Читать книгу Fünf Dinge, die wir nicht ändern können und das Glück, das daraus entsteht - David Richo, David Richo, Дэвид Ричо - Страница 14

Angezogen oder abgestoßen

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Unser Hingezogensein zu wie unser Abgestoßensein von Menschen, Orten und Dingen scheinen über eine glockenförmige Kurve zu verlaufen. Wir können in der Kurve drei Phasen feststellen: Steigen, Höhepunkt und Fallen. Wir hören einen Song und fangen an, ihn zu lieben (erhöhtes Interesse), kaufen daher die CD und hören sie ständig (Höhepunkt der Freude). Dann hören wir sie weniger oft (Nachlassen des Interesses), und schließlich wird der beste Song, den wir je gehört haben, kaum je wieder angehört. Sein Reiz hat den Gipfel der glockenförmigen Kurve längst überschritten.

Die gleiche glockenförmige Kurve tritt im Fall der Ablehnung auf, wie die Geschichte von der Schönen und dem Biest belegt. Anfangs verspürte die Schöne Abscheu, doch später wurde es Liebe. Da es sich um ein Märchen handelt, bleibt der positive Höhepunkt bestehen – „und sie lebten glücklich bis an ihr Ende“. Doch zu verlangen, dass der Höhepunkt irgendeiner Erfahrung bestehen bleibt, bedeutet, in einem Märchen zu leben.

Ein anderes Beispiel für die Kurve in Hinsicht auf Ablehnung ist unsere Reaktion auf ein Monster in einem Horrorfilm. Beim ersten Anblick wenden wir den Blick in Abscheu oder Schrecken ab. Doch während das Monster in einer Szene nach der anderen auftaucht, gewöhnen wir uns an seinen Anblick und fürchten uns nicht mehr. Die glockenförmige Kurve, eine innere geometrische Figur in allen von uns, ist in der Tat die Kurve, auf der wir zur Furchtlosigkeit fortschreiten.

Intime Beziehungen folgen dem gleichen Schema. „Es ist nicht mehr so, wie es einmal war“, sagen wir über eine Beziehung. Wir schwelgen in romantischen Gefühlen, kommen zum Gipfel der Erregung und stellen dann fest, dass der Kitzel verschwunden ist. An diesem Punkt haben wir zwei Alternativen. Wir können die Beziehung abbrechen oder eine neue, reifere, mehr auf Liebe gegründete eingehen, die nicht auf Kitzel, sondern auf Verpflichtung beruht. Den größten Fehler, den wir Menschen machen, ist, an dem, was ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, zu haften und zu glauben, das würde sich niemals ändern. Erinnern wir uns an Goethes Faust, der einen Pakt mit dem Teufel schloss. Er sollte seine Seele verlieren, wenn er jemals zu einem Augenblick sagte: „Verweile doch, du bist so schön.“ Wir verlieren unser spirituelles Leben, wenn wir versuchen, an Perfektion oder Unwandelbarkeit festzuhalten.

In unserem fortlaufenden Bemühen, die Existenzbedingungen zu verleugnen, können wir uns vielleicht einen Partner ins Boot holen. Persönliche Beziehungen werden in einer Gesellschaft, in der Religion immer mehr an Bedeutung verliert, für unser Überleben immer wichtiger. Die „Beziehung“ wird zu unserer neuen Zuflucht, der neuen höheren Macht. Das Kollektive ist dem Persönlichen gewichen. Ohne etwas Geistiges dort oben, halten wir fest an dem Körperlichen hier unten. Daher führt das Scheitern einer Beziehung zu doppeltem Kummer, ja sogar zu Panik.

Jede der Hauptgegebenheiten des Lebens konfrontiert uns mit unseren tief verwurzelten Illusionen. Die Tatsache, dass die Dinge sich ändern, steht der Illusion der Dauerhaftigkeit gegenüber. Der Umstand, dass Pläne scheitern, steht unserer Illusion von Kontrolle gegenüber. Unsere Illusion, dass die Dinge gerecht sind oder uns kein Leid geschehen wird oder dass man den Menschen vertrauen darf, wird durch die Gegebenheiten, mit denen wir im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden, in Frage gestellt. Die Gegebenheiten befreien uns von Unwissenheit und Illusion.

