der Graf immer häufiger seine Söhne zu sich. Sie sollten Aufträge für ihn erledigen, die ganz offensichtlich zwielichtiger Natur waren, denn Steinspalter erzählte den beiden Frauen fast nie etwas darüber. Linnea war sich sicher, dass der Graf und seine Söhne gegen das Gesetz verstießen. Sie kannte den Grafen nicht besonders gut, doch gut genug, um ihn nicht zu mögen. Der alte Mann konnte nichts alleine tun, er brauchte immer jemanden, der sich die Hände für ihn schmutzig machte.

„Aber – er ist doch bereits vor einer Woche dorthin aufgebrochen. Wenn man zügig reitet, ist man innerhalb einer Stunde in Wintertal. So lange war er noch nie fort…“

„Ich weiß“, sagte Lannie leise. „Mach dir keine Sorgen, ja?“

Linnea schwieg. Ihre Mutter verzehrte sich innerlich vor Ungewissheit und Sorge um ihren Ehemann, Linnea sah es in ihren Augen. Wortlos griff sie über den Tisch und nahm Lannies Hand in ihre. Sie drückte diese bedeutungsvoll und versicherte:

„Ich mache mir keine Sorgen, Mutter. Er kommt sicher bald zurück.“

* * *

Doch er kam nicht. Die ganze Nacht hindurch lag Lannie wach und wälzte sich unruhig hin und her. Auch Linnea fand nur wenig Schlaf. Den folgenden Tag verbrachten beide größtenteils schweigend. Ob beim Kochen, Pferde striegeln, Felle und Teppiche ausklopfen oder beim Baden im Fluss, sie wechselten nur wenige Worte. Am späten Nachmittag sahen sie erstmals ein paar bekannte Gesichter, als sich weitere Türmer dem Lager anschlossen und zwei große Zelte gleich neben dem ihren errichteten: Das fahrende Händlerehepaar Lydia und Birk, sowie die alte Eiserne Witwe – seit dem Tod ihres Mannes Wahrsagerin.

Als Mutter und Tochter am Abend erneut allein bei Kerzenschein am Tisch saßen, klopfte es an der provisorischen Eingangstür. Räubertochter, die den beiden ins Zelt gefolgt war, fuhr auf und knurrte drohend. Doch Lannie schob sie nur schnell zur Seite und öffnete rasch die Tür. Es war offensichtlich, wen sie erwartete. Ebenso offenkundig war die Enttäuschung in ihrem Gesicht, als sie nicht ihren sehnsüchtig erwarteten Ehemann, sondern drei Türmer erblickte. Aber sie fing sich überraschend schnell wieder und setzte ein freundliches Gesicht auf, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

„Tante, schön dich wiederzusehen!“ Lannie schloss die Eiserne Witwe sogleich in die Arme. Lannie nannte sie Tante, seit die Alte sie aufgenommen hatte, als sie mit Linnea schwanger war.

„Lydia, Birk. Willkommen.“

Auch den anderen beiden schenkte Lannie Umarmungen.

„Darf man sich zu euch gesellen?“, fragte die Eiserne Witwe mit falscher Höflichkeit, während sie das Zelt bereits mit drei Schritten durchquerte und sich hinter Linnea stellte.

„Ja sicher, kommt herein.“

Lannie war nicht gut darin, ihre Gefühle zu verbergen und so gelang es ihr auch an diesem Abend nicht, sich zu verstellen. Ihre Stimme, ihr Blick, ihre ganze Haltung, verrieten, dass ihr nicht wohl dabei war, in der Abwesenheit ihres Mannes Gäste zu empfangen.

Auch Linnea erhob sich jetzt, trat auf die Eiserne Witwe zu und umarmte sie fest. Die langen, schlohweißen Haare der Alten rochen nach Kräutern und Seifenwasser. Linnea hatte sie vermisst. Es war beinahe ein Jahr her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Sie hatte befürchtet, ein runzliges Weib vor sich zu sehen, das kaum noch gehen konnte, aber die Eiserne Witwe sah aus wie eh und je. Sie hielt sich gut für ihr Alter. Die Alte hielt Linnea an den Schultern fest und beäugte das Mädchen mit gerunzelter Stirn.

„Meine Güte, du bist schon wieder gewachsen!“, stellte sie schließlich mit gespieltem Entsetzen fest. Tatsächlich überragte Linnea sie um beinahe zwei Kopflängen.

„Ich glaube, du bist wohl eher geschrumpft, Tante.“

Die Eiserne Witwe stieß ein glucksendes Lachen aus.

„Ja, da hast du recht. Ich bemerke es selbst: Wenn man alt wird, wächst man nach unten anstatt nach oben.“

Nun musste auch Linnea lächeln. Nacheinander begrüßte sie jetzt auch Lydia und Birk. Sie musste schließlich feststellen, dass nicht die Eiserne Witwe, sondern Lydia besorgniserregende Veränderungen durchlebt hatte. Auch sie war scheinbar geschrumpft, ihr aschblondes Haar klebte ihr in dünnen Strähnen am Kopf, ihre braungebrannte, wettergegerbte Haut hing schlaff von den Wangenknochen herab und warf unzählige Falten. Ihre Waden waren dick geschwollen, als stünde Wasser darin. Einzig ihre Kleidung vermochte ein wenig zu verbergen, wie sehr sie abgenommen hatte. Die schwarze Händlerkluft mit der weißen Schärpe passte wie angegossen, da Lydia ihre Kleider selbst schneiderte.

Linnea, Lannie, die Eiserne Witwe, Lydia und Birk saßen lange beisammen und tranken. Geredet wurde dabei nicht viel. Nachdem auch auf die Frage, wo denn Steinspalter sei, außer einem gemurmelten „Wintertal“ nur noch abwesende, sorgenvolle Blicke von Lannie folgten, beließen es die Gäste bei belanglosen Gesprächsthemen wie dem Sturm, dem Lästern über die Dirnen oder der Diskussion über verschiedene Möglichkeiten, Zeltplanen zu flicken. Das traute Beisammensein, mangelte dem Ganzen auch etwas an Fröhlichkeit, erinnerte Linnea an die vielen wunderschönen Abende draußen am Lagerfeuer. Zu Dutzenden hatten sich die Türmer ums Feuer gehockt, geplaudert, gesungen und getrunken. Heißen Trauersaft, Bartenbräu und starkes Apfelliquid. Wann würde sich wohl das nächste Mal ein solcher Abend ergeben?

Nachdem die Gäste das Zelt verlassen hatten, schlüpften Mutter und Tochter in ihre Betten. Schweigsam löschten sie die Kerzen und versuchten zu schlafen. Steinspalter war immer noch nicht zurück.

Und der Sturm heulte unaufhörlich ums Zelt.

Mythalia

Подняться наверх