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Balthasar der Unsichtbare

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Sonnenschein schimmerte durch die Zeltwände, sodass es nicht mehr nötig war, Kerzen anzuzünden. Der Sturm war abgeflaut und die Wolken aufgebrochen, die goldgelbe Sonne strahlte vom klaren Himmel herab und es war heiß. Von draußen drangen die für ein großes Lager – denn dazu war es inzwischen geworden – typischen Geräusche. Nebenan badete jemand in einem Fass voller Flusswasser sein Kind, das mit vergnügtem, hellem Lachen laut darin herumplantschte. Jemand schob einen ratternden Karren am Zelt vorüber und brachte diesen am anderen Ende des Türmerlagers quietschend zum Stehen. Außerdem waren das Klirren von Werkzeugen und Schaukampfwaffen, das derbe Gelächter der Männer und dumpfe Schläge eines Hammers auf einen Holzpflock zu hören. Darunter mischte sich der melodische Klang einer Flöte.

Linnea beachtete die vielen Geräusche kaum. Sie schob sich lieber genussvoll einen Löffel nach dem anderen in den Mund. Wie lange war es her, dass sie zum letzten Mal Kartoffeltorte mit Riesengurken und Speck gegessen hatte?

„Iss nicht so schnell, sonst hast du nichts davon!“, ermahnte sie die Eiserne Witwe, die bereits selbst die letzten Reste auf ihrem hölzernen Schneidebrett zusammenkratzte. Nachdem sie alles verzehrt hatte, wandte sich die alte Wahrsagerin ihrem riesenhaften Rauchpuma zu, dessen gewaltiger Kopf auf der Tischplatte ruhte.

„Keine Angst, Osiris. Dich würde ich nie vergessen.“

Dabei schob sie ihm drei fette Streifen Speck ins geöffnete Maul. Die letzten Streifen Speck, wie Linnea mit Bedauern feststellen musste …

Die Raubkatze richtete ihre gelben Augen erwartungsvoll auf sie. Doch Osiris begriff sehr schnell, dass bei ihr nichts zu holen war. Ein klein wenig beleidigt trollte er sich, rollte sich zu Füßen seiner Herrin zusammen und bettete den massigen Kopf auf den Vorderpfoten. Nun tat er, als schliefe er, regte sich ab und zu, drehte sich auf die Seite und offenbarte seinen dicken Ranzen. Es war völlig unnötig, dass die Eiserne Witwe ihm zu Fressen gab. Er war ein Raubtier und sehr wohl in der Lage, selbst auf die Jagd zu gehen – das hieß, nun war er das nicht mehr, nachdem sie ihn fett gefüttert hatte. Ab und zu fing er noch ein paar Holzmäuse, doch für Großwild war er einfach nicht mehr schnell genug.

„Nun haben wir doch nichts für deine Mutter übrig gelassen“, bemerkte die Eiserne Witwe und betrachtete mit Bedauern die leeren Teller.

„Sie hätte eh nichts gegessen. Seit Steinspalter fort ist, da ist sie ziemlich verzweifelt. Sie isst kaum, sie spricht nicht und schläft sehr schlecht.“ Linnea machte sich ebenfalls große Sorgen um ihren Stiefvater, aber es gelang ihr besser als ihrer Mutter, sich nicht der Verzweiflung hinzugeben.

„Ach, ihm wird schon nichts passiert sein. Mein Sohn ist ständig fort, ich sehe ihn zweimal im Jahr – wenn überhaupt. Zerbreche ich etwa an meiner Sorge?!“

„Dein Sohn ist Pirat!“

„Ganz genau. Kapitän Kojote ist Pirat. Das bedeutet, dass er jeden Tag – vielleicht sogar genau in diesem Augenblick – in Schwierigkeiten gerät. Ich kann nichts tun, um ihm zu helfen. Er geht seinen eigenen Weg. Ich vertraue darauf, dass er weiß, was er tut. Verstehst du das?“

Linnea senkte den Kopf. „Ja, das tue ich. Es ist nur so, Steinspalter hat uns noch nie für eine so lange Zeit verlassen. Das passt nicht zu ihm. Ich habe so ein komisches Gefühl … Kannst du nicht … ?“ Zögernd brach Linnea ab.