In einer Praxis wie der Achtsamkeit kultivieren wir Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt ohne unsere störenden Skripte oder Überarbeitungen. Auf diese Weise werden wir von der Illusion befreit. Achtsamkeit geleitet uns auf den mittleren Weg zwischen Anziehung und Ablehnung. Wir haften nicht an dem Anziehenden und flüchten nicht vor dem Abstoßenden. Wir sitzen einfach in unserer gegenwärtigen Wirklichkeit und nehmen unsere Wünsche, uns einer Sache anzunähern oder davor davonzulaufen, wahr, ohne sie ausagieren zu müssen. In dieser Zentralposition gibt es eher ein Ja zur gesamten Wirklichkeit als ein Nein zu der einen oder anderen ihrer Dimensionen. Diese Wahl gilt für die psychologische Arbeit und für die spirituelle Praxis.

Psychologisch gesehen mag es sinnvoll erscheinen, sich auf Dinge zu oder von ihnen weg zu bewegen. Es ist ein Anzeichen für gesundes Ermessen, Unterscheidungsvermögen und Selbstbehauptung. Psychologie ist die Wissenschaft vom Ego, und das Ego lebt vom Wählen und Unterscheiden. Doch das „entweder – oder“ gewährt der spirituellen Dimension des Urteilsvermögens keinen Raum. Besteht man auf einer Möglichkeit statt alle Möglichkeiten innerhalb eines Spektrums zuzulassen, so ist das Ignoranz.

Spirituelle Flexibilität lebt von der Versöhnung von augenscheinlichen Unterschieden. Sie ist die Wissenschaft des Paradoxen, des „sowohl – als auch“. So verpflichten beispielsweise die Bodhisattva-Gelübde der buddhistischen Praxis den Übenden, das Wohl der anderen dem eigenen Wohl vorzuziehen. Dieselbe Verpflichtung findet sich in „Liebe deinen Nächsten“, einer Handlungsanweisung, die sich in allen religiösen Traditionen findet. Doch bei der Selbstbehauptung – einer psychologischen Fertigkeit –, geht es darum, sich selbst an erste Stelle zu setzen, ohne anderen zu schaden. Wie können wir diese beiden Direktiven zusammenbringen?

Die Antwort liegt in der Unterscheidung der Geltungsbereiche der verschiedenen Dimensionen des Lebens. In der psychologischen Arbeit arbeiten wir mit Dualität, da das „Ich“ unsere Einzigartigkeit ausmacht. In der spirituellen Praxis begegnen wir überhaupt keinem Dualismus, da wir kein „entweder – oder“-Ich haben, sondern nur eine „sowohl – als auch“-Verknüpftheit. Ich sorge für mich, aber nicht auf Kosten anderer; ich setze andere an erste Stelle, aber nicht auf meine Kosten.

Die Methoden der Selbsthilfe-Bewegung lehren uns, unsere psychologische Arbeit und unsere spirituelle Praxis in Einklang zu bringen, aber uns ist vielleicht eine wichtige Unterscheidung nicht bewusst: Sie sind nicht dasselbe, da das eine dualistisch ist und das andere nicht. Sie zu integrieren gehört zum Bereich des Paradoxes, wobei wir die Unterschiede anerkennen und einen Weg finden, zwischen beiden zu leben. Das Gleichgewicht findet sich auf eben diesem mittleren Weg; hier findet das Wort bedingungslos in den Ausdruck „bedingungsloses Ja“ Eingang, denn es besagt, dass dieses Ja nicht mehr von einem „entweder – oder“ bedingt ist.

„Sowohl – als auch“ spiegelt die Lehren der tantrischen Tradition des Buddhismus wider, in der die Existenzbedingungen als nützliches Rohmaterial für die spirituelle Praxis angenommen werden. Unsere persönlichen Probleme und zwischenmenschlichen Konflikte werden zum Pfad des Mitgefühls und der Weisheit. Weder leugnen wir die Gefühle, die die Lebensumstände in uns hervorrufen, noch vermeiden wir sie. Die Gegebenheiten und unsere Reaktionen darauf sind essenzielle Zutaten für die Erleuchtung. Dies lässt die Welt an sich zu einer Erscheinung von Licht werden. Tantra macht unsere Bewusstseinsevolution zu einer ursprünglichen und unzerstörbaren Einheit. Tatsächlich ist Bewusstsein die Lebenskraft des Universums.

Wir werden auf den Seiten dieses Buches weiterhin sehen, wie jedes Fahrzeug des Ja zu den Gegebenheiten des Lebens – das spirituelle, das mystische und das psychologische – unsere Verbundenheit mit anderen verstärkt und feiert. Dies ist eine Globalisierung des Bewusstseins. Es ist nicht nur unser persönliches Bewusstsein, das zunimmt, sondern auch unser kollektives Vermögen für Bewusstsein. Unser persönliches Licht verstärkt das Vermögen der Welt, Licht zu manifestieren.

Fünf Dinge, die wir nicht ändern können und das Glück, das daraus entsteht

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