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KARRIERESTART IN BERLIN

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Berlin um 1900 ist in fieberhafter Aufbruchsstimmung. Gegenüber London, Paris und Wien hat die einstige Provinzhauptstadt Nachholbedarf und den deckt sie mit rasantem Tempo.

„In verblüffender Hast wuchs die Stadt über Preußen hinaus und wurde Reichshauptstadt, sprengt auch diesen Rahmen und war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs durch ihre gewaltigen Kunstsammlungen, durch ihre weltumspannenden Finanzinstitute, durch Musik, Theater, Ausländerverkehr und ihre internationale Halbwelt eine Art Weltzentrum, ja auf mehreren Gebieten das Weltzentrum. Die gewaltige Entwicklung der gesamten Nation – in Einwohnerzahl, Wohlstand, Geschmack – ließ sich von Jahr zu Jahr aus der Physiognomie der Stadt ablesen, die sprunghaft von dürftigem Provinzialismus zu Weltgeltung wechselte.“17

Mit rund zwei Millionen Einwohnern ist die Stadt damals bereits Weltmetropole und schickt sich an, Theatermetropole zu werden. Max Reinhardt schafft sich mit den Reinhardt-Bühnen ein regelrechtes Theaterimperium. Aus der 1901 eröffneten Kleinkunstbühne „Schall und Rauch“ wird „Das Kleine Theater“ mit literarisch anspruchsvollen Aufführungen und 1903 gründet Reinhardt das „Neue Theater am Schiffbauerdamm“. Er hat nur einen ernst zu nehmenden Konkurrenten, nämlich Otto Brahm.

Brahm, seit 1894 Leiter des „Deutschen Theaters“, spielt als Erster Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal. Als er Hauptmanns „Weber“ auf die Bühne bringt, kündigt Kaiser Wilhelm II. aus Protest die Hofloge. Brahm praktiziert den naturalistischen Inszenierungsstil, der allerdings nach Meinung der Durieux mit der Zeit verknöchert sei. Als sein Pachtvertrag mit dem Eigentümer des Theaters nicht verlängert wird, übernimmt Brahm 1905 die Leitung des „Lessingtheaters“ und Max Reinhardt die Leitung des „Deutschen Theaters“.

Max Reinhardt, 1873 in Baden bei Wien geboren, hatte als Banklehrling auf den Stehplätzen des „k. k. Hofburgtheaters“ in Wien seine Leidenschaft für das Theater entdeckt, privaten Schauspielunterricht genommen und später in Wien und Salzburg verschiedene Rollen gespielt. Otto Brahm hatte ihn in einer Aufführung in Wien gesehen, engagiert und 1894 in das Ensemble des„Deutschen Theaters“ aufgenommen. Letzten Endes hat Reinhardt, als er 1905 die Leitung des „Deutschen Theaters“ übernahm, seinen einstigen Förderer Brahm überflügelt und dann beerbt. Er wird zum Begründer des modernen Regietheaters und erweitert die Regietechnik um Massenszenen, aufwendige Ausstattung, Lichteffekte und die Verwendung der Drehbühne. Für Bühnenbild und Kostüme beschäftigt er regelmäßig anerkannte bildende Künstler. So werden Edvard Munch, Emil Orlik, Lovis Corinth und viele andere zu Mitgestaltern seiner Inszenierungen. Im Mittelpunkt seiner Theaterarbeit stehen aber immer der Schauspieler und die Schauspielkunst.

Für das kaisertreue Publikum gibt es Kaiser Wilhelms „Königliches Schauspielhaus“. Der betrachtet es als patriotische Anstalt zur Verfestigung vaterländischer Gesinnung und lässt hauptsächlich Klassiker mit großem Pathos und die Dramen Ernst Wildenbruchs aufführen. Hier gibt es wallende Locken, ausgestopfte Waden und viel Gold und Silber. Tilla Durieux nennt es respektlos Kitsch. Der aus Galizien stammende Schauspieler Alexander Granach, der aus dem Schtetl aufbrach, um bei Reinhardt in Berlin Schauspieler zu werden, vergleicht in seiner Autobiografie „Da geht ein Mensch“ den Aufführungsstil der drei wichtigsten Berliner Bühnen:

„Im Königlichen Schauspielhaus (…) waren mehr Schauspielbeamte. Alle gingen wie auf Kothurnen und sprachen schön, zu schön, zu getragen und machten Gesten, wie nie ein Mensch sie machen würde (…). Aber genau so wie die Schauspieler im Königlichen Schauspielhaus zu unnatürlich waren, waren die im Lessingtheater zu natürlich. Man hustete, spuckte, kratzte sich, machte Riesenpausen – eine Vorstellung sah dann so aus, als ob man zufällig in ein fremdes Haus hineingekommen und Zeuge peinlichster privater Auseinandersetzungen wäre. (…) Reinhardts Theater war zwischen den beiden. Es war natürlich und doch nicht alltäglich, es war feierlich und doch ohne falsches Pathos, es war Theater, ein romantisches, poetisches Theater.“18

Für Tilla Durieux ist der Eindruck, den Max Reinhardt auf sie macht, nach eigenen Worten „überwältigend“. Er spricht mit ihr und lässt sie jene andere Welt spüren, nach der sie sich seit ihrer Kindheit sehnt. Der Star unter Reinhardts Schauspielern ist damals Gertrud Eysoldt. Sie verfügt über ein großes Rollenspektrum, brilliert in den Stücken Hugo von Hofmannsthals, verkörpert hinreißend die Penthesilea im Drama von Heinrich Kleist und ist eine erotisch verführerische Lulu. Ihre Glanzrolle ist die Salome in Oscar Wildes gleichnamigem Einakter. Das Stück war nach der Pariser Uraufführung mit Sarah Bernhardt in der Titelrolle in Deutschland von der Zensur verboten worden und konnte nur in einer geschlossenen Vorstellung gezeigt werden. Reinhardt hatte über ein Jahr gekämpft, bis er es auf einer Berliner Bühne öffentlich aufführen konnte.


