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1.5.3 Verstehen

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Die grundlegende Voraussetzung für das intersubjektive Verstehen sind die von Schütz beschriebenen Grundaxiome:

1. »Die Grundaxiome der sozialisierten natürlichen Einstellung sind erstens die Existenz intelligenter (mit Bewußtsein ausgestatteter) Mitmenschen und zweitens die – prinzipiell meiner Erfahrung ähnliche – Erfahrbarkeit der Gegenstände der Lebenswelt für meine Mitmenschen.« (Schütz & Luckmann 2017, S. 89)

2. »Aus der Erfahrung jener Strukturen wächst mir das Wissen zu, daß ›dasselbe‹ Objekt notwendig für jeden von uns Unterschiede aufweisen muß; […].« (Schütz & Luckmann 2017, S. 89)

Lassen Sie uns diese Aussagen von Schütz vertiefen. Alle Menschen erleben Gesundheit, Krankheit, den Lebenszyklus, den Rhythmus der Natur und stehen in wechselseitigen Beziehungen als Mitglieder sozialer Gefüge. Um handeln und wirken zu können, müssen sie ihre eigene Lebenswelt verstehen. Auf der Basis eines Wissensvorrates aus früheren eigenen Erfahrungen und aus Erfahrungen, die Mitmenschen berichten, wird die Welt ausgelegt (Schütz & Luckmann 2017). In Situationen des praktischen Alltags, verbunden mit praktischen Motiven, weicht diese Art der Konstitution von Alltagswelt der zweifachen Idealisierung. Hier schrieb Schütz von der Generalthese der wechselseitigen Perspektiven, welche die Grundlage für die soziale Ausformung der Lebenswelt bildet. Die Menschen nehmen die Weltsicht ein, weil sie davon ausgehen, dass sie die Dinge in gleicher Perspektive erfahren, wenn sie mit Mitmenschen die Rollen tauschen würden. Es handelt sich also um die »Vertauschbarkeit der Standpunkte« und »[z]weitens die Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme.« (Schütz & Luckmann 2017, S. 99) Unterschiede sind für den praktischen Zweck irrelevant, weil es in der Sozialwelt andere Menschen gibt, die »wie ich« sind. Soziales Zusammenwirken und Verstehen wird erst durch sozialisiertes Wissen möglich. Wir verfügen über objektives Wissen, leiten Wissen von der Welt ab und erschließen individuelles Wissen, u. a. aus unserem Beruf. »Wir lernen als gegeben hinzunehmen, daß wir grundsätzlich auf diese Weise fortfahren können: daß also nicht nur unsere schon gemeinsame erfahrene Welt sozialisiert ist, sondern daß meine noch erfahrbare Welt prinzipiell sozialisierbar ist.« (Schütz & Luckmann 2017, S. 99)

Die Menschen verstehen die Einzigartigkeit ihrer Mitmenschen in nur sehr spezifischen Situationen. Überwiegend erfassen sie durch Typisierungen. Den Ansatz der Typik führte Schütz ein, um zu erklären, wie sich Menschen verständigen. Sie greifen auf Typen, also typische Vertreter einer sozialen Rolle zurück. »[…] Wenn ich einem Mitmenschen begegne, so ist es auch immer ein bestimmter Mensch, oder jedenfalls ein bestimmter Typ von Mensch, mit seinen Besonderheiten.« (Schütz & Luckmann 2017, S. 102)

Das Erfahren der Sozialwelt, unter dem Ansatz der Typik, beschrieb Schütz im Übergang von lebendigen Wir- Beziehungen zu sozialen Beziehungen unter Zeitgenossen, der Grenze zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung (Schütz & Luckmann 2017). Unmittelbar erfahren sich die Menschen in einer gemeinsam geteilten räumlichen Lebenswelt, in der Weltzeit und in ihrer Existenz. »Er und ich altern zusammen. Die Begegnung (face-to-face situation) ist die einzige soziale Situation, die durch zeitliche und räumliche Unmittelbarkeit gekennzeichnet ist.« (Schütz & Luckmann 2017, S. 101)

Die Voraussetzung, um erfahren zu können, ist die gegenseitige Zuwendung und Aufmerksamkeit. Schütz benannte diese Art Zuwendung als Du-Einstellung, die einseitig und wechselseitig verlaufen kann. Zu einer wechselseitigen Du-Einstellung kommt es nur in einer sozialen Beziehung, die Schütz als Wir-Beziehung bezeichnete. Allein in der Wir-Beziehung können die Menschen am bewussten Leben des anderen teilnehmen. Im gemeinsamen Gespräch wird die objektive Bedeutung der Worte des anderen ausgelegt und die Sprache, »wie er es sagt«, als subjektive Sinnkonfiguration, auf Erfahrung gestützt, erlebt. Die Angemessenheit der in die Interaktion eingebrachten Deutungsschemata kann direkt überprüft werden. Man versichert sich der Existenz der Welt und gemeinsamer Sichtweisen. »Den Erlebnisablauf des Mitmenschen erfasse ich nur ›mittelbar‹, indem ich seine Bewegungen, seinen Ausdruck, seine Mitteilungen als Anzeichen von subjektiv sinnvollen Erfahrungen eines fremden Ich auslege.« (Schütz & Luckmann 2017, S. 103)