Die Eiserne Witwe lächelte. „Kann ich nicht was?“

„Du weißt schon … in die Zukunft sehen oder Karten legen! In die Kristallkugel schauen! Handlesen oder Knochen werfen oder aus Teeblättern lesen! Die Wahrheit in der Asche suchen oder was auch immer. Bitte, es muss doch eine Möglichkeit geben.“

„Das ist nicht so einfach, Linnea. Sieh mich nicht so an! Ich kann nur die Zukunft jener Menschen sehen, die bei mir sind. Ab und zu habe ich auch Visionen von anderen, aber die kann ich nicht beeinflussen.“

Linnea seufzte.

Die Falten, die sich auf der Stirn der Alten bildeten, zeigten ehrliches Mitgefühl. „Es tut mir leid. Aber ich bin keine Hexe.“

„Ist schon gut …“

„Lass uns … Lass uns doch über etwas anderes reden, hm? Zum Beispiel über dich, Linnea.“

Linnea verzog das Gesicht.

„Über mich? Inwiefern?“, fragte sie vorsichtig.

„Du bist beinahe erwachsen. Hast du schon Pläne?“

Als Linnea immer noch nicht verstand, beugte sich die Eiserne Witwe über den Tisch hinweg zu ihr und fuhr verschwörerisch fort: „Es wird Zeit, dass du einen Mann findest.“

„Hör mir bloß auf damit! Ich habe schon meine Erfahrungen mit Männern gemacht. Die reichen mir völlig aus, danke schön!“

Die Eiserne Witwe schnaubte verächtlich. „Erfahrungen? Ich bitte dich! Du hast höchstens einmal hineingeschnuppert in die köstliche Welt der Liebe.“

„Tante, bitte – “

„Nein, wirklich, du kannst ruhig ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Nur so findest du den Richtigen. Es ist gut, wenn du nicht gleich dem Erstbesten um den Hals fällst. Du musst die Unterschiede wahrnehmen. Die beiden Versuche, die du begonnen hast, zählen nun wirklich nicht als Erfahrungen.“

Linnea war versucht, sich jegliche weitere Bemerkung zu verkneifen, damit das Gespräch nicht noch unangenehmer für sie wurde, aber da war eine Stimme in ihrem Innern, die ihr riet, sich das nicht gefallen zu lassen.

Also murrte sie trotzig: „Es waren bereits drei. Und meine Beziehung mit dem Sohn des Freiherren vom Eichenwald hat fast vier Jahre gehalten.“ Den letzten Satz murmelte sie leise, kaum hörbar.

Nachdenklich runzelte die Eiserne Witwe die Stirn. „Ja, er war wirklich ein guter Mann, dieser Siegfried … Wenn er sich nicht mit dieser Katharina verlobt hätte.“

Gegen ihren Willen begann Linnea, ihren ehemaligen Geliebten in Schutz zu nehmen. „Er wollte das nicht! Wir hatten große Pläne. Er wollte Alchimist werden und seinen jüngeren Bruder das Erbe als Freiherr antreten lassen.“ Linnea wurde wehmütig und ihre Gedanken begannen zu wandern. „Wir hätten doch fortlaufen sollen … Wir konnten doch nicht ahnen, dass Siegfrieds Eltern hinter seinem Rücken die Verlobung mit der Tochter dieses Grafen arrangiert hatten!“

„Schluss damit!“, unterbrach die Alte sie scharf. „Es tut dir nicht gut, über ihn zu reden oder nur an ihn zu denken. Das Ganze ist vorbei, Siegfried ist Vergangenheit.“

Natürlich hatte die Eiserne Witwe Recht, die Erinnerung an ihn tat weh. Aber sie sehnte sich so sehr nach ihm. Im Grunde war die Sehnsucht nie weg gewesen.

„Vielleicht – “

„Vergangenheit!“

Widerstrebend fügte sich Linnea und brachte das Thema nicht mehr zur Sprache. In ihrem Innern tobte jedoch ein Wirbelsturm der Gefühle, der sich so schnell nicht mehr legen würde. Dieses Gespräch hatte ihr die Vergangenheit ein Stück zurück gebracht und alles wieder aufgewühlt, was sie für ihn empfand. In der kommenden Nacht würde sie keinen Schlaf finden – auch wenn ihr noch nicht bewusst war, dass es dafür noch andere Ursachen geben würde …

Als sich Osiris schwerfällig erhob und alles andere als grazil aus dem Zelt stapfte, um dem verlockenden Geruch von gegrilltem Fleisch zu folgen, welcher wohl von einem der Kochfeuer herrührte, lehnte sich die Eiserne Witwe ächzend in ihrem hölzernen Stuhl zurück und sprach: „Ich habe vorhin nicht nur deine Liebes- und Heiratspläne gemeint. Ich möchte wissen, was du vorhast, Linnea.“

„Wovon redest du?“

„Na komm! Hast du etwa vor, dein ganzes Leben über Türmerin zu bleiben?!“

„Ja“, antworte Linnea.

