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Prolog

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Die Pfauenveste war die größte und älteste Festung im ganzen Reich. Häuser, Mauern und Türme wuchsen wie eine gewaltige, runde Treppe auf zwölf Ebenen den Berg empor bis zu ihrem Herzstück, dem Bergfried. Der Rundturm, der einsam im Zentrum der Festung stand, war so hoch, dass sein kegelförmiges Dach meist bis in die Wolken ragte und von ihnen verschluckt wurde. Jedoch nicht heute, nicht an diesem Wintertag. Der Himmel erstrahlte in einem klaren, tiefen Blau, die Luft war kalt und rein. Zu späterer Stunde tauchte die untergehende Sonne die Zinnen und Dächer der Pfauenveste in warmes, beruhigendes Licht. Doch so schnell die Helligkeit schwand, so schnell legte sich ein dunkler Schatten über die Festung des Pfauenkönigs. Der Schatten des Krieges.

In jener Winternacht endete der Jahrhunderte andauernde Krieg zwischen Elfen und Menschen. In jener Nacht gelang es den Elfen, in die Hauptstadt der Menschen einzudringen.

Silip war ein dünner und hochgewachsener Sohn eines Knappen und einer Zofe. Er hatte dunkelbraunes Haar, das ihm in wirren Strähnen über die Schultern fiel und müde, tiefliegende Augen. Wie jedem Bewohner der Stadt hatte man auch ihm Schwert und Armbrust in die Hände gedrückt, als der Angriff der Elfen nahte. Doch der Junge musste nicht lange kämpfen.

Ein Diener kam stolpernd neben einem der Ritter zum Stehen. Eine Hand gegen die Rippen gepresst, stieß er hervor: „Sie sind … auf dem Weg … in die Zehn!“

Der Ritter hatte keine Zeit aufzublicken, denn soeben zwang er einen Gegner in die Knie und spaltete ihm den spitzohrigen Schädel. Doch der Knappe des Ritters horchte auf und wirbelte alarmiert herum. Der Knappe war Silips Vater.

„Sie wollen die Kinder. Silip, deine Mutter! Du musst sie warnen. Lauf zu ihr, schnell! Lauf!“

Und Silip warf die Armbrust fort und lief. Auf der zehnten Ebene des Turms waren die Söhne des Pfauenkönigs untergebracht. Silips Mutter war das Kindermädchen. Der Junge rannte so schnell wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Das Pflaster flog unter seinen Füßen dahin. Er erklomm Treppen und Mauern in Windeseile, während er Schwertern und Pfeilen auswich und keuchend über Leichen sprang. Es war unmöglich, schneller als ein Elf zu sein. Aber die Vorstellung, dass die Feinde seine Mutter zuerst erreichen könnten, spornte Silip an. Er ließ Menschen und Elfen gleichermaßen hinter sich und spürte den Schmerz seiner protestierenden Lunge kaum.

In den Korridoren des Turms war es ruhig und Silips Hoffnung wuchs, als er die zehnte Ebene erreichte, wo seine Mutter die Kinder hütete. Dort war der Deinstboteneingang! Japsend stieß er die Tür auf – und warf sich sofort zu Boden. Im selben Augenblick, da Silip durch die Hintertür das Zimmer betrat, wurde die breite Vordertür krachend aus ihren Angeln gerissen. Der Junge kauerte sich rasch hinter einen schweren Vorhang und beobachtete mit vor Furcht aufgerissenen Augen, was vor sich ging.

Mindestens zwanzig Elfen marschierten im Gleichschritt in den großen Raum hinein. Sie glichen einander auf verblüffende Art und Weise, mit ihrer makellosen, indigoblauen Haut, den spitzen Ohren und den blutbefleckten schwarzen Rüstungen. Selbst das schwarze, glatte Haar fiel jedem der Männer auf die gleiche Weise bis zu den Hüften herab wie flüssiges Pech. Allen voran schritt ein breitschultriger, imposant wirkender Elf, der als Einziger einen goldenen Helm trug. Silip traute seinen Augen kaum. Vor ihm stand der König der Elfen! Fasziniert betrachtete der Junge die eleganten Geschöpfe und konnte seinen Blick nur unter Anstrengung losreißen, um nach seiner Mutter Ausschau zu halten. Er musste nicht lange suchen.