Die Wir-Beziehung findet nur in der Unmittelbarkeit statt und nur in der Wir-Beziehung wird die Intersubjektivität der Lebenswelt ausgebildet und kontinuierlich bestätigt. Wie die Du-Einstellung in der Typisierung des Du aktualisiert sich auch die Wir-Beziehung »[…] in [der] […] Typisierung des Anderen […].« (Schütz & Luckmann 2017, S. 102) »Die Lebenswelt ist weder meine private Welt noch deine private Welt, auch nicht die meine und deine addiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung.« (Schütz & Luckmann 2017, S. 109)

Die Reflexion über die Beziehung, wobei hier lebendige Erlebnisse die Voraussetzung dafür sind, steht außerhalb der Wir-Beziehung. Je mehr über die Beziehung reflektiert und weniger am bewussten Leben des anderen teilgenommen wird, umso weniger leben die Menschen in der Wir-Beziehung gemeinsamer Erfahrungen. Da die räumliche und zeitliche Unmittelbarkeit der Wir-Beziehung in Nähe und Distanz ausgeprägt ist, entfernen sich die Menschen von der Beziehung, hin zu mittelbarer Erfahrung (Schütz & Luckmann 2017).

Die ursprünglichste Form der sozialen Beziehung in der alltäglichen Lebenswelt ist die Begegnung. Menschen sprechen in der Unmittelbarkeit miteinander, wodurch das Bewusstseinserleben des anderen zugänglich wird. In der Folge verändern sich die jeweiligen Erfahrungen der Menschen; sie verabschieden sich und werden zum jeweiligen Zeitgenossen, weil sie eine gemeinsame Weltzeit teilten. Die aktuelle Erfahrung erfährt keine Veränderung (Schütz & Luckmann 2017, S 102 ff.).

»Dies ist ein Grund dafür, warum die Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit einer Erfahrung bzw. sozialen Beziehung nicht zum Problem wird und im Alltag der Auslegung nicht bedarf. […] Die aktuelle unmittelbare Erfahrung wird zur vergangenen, nun wieder erinnerten unmittelbaren Erfahrung.«

(Schütz & Luckmann 2017, S. 111)

Die Menschen erinnern sich an die Mitmenschen, im Guten oder Schlechten. Dass es bei den Menschen durch die Begegnung dennoch zu einer Veränderung der Erfahrung kommt, bringt der Abschied vom Mitmenschen mit sich, ebenso wie das nicht weiter teilnehmen können an dessen Leben in der Unmittelbarkeit des Bewusstseinsstroms. Die Menschen wissen, dass sich die anderen nach der Verabschiedung verändern. Ohne die Reflexion wird in der natürlichen Einstellung des Alltags am Vertrauten festgehalten, bis die Menschen gegenteiliges Wissen erfahren. Die räumliche Erfahrung der alltäglichen Lebenswelt kann dem subjektiven Erleben der Sozialwelt in ihrer Erlangbarkeit und Wiederherstellbarkeit gleichgesetzt werden. Auf eine Ebene mit der Wiederherstellbarkeit einer freundschaftlichen Beziehung kann die Wiederherstellbarkeit einer Wir-Beziehung verstanden werden (Schütz & Luckmann 2017).

Wir-Beziehungen bilden sich in der Unmittelbarkeit aus. So wie die Ehe, die auf eine bestimmte Zeit angelegt ist, oder die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, aber auch Wahlbeziehungen, für die eine bestimmte Erlebnisnähe und -tiefe konstitutiv sind (Schütz & Luckmann 2017).

Die Aussicht auf eine lebendige Wir-Pflege-Beziehung ist von ihrer Wiederherstellbarkeit abhängig. Umso weiter weg die räumliche Unmittelbarkeit der Erfahrung rückt, umso mehr nähert sie sich der mittelbaren Erfahrung der Sozialwelt. Aus lebendigen Wir-Beziehungen können herstellbare, aber auch nicht wiederherstellbare Beziehungen folgen. Mittelbare und in der Anonymität liegende Systeme, wie das Gesundheits- oder Sozialsystem, werden von den erkrankten Menschen nicht erfahren, weshalb für sie die Regelungen im Sozialgesetzbuch nicht immer nachvollziehbar sind. Als soziale Zeitbeziehung kann die Pflegebeziehung im Sinnzusammenhang angelegt werden, weil sie über die Handlung vorentworfen ist. Ihr Sinn bestimmt sich vom Handlungsziel her. Weil der Sinn nur über die subjektiven Sinnzusammenhänge der Handelnden erklärt werden kann, ist der Sinn der Pflegebeziehung von Individuum zu Individuum divergierend. Was müssen wir in diesem Zusammenhang unter dem Begriff Sinnkonstitution verstehen und wie kommt es zur Neudefinition des Sinns?

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