Die Eiserne Witwe starrte sie ungläubig an und war offenbar unfähig, darauf etwas zu erwidern.

Hastig ergänzte Linnea: „Ich fühle mich hier wohl. Ich wurde als Türmerin geboren und komme gut damit zurecht. Ich kann mir ein Leben ohne Zelte und Herumwandern gar nicht mehr vorstellen. Das ist so, als würdest du dir einen wilden Osiris vorstellen – oder die Muskelfurchen ohne Steinspalter.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber sie ließ es so stehen.

„Das kann nicht dein Ernst sein!“, brauste die Alte auf. „Noch hast du eine Wahl! Ändere dein Leben, solange du jung bist. Begehe nicht den gleichen Fehler wie ich.“

Linnea verstand nicht. Sie wollte auch gar nicht. „Was soll ich denn bitteschön anderes tun? Ich habe schon eine Zeit lang als Magd gearbeitet. Das liegt mir einfach nicht. Ich singe gerne …“

„Gerne. Ich verstehe.“

„Worauf willst du eigentlich hinaus, Tante? Ich verstehe kein Wort – Warte!“ Sie hielt erschrocken inne, als ihr dämmerte, worauf die alte Frau abzielte.

„Du hast in meine Zukunft gesehen, hab ich recht?“

In den Augen der Eisernen Witwe erkannte Linnea die Wahrheit. Offensichtlich ertappt, stammelte die Alte: „Also … Nicht direkt … Ich …“ Dann seufzte sie leise. „Also schön. Ich bin selbst schuld. Ich hätte eben nicht fragen sollen.“

Linnea ignorierte ihr Gestotter und fragte geradeheraus: „Was hast du gesehen?“

„Ich … sah dich … in einer Rüstung.“

„Was für eine Rüstung soll das bitte gewesen sein?“

„Ein Kettenhemd. Linnea, ich glaube, ich habe deine Zukunft als Soldatin gesehen.“

Linnea klappte verwundert der Mund auf. „Soldatin? Das gibt es nicht. Es gibt nur Soldaten.“

Die Eiserne Witwe lächelte vielsagend. „Wie viele Soldaten hast du bisher getroffen?“

Linnea wollte etwas erwidern, aber die Eiserne Witwe fiel ihr ins Wort, ehe sie auch nur den Mund aufmachen konnte. „Du kennst nur Gardisten, wie sie für Freiherren arbeiten?“

Linnea nickte. „Ja, die haben für Siegfrieds Vater gearbeitet.“

„Wer weiß, vielleicht wird es in der Zukunft auch Soldatinnen geben. Ich kann dir nur sagen, was ich gesehen habe.“

„Selbst wenn das stimmen sollte … Wie sollte jemand wie ich überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, Soldatin zu werden? Mal ganz davon abgesehen, dass ich das gar nicht will.“

„Das weißt du jetzt vielleicht noch nicht. Stell‘ mir nicht solche Fragen, ich habe wirklich keine Ahnung, wie. Nichts ist unmöglich. Ich weiß, dass ich dich in einem Kettenhemd habe kämpfen sehen. Du hast mit einer Armbrust geschossen.“

Genervt verdrehte Linnea die Augen. „Wie um Alles in der Welt sollte das gehen? Glaub, was du willst – ich tue es nicht!“

Die Alte schmunzelte und blickte Linnea verheißungsvoll an. „Ganz wie du meinst. Aber ich weiß, was ich gesehen habe“, sagte sie bestimmt.

* * *

Draußen war es schwül warm. Nur vereinzelte weiße Wolken zogen über den strahlend blauen Himmel und es wehte kaum ein Lüftchen. Einzig am Horizont hielten sich hartnäckig ein paar dunkle Regenwolken. In Gedanken versunken schlenderte Linnea durch das Türmerlager, murmelte hier und da ein Wort der Begrüßung und lächelte flüchtig, wenn ihr jemand begegnete. Zwangsläufig hatten ihr die Worte der Eisernen Witwe zu denken gegeben, weshalb sie kaum auf ihre Umgebung achtete und deshalb auch nicht bemerkte, dass ihr ein körperloser Schatten folgte.