Die Mitte des Raumes nahm ein großer, weicher Teppich aus doppellagigem Bärenpelz ein. Bis zum Eindringen der Elfen hatten drei Kleinkinder unbeschwert darauf gespielt. Es waren die beiden Söhne des Pfauenkönigs und deren Cousin. Der kleinere der beiden Prinzen lag auf dem Bauch und hatte sich bis eben noch mit einer Rassel beschäftigt. Der Ältere saß auf einem niedrigen Hocker dicht neben seinem Cousin und ließ soeben vor Schreck sein Holzpferd fallen. Der König der Elfen hatte kaum einen Schritt auf die Kinder zu gemacht, da öffnete Ludwig, der Cousin der Prinzen, den Mund und begann herzzerreißend zu schreien.

Augenblicklich war Silips Mutter zur Stelle. Bevor die Elfen eines der Kinder greifen konnten, kniete sich das Kindermädchen mitten auf den Teppich und breitete schützend ihre Arme aus. Beiläufig strich sie dem weinenden Ludwig über den hellbraunen Haarschopf, den Blick starr auf den König der Elfen gerichtet. Stolz und zugleich voller Angst erkannte Silip, dass nicht ein Funken Furcht in den Augen seiner Mutter lag.

„Beseitigt sie!“, bellte der Elfenkönig.

Alle Elfen zogen in einer einzigen Bewegung ihre Waffen und kamen auf Silips Mutter zu.

Alle, bis auf einen.

„Mein König, wartet!“

Gesprochen hatte ein Elf, der die anderen Elfen um einen ganzen Kopf überragte. Trotzdem war er ziemlich schlaksig und wirkte recht jung. Sein Schwert steckte noch in seinem Gürtel und er machte keine Anstalten, es zu zücken. Die anderen Elfen zögerten, also schritt der junge Elf zügig an ihnen vorüber, streckte Silips Mutter seine blaue Hand entgegen und sagte:

„Bitte, geht beiseite. Sonst werden sie Euch töten.“

Doch sie starrte ihn nur argwöhnisch an, deshalb wiederholte er eindringlich, aber sanft:

„Ich bitte Euch. Kommt zu mir. Dann wird Euch nichts geschehen. Den Kindern auch nicht.“

Von seinem Versteck aus beobachtete Silip, wie sich die Gesichtszüge seiner Mutter entspannten. Auch Silip konnte nicht anders, als der ruhigen Stimme des Elfen zu vertrauen. Seine Mutter zögerte kurz, dann ergriff sie die Hand des Elfen und ließ sich von ihm zur Tür bugsieren. Sie warf einen besorgten Blick auf die Kinder, denn der kleine Ludwig fing gerade wieder an zu weinen und auch die beiden Königssöhne quengelten, weil ihr Kindermädchen sie alleine ließ.

Doch der Elf drängte sie weiter. „Geht jetzt. Ihnen passiert nichts.“

Erleichtert schaute Silip zu, wie der Elf seine Mutter aus dem Zimmer und damit außer Gefahr brachte. Doch für die Kinder war es noch nicht vorbei.

„Dein Mitgefühl für die Unschuldigen hat dich schon immer schwach gemacht. Du bist weich“, schnaubte der König und bedachte den jungen, großen Elfen mit einem abfälligen Blick. „Nun denn, Männer. Tötet die Kinder.“

Silip hielt erschrocken die Luft an. Doch die Elfen hatten kaum zwei Schritte auf die Kinder zugemacht, als sie der junge Elf entsetzt unterbrach.

„Was?! Aber mein König!“

Silip staunte nicht schlecht, als die Elfen innehielten und verunsichert zwischen dem König und dem jungen Elfen hin und her blickten. Elfen waren die loyalsten Wesen auf dieser Welt. Sie taten immer ihre Pflicht, was es auch kostete. Noch nie hatte Silip gehört, dass ein Elf seinem Herrn widersprach.

