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Die Welt als Enzyklopädie

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Die Ebstorfer Weltkarte

Das erstaunliche Format von 3,58 mal 3,56 Metern (12,74 m2 Fläche) ermöglicht es der um 1300 erstellten, aber 1943 verbrannten und nur in Reproduktionen tradierten Ebstorfer Weltkarte, die 2345 Bild- und Texteinträge zu integrieren. Eine solche enzyklopädische Vielfalt lässt sich weder auf einen Blick erfassen noch eindeutig interpretieren. Ein Betrachter muss sich die geostete Karte schrittweise erschließen, sei es durch ein umfassendes Vorwissen, durch entdeckende Neugierde oder gezielte Suche. Dabei lenken die Bild- und Textzeichen unterschiedlicher Größe und Farbe, geometrische Bildkonstruktionen und erklärende Legenden das wandernde Auge. Rahmen und Mittelpunkt geben eine Struktur vor, um die Verbindungen zwischen Zeichen und Zeichengruppen aufzuspüren und die vielschichtigen Geschichts- und Weltbilder der christlichen Kosmologie zu entdecken. Datierung und Autorschaft der Ebstorfkarte sind bis heute umstritten, Lokalisierung und Gebrauchsfunktion ungesichert. Eine Herstellung im Kloster Ebstorf, vielleicht in Kooperation mit Nachbarklöstern des Lüneburger Raumes, wäre mit Funktionen als Andachtsbild, Unterrichtsmedium und Repräsentationsexemplar zu vereinbaren. Verschiedene Auftraggeber wie der Herzog, der Propst und adlige Mitglieder des Konvents könnten zusammengewirkt haben. Für die Autorschaft sind aufgrund der Schreiberhände Propst Albert, die Priorin und die Schulschwester der um 1307 belegten Klosterschule zu diskutieren. Die Entstehung lässt sich auf die Zeit von 1288 bis 1314, wohl sogar auf 1298 bis 1308, eingrenzen. Viele Argumente, darunter auch die Völker der Kolchis, die als Exponenten einer adeligen Hofkultur vor 1300 kaum denkbar sind, verweisen in die Zeit um 1300, also in die Regierungszeit Herzog Ottos des Strengen (1287–1330), der 1330 in die Ebstorfer Gebetsverbrüderung aufgenommen wurde. Dies bedeutet, dass sowohl die Urheberschaft des Gervasius von Tilbury als auch eine Früh- oder Spätdatierung im Zeitraum von 1208 bis 1373 nicht mehr zu halten sind.

Die Erdscheibe wird von einer Christusfigur umfasst. Die Oikumene könnte also als Körper Christi fungieren. Möglich wäre aber auch, dass der Christuskopf in abgehobener Distanz zwischen Paradies und Alexanderorakel den Betrachter zu Kontemplation und Memorieren anregt. Die Schöpfung des Paradieses ganz im Osten, wo der Sonnenaufgang Leben spendet und Hoffnung auf Erlösung weckt, war das erste Ereignis der Weltgeschichte. Von dort aus lassen sich auf den unzähligen Wegen zum unteren Kartenrand nach Westen biblische, historische und mythische Ereignisse verfolgen. Der Betrachter kann die Raumerfassung mit verschiedenen Zeitebenen verknüpfen und sich den Lauf der Jahrhunderte geographisch vergegenwärtigen.

Zentriert ist die Weltdarstellung auf den auferstehenden Christus, der mit Nimbus und einer vom Kreuz gekrönten Fahne als Sieger über den Tod hervorgeht. Gemäß der Offenbarung des Johannes 21,12 und 21,16 umgibt ihn ein apokalyptisches Jerusalem mit quadratischen Stadtmauern und zwölf Toren. Diese Konzeption verbindet den Nabel-Mythos mit dem Heiligen Grab, das irdische mit dem himmlischen Jerusalem, die Heilsgeschichte mit der Kreuzzugsideologie. Zudem korrespondiert Jerusalem mit der Welt, etwa über den auferstehenden mit dem weltumspannenden Christus, über das Kreuzsymbol mit den Herrschaftssitzen in Theben, Konstantinopel, Köln, Aachen und Lüneburg, über die goldene Fahne mit der Herzogstadt Lüneburg sowie über die allgegenwärtige Grabverehrung mit den Ebstorfmärtyrern in Europa, dem Partherkönig Darius und dem Indienapostel Thomas in Asien sowie den wallfahrenden Nubiern in Afrika. Dieses Wechselspiel zwischen Zentrum und Peripherie bindet das enzyklopädische Wissen in unterschiedliche thematische, zeitliche und räumliche Verstehensebenen ein.


Die Ebstorfer Weltkarte.