Sie durchsuchte das Lager nach ihrer Mutter, fand sie aber nicht und kehrte daher zu ihrem Heimatzelt zurück. Es überraschte sie nicht, dass das Zelt leer war. Lannie stand nicht der Sinn nach Gesellschaft, weshalb sie tat, was sie stets tat, wenn sie Kummer hatte: Sie machte einen sehr ausgiebigen Spaziergang durch die Natur, begleitet von Räubertochter.

Die Lichtwölfin folgte ihrer Herrin stets überall hin.

Linnea dachte kurz daran, die Planen zu öffnen, um ein wenig Luft hereinzulassen und den muffigen Geruch zu vertreiben, den sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie ließ es dann jedoch bleiben. Am Vortag war ihr die Inspiration zu einem neuen Lied gekommen und sie brauchte Ruhe, um sich zu konzentrieren. Sie legte ein Süßziegenfell auf einen hochlehnigen Holzstuhl und machte es sich darauf bequem. Dabei breitete sie ihre Schreibutensilien vor sich auf dem Tisch aus: Ein kleines Tintenfässchen, eine Handvoll gespitzter Schreibfedern, ein weißes Tuch zum Abstreifen überflüssiger Tinte und ein paar Blatt Papier. Sie erinnerte sich, wie sie dem Papierhändler auf einem Markt fasziniert zugesehen hatte, wie er den Papierbrei durch das Sieb schüttelte und schließlich feste Seiten aus der Masse entstanden. Sie hatte ihn in ein Gespräch verwickelt und ihm einige fast getrocknete Blatt Papier unter der Nase weggestohlen. Türmer waren alles andere als reich und mussten das wenige Geld, das sie verdienten, für Wichtigeres aufsparen als einfaches Papier. Es war ohnehin keines von guter Qualität. Die Seiten waren grob gepresst und es waren unzählige bunte Fussel, vereinzelte Blütenblätter und sogar etwas Sand hineingeraten. Aber was kümmerte es Linnea, dass das Papier, auf dem sie schrieb, von solch minderwertiger Qualität war?

Sie hatte nicht vor, ihre Werke zu verkaufen – dafür war ihre Schrift nicht schön genug. Linnea liebte das Lied, das Feder und Papier sangen, wenn die eine über das andere kratzte. Doch so sehr sie diese Tätigkeit auch genoss – besonders geschickt stellte sie sich beim Schreiben nie an. Anfangs bemühte sie sich stets darum, die geschwungenen Buchstaben sauber aufs Blatt zu setzen, weshalb die Überschriften auch meist sehr vielversprechend aussahen. Nach einigen Sätzen jedoch, wenn sie völlig versunken in ihre Ideen war, fing ihr Verstand an, rascher zu arbeiten als ihre Hand schreiben konnte. Dann achtete Linnea nicht mehr auf ihr Schriftbild, ihre Finger tauchten die Feder automatisch in das Fässchen, wenn die Linien dünner wurden. Ihre Gedanken flossen regelrecht mit der Tinte aufs Papier und so geschah es, dass ihre Schrift mit jedem Wort unordentlicher wurde.

Vielleicht hatte die Eiserne Witwe Recht. Sie tat es gerne, doch war sie keine Expertin. Ihr fehlte das Geschick. Möglicherweise war ihre Bestimmung tatsächlich eine andere.

Sie schüttelte den Kopf und damit die lästigen Gedanken ab. Einen Augenblick lang zögerte sie und starrte auf das leere Blatt. Dann tauchte sie die Spitze ihrer Pfauenfeder – ein wahres Schmuckstück, das ihr einst ein kleiner Junge nach einem ihrer Auftritte geschenkt hatte – in das Fässchen, streifte die überflüssige Tinte ab und setzte die ersten, wohlgeformten Buchstaben aufs Papier. Behutsam legte sie die Pfauenfeder auf dem weißen Tuch ab und betrachtete die Überschrift:


Der Vampir


Zufrieden mit der Schönheit der ersten Worte, tauchte sie die Feder erneut in die Tinte und setzte sogleich ein paar weitere hinzu:

Im bleichen, fahlen Mondeslicht,

Im Sommer, in der Nacht,

Da sehe ich ein zart` Gesicht,

Das mir entgegenlacht.