Der junge Elf fuhr fort: „Wir wollten sie gefangen nehmen.“

„Das reicht nicht aus. Einer von ihnen ist dazu bestimmt, der nächste Pfauenkönig zu sein. Wir haben es fast geschafft. Wenn wir erst dieses Land erobert haben, können wir nicht riskieren, die Thronerben leben zu lassen. Sie sind der Feind.“

„Sie sind unschuldig. Ich werde es nicht tun.“ Der junge Elf deutete auf die anderen Elfen. „Und deine Männer auch nicht, wie du siehst.“

Eine Woge des Zorns huschte über das Gesicht des Königs. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog er sein eigenes Schwert aus der Scheide – einen elegant geschwungenen Säbel mit glänzendem, schwarzem Griff und goldener Parierstange – und betrat den Spielteppich. Ludwig brüllte inzwischen aus Leibeskräften nach seinem Kindermädchen.

„Tu das nicht!“, schrie der junge Elf.

Mit unfassbarer Schnelligkeit sprang er seinem König in den Weg und ergriff sein eigenes Schwert. Er hatte es bereits zur Hälfte gezogen, da traf ihn der vernichtende Blick seines Herrn und er erstarrte in der Bewegung. Nun brannte unverhohlene Wut in den Augen des Königs.

„Das wagst du nicht“, flüsterte er drohend.

Da begann der junge Elf ein wenig zu zittern. Er schluckte geräuschvoll. Resignierend schob er schließlich sein Schwert zurück in die Scheide. Mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht ließ ihn der König links liegen und schritt an ihm vorbei. Dann hob er seinen Säbel und holte zum tödlichen Schlag aus.

Obwohl sich Silip schrecklich fürchtete, wusste er, dass der Zeitpunkt gekommen war, einzuschreiten. Er nahm all seinen Mut zusammen, um sich auf den König stürzen – als ihm der große, schlaksige Elf zuvor kam.

„Nein, Vater!“, brüllte er.

So schnell, dass Silip ihm kaum mit den Augen folgen konnte, warf sich der Elf auf seinen König. Er stieß ihn mit solcher Kraft gegen die Brust, dass der König durch das Zimmer und zur Tür hinaus stolperte, wo er mit scheppernder Rüstung gegen die Wand prallte. Und dann ging auf einmal alles ganz schnell.

„Da sind sie!“ Draußen auf dem Korridor wurden Rufe laut. „Feuer!“

Im nächsten Augenblick war das Surren von Bogensehnen zu hören und drei Pfeile schossen von der Seite auf den König zu. Der erste glitt an seinem schwarzen Brustharnisch ab, ohne Schaden anzurichten. Der zweite jedoch traf ihn in die Seite, knapp unter der Achsel. Und der dritte Pfeil durchschlug schließlich seinen Hals.

Der junge Elf stieß bei diesem Anblick einen grauenhaften Schrei aus. „NEIN!“

Aber der König der Elfen konnte nichts mehr erwidern. Er öffnete den Mund, doch es quoll nur grünlich-blaues Blut hervor. Er trat noch zwei Schritte in den Raum hinein, bevor er vornüber kippte und reglos mit dem Gesicht nach unten liegen blieb.

„Vater“, flüsterte der junge Elf mit kraftloser Stimme.

Es dauerte nicht lange, bis zwei Dutzend Ritter und Knappen in den Raum hinein strömten. Auch Silips Vater war unter ihnen. Die Menschen hatten ihre Waffen gezückt, doch die Elfen griffen nicht an, sondern starrten allesamt fassungslos auf die Leiche ihres Königs. Als die Menschen das bemerkten, zogen sie es vor, die Elfen einzukreisen und zu umzingeln. Offenbar identifizierten sie den jungen Elf gleich als den Königssohn, denn Ibish, der oberste Ritter, trat vor und richtete die Spitze seines Schwertes auf den Elfenprinz.

Dann fragte Ibish laut durch sein Helmvisier: „Hast du irgendwelche letzten Worte?“

Wenn es einen richtigen Zeitpunkt gab, um zu handeln, war er jetzt. Ohne weiter nachzudenken, sprang Silip auf, um den Elf zu retten, der das Leben seiner Mutter verschont hatte.