Im asiatischen Erdteil markieren der Turm zu Babel oder die Arche Noah Wendemarken der alttestamentlichen Menschheitsgeschichte. Stationen der Feldzüge Alexanders des Großen erinnern wie das zerstörte Troja an die Bedeutung der Antike. Mit den von Alexander hinter dem Kaukasus eingeschlossenen Völkern, die im Mittelalter als Gog und Magog identifiziert wurden, ist ein zweiter Hinweis auf zukünftige Ereignisse der Heilsgeschichte verankert, sollten doch die apokalyptischen Heerscharen im äußersten Nordosten bei der Ankunft des Antichrist über die Welt hereinbrechen. Im unteren Westen der Oikumene stechen das herzförmige Sizilien, das wehrhafte kaiserliche Rom, der Krönungsort Aachen, Braunschweig und Lüneburg hervor. Letztere waren Residenzen des welfischen Herzogtums, in deren Umfeld die Ebstorfkarte gefertigt wurde. Dazwischen verorten sich sagenhafte Reiche, wundersame Völker und seltene Tiergestalten: der Priesterkönig Johannes, die Amazonen, Brahmanen und Gymnosophisten, Kamel, Antilope und Basilisk.

Den Kartenrand im südlichen Afrika bevölkern die Missgestalteten und Anstößigen, die Großlippigen, Hundsköpfigen, Nasenlosen, Vierbeinigen und bogenschießenden Vieräugigen, die Menschenfresser und Troglodyten. Es wäre zu kurz gegriffen, sie einfach als Kuriositäten zu deuten, als Exempla für den vermeintlichen Hang des Mittelalters zum Grotesken. Vielmehr verweisen sie ungeachtet der Diskussion um ihre Abstammung und ihren Status auf die Komplexität und Wohlgeordnetheit der Schöpfung. Von der Peripherie der bewohnten Welt her veranschaulichen sie die Vielschichtigkeit des göttlichen Ordnungssystems und tragen auf den divergierenden Sinn- und Bedeutungsebenen von Vielfalt und Transzendenz entscheidend zur Interpretation des Ganzen bei. Denn die verwendete Zeichensprache ging mit einem mehrfachen Schrift- und Bildsinn einher, den das Mittelalter vor allem zur Deutung der Heiligen Schrift entwickelt hatte. Nach dem literalen Sinn ist zunächst eine Darstellung der Oikumene zu erkennen, in der historische Ereignisse zu lokalisieren und zu erinnern sind. Im allegorisch-moralischen Sinn lassen sich die im Makrokosmos eingetragenen Symbole auf die Handlungsmöglichkeiten des Betrachters zurückbeziehen; so gemahnen etwa Sodom und Gomorrha am Toten Meer an ein tugendhaftes Verhalten. Im anagogischen Sinn betont schließlich der Christuskörper mit Kopf, Händen und Füßen das Verhältnis des Menschen zu Gott und die Vergänglichkeit alles Irdischen.

Die Hereford-Karte

Auch die nach 1283, vermutlich zwischen 1290 und 1300 geschaffene Hereford-Karte thematisiert diese Transzendenz inmitten von ethnologischem, geographischem, historischem und naturkundlichem Wissen. Im Kartenrahmen oberhalb der Oikumene herrscht der auferstandene Weltenrichter über die Erdkugel. Die Erwartung des Endes des irdischen Daseins im Jüngsten Gericht spiegelt sich in den Buchstaben der vier Diagonalpunkte, die sich zum Wort „MORS“ (Tod) zusammensetzen lassen. Die Peripherie bezieht sich wiederum auf die Mitte, in der die gekreuzigte Christusfigur oberhalb Jerusalems die Hoffnung auf die Überwindung des Todes im ewigen Leben symbolisiert.