Erneut legte sie ihr Schreibwerkzeug nieder, überflog die wenigen Zeilen und summte eine kleine Melodie, die zum Text passen könnte. Sie fuhr sich mit dem Finger über die Oberlippe. Kleine Schweißperlen blieben an der Fingerspitze haften. Es war heißer geworden und im Zelt staute sich die Hitze.

Sie erhob sich, trat aus dem Zelt und kehrte kurz darauf mit einem Tonkrug voll Wasser zurück. Die Türmer bewahrten stets etwas abgekochtes Fluss- und Regenwasser in einer Zisterne in der Mitte des Lagers auf. Ohne Zeit mit dem Umfüllen in einen Becher zu verschwenden, hob sie den Krug mit beiden Händen an, setzte ihn an die Lippen und trank einen großen, kräftigen Schluck. Sie hatte den Krug bis zum Rand gefüllt, weshalb ihr jetzt eine Menge Wasser übers Kinn lief und auf ihre Kleidung tropfte. Angewidert verzog sie das Gesicht, als sie feststellen musste, dass das Wasser abgestanden und warm war. Trotzdem trank sie noch mehr von der warmen Flüssigkeit, bis ihr Durst ganz gestillt war.

Linnea holte eine winzige getöpferte Okarina aus einer Truhe, bevor sie sich wieder hinsetzte. Dann fing sie an, verschiedene Melodien zu spielen, veränderte die Tonlage und trommelte zur Untermalung mit der freien Hand auf dem Holztisch. War sie zufrieden mit der Begleitmusik zu einer der Zeilen, schrieb sie sogleich die Töne dazu, damit sie sie nicht vergaß. Später würde sie die kleine Flöte durch eines ihrer anderen Instrumente ersetzen, mit denen sie den Gesang ihrer Mutter begleiten konnte. Sie musste sich nur noch überlegen, welches davon am besten zu diesem Lied passen würde.

Eine Luchtfliege landete auf dem Geschriebenen und krabbelte mit ihren sechs Beinen auf dem Blatt Papier herum. Linnea legte die Flöte auf den Tisch und beobachtete einen Moment lang das kleine Insekt, bevor sie es verscheuchte, um ein paar Töne durchzustreichen und durch passendere zu ersetzen.

Dann streckte sie die Hand wieder nach der Okarina aus – und griff ins Leere. Irritiert blickte sie auf, um festzustellen, dass die winzige Flöte nicht mehr dort lag, wo sie sie hingelegt hatte. Sie warf einen prüfenden Blick unter den Tisch, stand auf, suchte ihren Stuhl ab, setzte sich wieder, hob das Blatt Papier hoch … Keine Flöte. Langsam aber sicher am eigenen Verstand zweifelnd, ließ sie die Hände fahrig über den Tisch wandern und stieß dabei versehentlich etwas hinunter.

Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als die kleine Okarina mit einem dumpfen Geräusch auf den vergilbten Teppich fiel. Sie war sich absolut sicher, die Flöte nicht vom Tisch rollen gesehen zu haben. So verrückt es auch war, das kleine Ding war erst aufgetaucht, als es den Boden berührt hatte. Erst ganz allmählich tauten ihre Sinne völlig auf und sie wurde sich ihrer Umgebung deutlich bewusst. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ganz plötzlich fror sie, obwohl die Sonne auf die Zeltplanen brannte und ihr der Schweiß auf der Stirn stand. Sie verfluchte sich selbst dafür, es nicht früher bemerkt zu haben:

Sie war nicht allein. Ihr Herz schlug schneller. Vorsichtig sah sie sich im Zelt um. Da war niemand. Der Verstand gaukelte ihr vor, sie habe sich geirrt, da fuhr sie auf einmal zusammen, als eine Stimme säuselte:

„Du hast deine Flöte fallen lassen, Mädchen.“

Linnea fuhr erschrocken zusammen. Ihr Stuhl kippte seitlich um und fiel scheppernd zu Boden, als sie aufsprang und herumfuhr. Der Sprecher musste sich hinter ihr befinden, denn vor ihr war niemand zu sehen. Umso verzweifelter drehte sie sich zweimal um sich selbst, als sie auch hinter sich keine Spur eines Eindringlings entdeckte.