Portätfoto von 1905

Als die Eysoldt nach der dritten Vorstellung erkrankt, bietet sich für Tilla Durieux eine Chance. Die junge, unbekannte Schauspielerin, die von Breslau nach Berlin gekommen war und schon einige Rollen mit Erfolg bei Reinhardt gespielt hatte, springt für sie ein – und gewinnt. Tillas Darstellung der zügellosen orientalischen Prinzessin, eines frühreifen Mädchens, das sich seiner Macht über die Männer durchaus bewusst ist, begeistert und fasziniert Publikum und Kritik. Es ist Tillas Durchbruch, der Beginn ihrer großen Karriere.

„Diese Vorstellung habe ich tatsächlich mit vollständigem Aussetzen meines Bewusstseins gespielt, und ich erwachte erst, als der Vorhang fiel und der jubelnde Applaus mich wieder und immer wieder rief. Reinhardt kam auf mich zu und sagte: ,Sie sind ja ein großes Talent, wir werden Ihren Vertrag revidieren müssen.‘ Alles umringte mich, ich taumelte vor Freude.“19

So liest man es in den Erinnerungen der Schauspielerin. Die Zeit bei Max Reinhardt ist für Tilla Durieux zwar entbehrungsreich in materieller Hinsicht, aber überaus reich an Bühnenerfahrung. Auch in der Erinnerung noch voll begeistert schreibt sie:

„Wir waren alle verzaubert von seiner Persönlichkeit. Nur für die Proben lebten wir und die Aufführungen. Alles andere war wesenlos. Dass unsere Gagen winzig waren und wir verpflichtet waren, Kostüme und moderne Kleider davon zu schaffen, dass die Proben übermäßig lange dauerten, dass die Wangel20 und ich in der Nacht schneiderten, die Höflich21 verzweifelt mit Schulden kämpfte und ich immer mit knurrendem Magen herumlief – was machte das aus! Es wurde alles vergessen bei dieser wunderbaren Arbeit auf den Proben und bei den Premieren.“22

Bei aller Anerkennung für die Leistungen ihrer Konkurrentinnen setzt sich Tilla kritisch mit deren Aufführungsstil auseinander. Sie wirft Gertrud Eysoldt und Irene Triesch, der Hauptdarstellerin am „Deutschen Theater“, vor, in ihren Darstellungen in der Gedankenwelt der Jahrhundertwende verhaftet zu sein. Sie verkörpern ihrer Meinung nach ein Frauenbild aus einer Zeit, als Frauen noch nichts von Sport, nichts von Sonne, Luft und Wasser wussten, sondern sich vom Mann unverstanden fühlten, sich im verdunkelten Zimmer ihren seelischen Qualen hingaben und abends Verständnis und Trost erwarteten. „Diese Art Frauen verkörperte die Triesch und sie traf es ausgezeichnet.“23 Es ist ein Frauenbild, das Tilla Durieux so fremd ist, dass alles in ihr revoltiert.

„Dieses tränenreiche Stammeln und weichliche Jammern waren mir in tiefster Seele verhasst. (…) Ich wusste, ich würde jede dieser Rollen anders anpacken, denn dieses Hingeben ohne Abwehr, diese Trauer der schwachen Untätigen erschien mir verächtlich. Ich fühlte genau, dass ich mit dieser Auffassung allein stand.“24

Später, als sie ihren Stil gefunden hat, werden ihr manche Kritiker, zum Beispiel Alfred Kerr und Alfred Polgar, Mangel an Gefühl vorwerfen und ihren Intellekt betonen, den sie bei einer Schauspielerin als Nachteil werten. Auch Julius Bab stellt fest, dass das Herz nur wenig an ihrer Kunst beteiligt sei und schreibt: „Deshalb bleiben ihre allerpersönlichsten und allervollkommensten Leistungen wohl jene, die einen leicht karikaturistischen Einschlag haben. Wenn sie bei Shaw oder Schnitzler die Damen hinstichelt – dann ist sie schlechthin unübertrefflich. Denn dann triumphiert restlos ein überlegener Kunstverstand.“25

Es scheint, dass diese Kritiker jenem Frauenbild nachhängen, gegen das Tilla Durieux revoltiert. Doch bevor es so weit war, schreibt sie, musste ihr erst das Leben „Gelegenheit geben, einen bitteren Kampf zu kämpfen, und der Mann musste erst erscheinen, der mir den Weg zeigt, wie man seine Gedanken in Kunst umsetzt.“26 Dieser Mann erscheint in der Gestalt Paul Cassirers, ihres zweiten Ehemanns, als Tilla noch mit dem ersten verheiratet ist.

Alles, was ich wollte, war Freiheit

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