Kontexte und Verbreitung

Die Weltkarten von Hereford und Ebstorf stellen eine Synthese von christlicher Heilsvorstellung und enzyklopädischem Weltwissen dar. Andere spätmittelalterliche Weltkarten bieten weitere Ausgestaltungen, die Londoner Psalterkarte, die fast 20 Ausfertigungen in der Weltchronik des Benediktiners Ranulph Higden († um 1363), das »Duchy of Cornwall«-Fragment, die Evesham-, Aslake- und Vercelli-Karten sowie die überformatigen Weltentwürfe von Andreas Walsperger und Fra Mauro aus dem 15. Jahrhundert. Solche Einzelexemplare waren, wie die geschulten Produzenten und Benutzer wussten, zur Kontemplation, Repräsentation und Unterweisung multifunktional zu gebrauchen. In welchem Kontext die Ebstorf-Karte gezeigt wurde, lässt sich nicht zuletzt wegen des späteren Verlustes des erst 1834 im Damenstift entdeckten Originals nicht mehr bestimmen. Die Hereford-Karte hing als Retabel eines Seitenaltars der Kathedrale neben dem Schrein des Thomas von Cantalupe, an dem alle Pilger vorbeiziehen wollten. Auch über die Verbreitung solcher Großkarten kann nur spekuliert werden. Die Anfertigung einer mehrere Quadratmeter großen Fläche aus zusammengenähten Pergamenten ging mit beachtlichen Kosten einher und bedurfte einer sorgfältigen Planung. Zeitgenössische Quellen legen nahe, dass eine überdimensionale Erddarstellung keine Seltenheit gewesen sein muss. So beschreibt Abt Balderich (Baudri) von Bourgueil in einem um 1100 für die Gräfin Adela von Blois verfassten Gedicht deren Schlafgemach, zu dessen Ausstattung neben Wandteppichen mit biblischen und historischen Motiven sowie astronomischen Figuren an der Decke eine mappa mundi auf dem Fußboden gehört habe. Das spätantike Fußbodenmosaik mit der Darstellung des Heiligen Landes um Jerusalem in der Sankt-Georg-Kirche im jordanischen Madaba oder die verlorenen Wandmalereien der Kirche von Saint-Silvain in Chalivoy-Milon zeigen darüber hinaus, dass Pergament nicht der einzige Beschreibstoff gewesen ist.

Das »Buch der Kuriositäten«

Die verlorene Weltkarte von al-Ma’mun oder die angeblich aus Silber gefertigte Weltkarte al-Idrisis für König Roger II. von Sizilien lassen vermuten, dass auch arabisch-islamische Kartographen Großformate schufen. Über deren inhaltliche Gestaltung sind keine näheren Aussagen zu treffen, aber ein Blick auf den »Kitāb gharā’ib al-funūn wa-mulahḥ al-‘uyūn« (»Buch der Kuriositäten«) hilft, einige Merkmale herauszuarbeiten, die auch für arabische Großkarten maßgeblich gewesen sein dürften. Das vor wenigen Jahren entdeckte, von der Bodleian Library in Oxford 2002 erworbene Werk enthält eine im 12. oder 13. Jahrhundert abgeschriebene Kosmographie, die vermutlich in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Ägypten verfasst wurde. Sie vereinigt das Wissen von Gelehrten und Reisenden über die sphärische Zusammensetzung der Himmel und die Verteilung der Landmassen; Diagramme und Karten illustrieren die Aussagen. Das Manuskript enthält zwei Weltkarten, welche die Oikumene in Form eines Rechtecks und eines Kreises abbilden. Zeichentradition, Küstenlinienverläufe und Toponyme weichen deutlich von den älteren Balchi-Karten ab. Besonders die rechteckige Welt zeichnet sich im Vergleich mit den streng geometrischen Formen älterer Karten durch geschwungene Linien aus. Alle drei Kontinente, darunter Europa als Insel kaum kleiner als Asien, wirken eng besiedelt. Linien zwischen den Orten demonstrieren die Handelsrouten etwa nach China und Indien. Eine ausgeprägte Symbolsprache sucht man vergebens. Einzig die auch dem Koran zufolge von Alexander dem Großen eingeschlossenen Völker Gog und Magog deuten im Nordosten auf die Schrecken der Endzeit hin (Sure 18,94–97).

Insgesamt versucht das »Buch der Kuriositäten«, das verfügbare geographische Wissen über die Oikumene kartographisch festzuhalten. Arabische Kartenzeichner konnten auf genauere Kenntnisse zurückgreifen als die lateinischen Kollegen. So war das Kaspische Meer schon immer ein Binnenmeer, während die Christen es als Einbuchtung des nördlichen Ozeans ansahen, bis die Missionsreisen des 13. und 14. Jahrhunderts und der kartographische Austausch korrigierend einwirkten. Die Schlichtheit beinhaltete eine äußerst sparsame Verwendung graphischer Zeichen. Eine Ausnahme sind die afrikanischen Mondberge, in denen seit Ptolemaios die Nilquellen verortet wurden. Im ausgehenden Mittelalter gingen sie in europäische Karten und Texte ein. Der niederrheinische Adlige Arnold von Harff behauptete gar, die Mondberge anlässlich seiner Jerusalemwallfahrt zwischen 1496 und 1498 erklommen zu haben. Mit der fiktionalen Schilderung verband sich die unter Gelehrten diskutierte Frage, ob mit dem Auffinden der Nilquellen auch das Paradies erreicht sei oder der Fluss zuerst unterirdisch vom Garten Eden bis zu den Mondbergen verlaufe.

wbg Weltgeschichte Bd. III

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