Linnea wurde schmerzlich bewusst, dass sie nicht die geringste Art Waffe bei sich hatte. Das Spitzeste, das sie hatte, war die Pfauenfeder und das Schärfste ein Blatt Papier. Sie wollte kein Feigling sein und davonlaufen. So hob sie die Arme vor die Brust und ballte die Hände zu Fäusten – dabei steckte sie ihre Daumen in die Fäuste hinein, weil sie befürchtete, sich sonst die Hand zu brechen, wenn sie zuschlug.

Erst dann fragte sie – viel zaghafter als sie es gerne gehabt hätte und mit einem erschreckend dünnen Stimmchen: „Wer bist du? Wo bist du?“

Sie zuckte unfreiwillig ein weiteres Mal zusammen, als die körperlose Stimme Antwort gab:

„Mein Name ist Balthasar. Und wo ich bin, ist nicht von Belang.“

Die Stimme klang nicht sehr furchterregend, sondern eher warmherzig, was Linnea ein wenig Mut fassen ließ. Etwas lauter, aber immer noch unsicher, fragte sie: „Warum versteckst du dich? Bist du zu feige, mir gegenüberzutreten?“ Dabei schwang sie drohend die Fäuste.

„Ich verstecke mich nicht. Ich bin unsichtbar.“

Linnea schluckte schnell ihr Erstaunen hinunter und bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. Sie empfand neben Schrecken und Angst nun sogar eine gewisse Neugier dem Sprecher gegenüber – selbstverständlich durfte er das nicht bemerken.

Also schnaubte sie trotzig und gab zurück: „Wer sich unsichtbar macht, verbirgt etwas. Etwa vor Furcht? Oder weil du Böses im Schilde führst?“

Scheinbar war ihr Gegenüber – wenn er ihr denn gegenüber stand – ihrer Fragen überdrüssig, denn er beschwichtigte sie mit den Worten: „Ganz ruhig, Mädchen. Ich bin ein Verbündeter. Ich beweise es dir. Hier hast du deine Flöte wieder.“

Tatsächlich. Auf dem Tisch lag die kleine Okarina, auf dem beschriebenen Blatt Papier. Sie schaukelte leicht hin und her, als habe sie eben erst jemand dort abgelegt.

Erneut wurde Linnea von Furcht erfasst, als sie begriff, welche Macht der Unbekannte haben musste.

„Normalerweise traue ich einem Fremden nur, wenn ich die Wahrheit in seinen Augen lesen kann. Aber ich kann deine nicht einmal sehen, geschweige denn überhaupt etwas von dir.“

Abermals lachte die Stimme auf. „Du musst meinen Worten nicht trauen. Traue denen deines Stiefvaters. Ich überbringe dir eine Nachricht von ihm.“

„Steinspalter? Du kennst ihn? Weißt du, wo er ist … ?“

„Überzeuge dich selbst, Mädchen.“

Linnea unterdrückte einen weiteren überraschten Aufschrei, als vor ihren Augen ein Gegenstand auf dem Tisch, genau neben der winzigen Flöte, erschien. Es war ein Klappmesser, in dessen flachen Griff aus dem Holz eines Apfelbaumes ein Symbol eingeritzt war: Der Umriss eines männlichen Oberkörpers mit nach oben angewinkelten, enorm kräftigen Armen. Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase, verzog sich aber schnell wieder. Verströmte der unsichtbare Fremde diesen Gestank?

Sofort streckte Linnea die Hand nach dem Messer aus, hielt dann aber zögernd inne. Misstrauisch wandte sie ein: „Das könnte jedem Mitglied dieser Familie gehören. Und die ist verdammt groß.“

„Ich denke, du weißt, welche Besonderheit Steinspalters Messer von denen der anderen unterscheidet.“

Linnea wusste, wovon er sprach. Ganz langsam und zögerlich, als befürchtete sie, es könne zum Leben erwachen und sie beißen, nahm sie das Messer in die Hand und klappte es auf. Da war sie. Die kleine Scharte genau in der Mitte der Klinge, etwa so lang wie ihr kleiner Finger. Das war Steinspalters Klappmesser. Das bedeutete allerdings noch lange nicht, dass ihr Stiefvater Balthasar die Waffe freiwillig überlassen hatte …

„Du könntest ihm das Messer gestohlen haben.“

„Das ist wahr“, gab die Stimme zu. „Aber ich lüge nicht. Und ich tue niemandem etwas zuleide. Ich bin aufrichtig, Mädchen.“

„Ja sicher…“, murmelte sie.