„Wartet!“, rief er und drängte sich zwischen den Elfen und Menschen hindurch.

Entschlossen stellte er sich direkt vor den obersten Ritter, der ihn völlig verblüfft anstarrte. Aber es war Silips Vater, der zuerst das Wort ergriff.

„Silip? Da bist du ja! Wo ist deine Mutter?“

Silip lächelte seinen Vater an und zeigte auf den Elfenprinz. „Sie haben Mama verschont. Seinetwegen.“

Und ehe jemand etwas erwidern konnte, sprudelten die Worte wie ein Wasserfall aus dem Mund des Zwölfjährigen hervor.

„Der Prinz wollte auch die Kinder verschonen. Er hat sich gegen seinen König gestellt. Und er …“ Silip zögerte, bis er leiser als zuvor sagte: „Der Prinz hat seinen Vater in eure Schusslinie gestoßen.“

Bei seinen Worten zuckte der junge Elf kaum merklich zusammen und senkte beschämt den Kopf. Ibish beäugte Silip misstrauisch, richtete das Wort aber an den Elfenprinz.

„Ist das wahr?“, fragte er barsch.

Da warf einer der Ritter mit einem Schnauben ein:

„Du fragst einen Elfen nach der Wahrheit?“

„Soweit ich weiß, können sie nicht lügen“, gab Ibish zurück.

„Das gilt aber nur gegenüber ihrem Herrn. Ihm sind sie absolut ergeben.“

Einer der Elfen stöhnte leise auf. „Unser Herr ist tot“, flüsterte er.

Das brachte alle zum Verstummen. Silip kam sich schrecklich winzig vor zwischen all den hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalten.

Trotzdem erhob er abermals die Stimme: „Der Prinz hat sich gegen seinen Herrn gewandt, Sir Ibish.“

Endlich blickte der junge Prinz auf, reckte stolz sein bartloses, blaues Kinn und verkündete mit fester Stimme: „Es reicht. Dieser Krieg … hat er nicht schon lange genug gedauert? Über hunderte von Jahren ist so viel Blut vergossen worden. Blaues oder rotes Blut – das macht doch längst keinen Unterschied mehr. Und wenn wir jetzt so weit gekommen sind, dass wir unschuldige Kinder ermorden … Dann will ich diesen Krieg nicht gewinnen. Lasst uns verhandeln. Auf friedliche Weise, ohne zu kämpfen.“

Ein Raunen ging durch die Reihen der Elfen, doch sie widersprachen ihm nicht. Gebannt wartete jeder die Reaktion des obersten Ritters ab. Doch Ibish schüttelte bedauernd den Kopf.

„Es kann keine Verhandlungen geben, solange nicht eine von beiden Parteien als Sieger hervorgeht.“

Der Elfenprinz nickte. Damit hatte er gerechnet.

„Dann soll es so sein“, sagte er.

Plötzlich machte er eine rasche Bewegung, die viel zu schnell für die langsamen Reflexe der Menschen war. Im nächsten Augenblick hatte er seine Gürtelschnalle gelöst und sein Waffengurt fiel klappern auf den Steinboden. Nun beugte der Prinz sein linkes Bein und sank vor Sir Ibish zu Boden. Etwas langsamer als zuvor zog er sich dabei Bogen und Köcher von den Schultern und legte beides zu seinem Schwert.

Seine Stimme flatterte ein wenig, als er hervorstieß: „Wir kapitulieren.“

Eine Zeit lang wagte es niemand, sich zu rühren oder auch nur ein Wort zu sprechen. Aber dann wichen die Menschen allmählich zurück und senkten ihre Waffen. Die Elfen taten es ihrem Prinzen gleich und gingen auf die Knie. Sie waren besiegt.

Das war der Tag, an dem die Elfen den Krieg verloren. Der Elfenprinz konnte all seine Männer zum Rückzug bewegen – denn dank Silip hatte man sein Leben verschont. Es folgten noch weitere, lange Jahre der Verhandlungen. Doch an diesem Tage endete das fürchterliche Blutvergießen und der Krieg war vorüber.

Mythalia

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