Balthasar wurde ungeduldig. „Vertraue mir oder vertraue mir nicht. Das ist deine Sache. Hör‘ mir bitte zu und unterbrich mich nicht, denn ich werde mich nicht wiederholen.“

Da der Redner offenbar auf ihre Zustimmung wartete, nickte sie stumm und gebot ihm dadurch, fortzufahren.

„Danke, Mädchen. Steinspalter bittet deine Mutter und dich darum, unverzüglich das Land zu verlassen. Ihr müsst seine Anweisung unbedingt befolgen!“

„Was?!“, stieß Linnea atemlos hervor. Als Balthasar nicht antwortete, erinnerte sie sich an ihr Versprechen, ihm nicht ins Wort zu fallen und entschuldigte sich ein wenig beschämt.

„Wie schon gesagt. Ihr müsst, so schnell es geht, das Land verlassen und mit allem, was ihr habt, nach Frisurien ziehen!“

Linnea stand wohl der Schock ins Gesicht geschrieben, denn Balthasar erklärte: „Steinspalter weiß um die Schwierigkeit einer solchen Reise und es tut ihm sehr leid, euch dies abzuverlangen. Er selbst kann nicht kommen – frag‘ mich nicht, weshalb. Selbst wenn ich es wüsste, dürfte ich es dir nicht sagen. So, Mädchen …“

Die unsichtbare Stimme verstummte. Linnea war so perplex, dass sie völlig vergaß, dem Fremden gegenüber misstrauisch zu bleiben. Sie glaubte ihm und machte sich innerlich bereits Gedanken über eine Umsetzung von Steinspalters Plan.

„Und wo sollen wir uns mit ihm treffen? Er kommt doch auch dort hin, nicht wahr?!“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Ja. Ihr sollt nach Schlossing, der großen Stadt im Süden, gehen, an ihr vorbeiziehen, nach Laterne wandern und von da an der Küste folgen. Wenn ihr an der Küste entlang nach Süden weiterzieht, stoßt ihr auf ein riesiges Türmerlager, groß wie eine Stadt. Es ist eine geschlossene Gemeinschaft. Es gibt dort befestigte Straßen zwischen den Zelten, außerdem wird das Lager bewacht und bietet alles, was man zum Leben benötigt. Er sagt, er wird euch dort finden.“

Linnea nickte, obwohl sie nicht sicher war, ob Balthasar es überhaupt sehen konnte.

„Ach ja, Mädchen. Da ist noch etwas. Nehmt nicht den langen Weg um die Berge herum, sondern den direkten, etwas beschwerlicheren durch das Elfen-Gebirge. Nehmt euch dort unbedingt vor Schwarzwölfen, Bären und Sturmpumas in Acht.“

„Was sind Sturmpumas?“

Balthasars Stimme wirkte belustigt, als er erwiderte: „Steinspalter wusste, dass du das fragst. Er meinte, ich soll dir antworten: Das ist die gefährliche, unbezähmbare, tödliche Ausführung von Osiris – was auch immer das bedeuten mag.“

Linnea musste kurz schmunzeln, als sie an Osiris, den plumpen Rauchpuma dachte. Ihr Lächeln erstarb sogleich, als sie sich einen richtigen Puma vorstellte: messerscharfe Zähne, gewaltige Pranken mit tödlichen Krallen, ein drahtiger, schlanker Körper, vollbepackt mit Muskeln, unbändige Kraft und Ausdauer, geschärfte Sinne und dazu die Fähigkeit, sich lautlos zu bewegen. Das alles verbunden mit einem Hunger auf Fleisch, der niemals gestillt werden konnte. Aber auch mit Bären und Schwarzwölfen war nicht zu spaßen.

„Damit kann ich etwas anfangen. Ist das alles?“

In Linneas Worten lag ein sarkastischer Unterton.

„Ja. Das ist alles, Mädchen.“

Linnea begann zu sticheln. „Damit ich das richtig verstehe: Du erwartest jetzt von mir, dass ich zu meiner Mutter gehe und ihr erzähle, eine unsichtbare Stimme hätte mir geraten, das Land zu verlassen und nach Frisurien zu ziehen?“ Bevor die Stimme etwas erwidern konnte, ergänzte sie: „Und Steinspalter denkt, dass sie mir glaubt und wir sofort unsere Sachen packen und uns auf den Weg zu ihm machen?!“

Ein Anflug von Ärger mischte sich in Balthasars Stimme, als er antwortete: „Ich erwarte gar nichts von euch. Ich bin nur der Bote. Es ist ganz allein eure Entscheidung, ob ihr meinen Worten Glauben schenkt oder nicht. Alles andere geht mich nichts an.“

Linnea schwieg. Sie würde sich mit Lannie beraten. Sie spürte jedoch, dass sich in ihrem Innern bereits Vertrauen zu dem fremden Unsichtbaren aufgebaut hatte. Linnea wusste nicht genau, warum, aber ihr Unterbewusstsein sagte ihr, dass von ihm keine Gefahr ausging.

Weil sich für längere Zeit Stille ausbreitete – zumindest im Zelt, denn draußen hörte man nach wie vor das wilde Durcheinander von Stimmen, das Rattern der Karren und das Scheppern von Metall – dachte Linnea kurz, sie sei wieder allein.

Doch dann ertönte erneut Balthasars Stimme: „Es war ziemlich mutig von dir, dich einem unsichtbaren Gegner mit bloßen Händen gegenüberzustellen, Mädchen. Das ist nicht das typische Verhalten, das man von einer Frau erwarten würde. Hattest du keine Angst? Wolltest du nicht davonlaufen?“

Nicht das Verhalten einer typischen Frau … Linnea musste wieder an die Worte der Eisernen Witwe denken.

„Weißt du“, zum Zeichen ihrer Furchtlosigkeit setzte sie sich und löste ihre Anspannung ein wenig, „mich mit dir zu unterhalten, hat mir ein bisschen die Angst genommen. Es hat mir gezeigt, dass du ein Mensch bist – oder zumindest zivilisiert. Ich fürchte weniger Menschen als Tiere.“

„Wie das?“, wollte Balthasar verwundert wissen.

„Mit Menschen oder anderen zivilisierten Wesen kann man vernünftig reden – oder es wenigstens versuchen. Tiere sind wild und so vertraut sie auch mit den Menschen sind, sie handeln immer nach ihrem Instinkt. Wenn der Instinkt ihnen gebietet, mich zu töten, dann tun sie das. Ein intelligentes Wesen lässt sich vielleicht noch mit Worten überzeugen, mich zu verschonen.“

Da Balthasar sich nicht regte, fuhr sie fort: „Außerdem haben die meisten Tiere von Natur aus Waffen. Klauen, Zähne, Hörner, Stacheln oder einen Panzer. Ich habe dagegen nur weiche, verletzliche Haut, kurze Nägel und viel zu stumpfe Zähne zu bieten. Andere Menschen haben die gleichen Nachteile wie ich.“

„Deswegen benutzen die meisten zivilisierten Wesen eine Waffe, wenn sie dich töten wollen. Was tust du dann, Mädchen?“

Auch darauf hatte Linnea eine Antwort. „Es besteht immer noch eine kleine Chance, dass ich es schaffe, ihnen die Waffen zu entreißen. Einem Tier kann ich wohl schlecht die Reißzähne ausrupfen, nicht wahr?“

Der Unsichtbare gluckste. „Das stimmt wohl. Interessante Einstellung, die du da hast. Wirklich interessant … Da hast du Glück, dass ich dir nicht feindlich gesinnt bin, denn es würde dir sicher nicht leichtfallen, einem unsichtbaren Gegner seine unsichtbaren Waffen abzunehmen.“

Linnea lächelte nervös.

„Ja, das ist wohl wahr … “, murmelte sie.

„Aber halte dich nicht länger mit Geplauder auf. Benachrichtige deine Mutter. Es hat mich gefreut, Mädchen.“

Ein muffiger Geruch zog an Linnea vorbei. Nun war sie sicher, dass dieser Gestank Balthasar anhaftete. Anscheinend bewegte sich der Fremde in Richtung Ausgang.

„Mein Name ist Linnea!“, sagte sie noch schnell.

„Ich weiß“, klang es von der Eingangstür her. Dann wurde es still. Sie war wieder allein.

Mythalia

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