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LEBENSMENSCH PAUL CASSIRER

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Tillas Mutter, die mit ihr eine Wohnung teilt, ist einerseits stolz auf den Erfolg der Tochter, andererseits um deren Moral besorgt. Die ständigen Querelen und hysterischen Ausbrüche der Mutter mögen mit ein Grund für Tillas Heirat mit dem jungen Maler Eugen Spiro gewesen sein. Sie heiratet ihn 1904 und ist durch die Ehe dem Einfluss ihrer Mutter entzogen. Das Paar bezieht eine bescheidene Wohnung in Halensee, wo die Miete erschwinglich ist. Spiro hat regelmäßig kleinere Aufträge und Tilla spielt mit Erfolg die unterschiedlichsten Rollen. Doch die Ehe währt nicht einmal ein Jahr lang. Bei einer Abendgesellschaft, die Eugen Spiro und seine Gattin gemeinsam besuchen, lernt Tilla den renommierten Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer kennen.

Er stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie, die zu den reichsten und einflussreichsten Familien Berlins zählt. Cassirer ist Bahnbrecher der Moderne in Kunst und Literatur im damals tobenden Richtungsstreit zwischen der vor allem in Frankreich florierenden Kunstströmung der Impressionisten und dem in Deutschland offiziell sanktionierten Historismus. Die neue Kunstszenerie der Impressionisten und der Expressionisten, die Cassirer in Paris kennengelernt hat, will er gegen den expliziten Widerstand des Kaiserhauses und konservativer Adels- und Großbürgerkreise auch in Berlin durchsetzen. Gemeinsam mit seinem Cousin Bruno Cassirer eröffnet er am 1. November 1898 mit einer Ausstellung dreier Künstler der europäischen Moderne, Max Liebermann, Edgar Degas und Constantin Meunier, einen Kunstsalon in der Berliner Viktoriastraße 35. Bereits 1901 hatte er mit untrüglichem Gespür Vincent van Gogh in Deutschland ausgestellt, bis 1910 in insgesamt zehn Einzelausstellungen. Nach der Trennung von seinem Cousin führt Paul den Kunstsalon allein weiter. 1904 zeigt er eine große Cézanne-Ausstellung mit dreißig Gemälden. 1908 gründet er den „Paul Cassirer Verlag“, in dem er den literarischen Expressionismus verlegt, und 1909 die „Pan-Presse“, eine Druckanstalt für Originalgrafik mit dem Ziel, die besten zeitgenössischen Künstler zu vereinen. Als Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift Pan verlegt er während des Ersten Weltkriegs in der Schweiz pazifistische Literatur.


Paul Cassirer, 1912 (Porträt von Leopold von Kalkreuth)

Kaiser Wilhelm II., der nicht nur Europas mächtigster Regent sein will, hat auch den Ehrgeiz, als Förderer von Kunst und Wissenschaft in die Geschichte einzugehen. „Eine Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Grenzen und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr“,27 stellt er lapidar fest. Aber Cassirer kümmert sich nicht um diese Grenzen und stellt die schönsten modernen Werke in seinem Salon aus. Der Kaiser, der die alte Historien- und Schlachtenmalerei protegiert, empfindet es als skandalös, dass „dieser Cassirer“ die „französische Dreckskunst zu uns bringen möchte“. Doch solche Bemerkungen stärken Cassirers Motivation nur noch mehr. 1917 zeigt er Edgar Degas, Max Slevogt, Constantin Meunier und als Hauptattraktion siebzehn Gemälde von Edouard Manet, darunter „Frühstück im Grünen“. Er ist Förderer vor allem Max Slevogts und Max Beckmanns, stellt Oskar Kokoschka aus und druckt in seinem Verlag auch dessen Dramen. Er sponsert und verlegt unter anderem auch Heinrich Mann und Else Lasker-Schüler.

Tilla ist vom ersten Augenblick an von dem charismatischen und geistreichen Visionär bezaubert und fasziniert. Paul Cassirer wiederum ist von ihrer Bewunderung angetan und geschmeichelt. Es ist der Beginn einer filmreifen Liebesgeschichte, einer Amour fou, die in einer Katastrophe enden wird. Als Tilla Eugen Spiro gesteht, dass sie einen anderen liebt, bricht dieser fassungslos zusammen. Er kann sich dieses Geständnis nur mit einer psychischen Erkrankung seiner Frau erklären. Er kann nicht akzeptieren, dass sie ihn in einem unkontrollierten Affekt verlassen will. Bevor sie einen so weitreichenden Entschluss fasse, solle sie erst in einem Sanatorium zur Ruhe kommen und wieder sie selbst werden, verlangt er. Tilla willigt ein, weiß aber nicht, dass das Sanatorium eine Heilanstalt für Nervenleidende ist. Als sie als Insassin ihre Lage erkennt und man sie offiziell nicht entlassen will, stiehlt sie sich davon, setzt sich in einen Zug und fährt nach Berlin. In der Viktoriastraße 35 fällt sie Paul Cassirer in die Arme. Eugen Spiro erkennt, dass er sie verloren hat, und willigt in die Scheidung ein. Später wird Tilla sagen, dass sie und Eugen zu jung gewesen wären, um erkennen zu können, dass sie nicht zueinander passten.

Cassirer bewundert die schauspielerische Leistung der Durieux und spürt gleichzeitig, dass in ihr noch mehr steckt, als sie bis jetzt gezeigt hat, und das will er, ähnlich wie Professor Higgins in George Bernard Shaws „Pygmalion“, in ihr wecken. Er wird ihr Mentor, fördert ihr Interesse für die Literatur, nicht nur für die Stücke, in denen sie spielt, und macht sie mit Künstlern aus seinem Freundeskreis bekannt, damit sie mit den Strömungen moderner Kunst vertraut wird. Er bringt ihr die Schönheit der Sprache nahe, indem er ihr Gedichte vorliest. Als er behauptet, sie hätte den Dialekt ihrer Heimat noch nicht ganz abgelegt und habe von Atmung und Stimme keine Ahnung, nimmt sie bei Francisco d’Andrade, dem berühmtesten Tenor der Zeit, Gesangsunterricht. Sätze aus ihren Rollen muss sie ihm immer wieder und so lange vorsagen, bis sie in seinen Ohren tadellos klingen. Sie beschreibt eine solche Übung vor der Aufführung von Wilhelm Schmidtbonns Stück „Der Graf von Gleichen“, in dem sie die Rolle der Gräfin spielen soll, folgendermaßen:

„Paul studierte mit mir und sprach mir mit seiner Stimme, die so seltsam klang, derart eindrucksvoll die schwierigsten Stellen vor, dass ich sie endlich bezwang. Nur an einem Satz scheiterte ich immer wieder, das war der Schlusssatz des Stückes: ,Sollt es noch einmal geschehen, ich tät es noch einmal.‘ Nach meiner Abendvorstellung quälte mich Paul bis vier Uhr morgens mit diesem einzigen Satz. Ich weinte, wollte die Rolle abgeben, schrie, aber alles half nicht. Bis ich endlich gegen Morgen den richtigen Ton gefunden hatte und bei der Erstaufführung auch mit diesem Satz den Erfolg des Stückes befestigte.“28

In den ersten Jahren ihrer Beziehung mit Paul lernt Tilla den Pianisten und Pädagogen Leo Kestenberg kennen. Eine Konzertlaufbahn hatte er zugunsten seiner sozialdemokratischen Bildungsarbeit und seiner literarischen Aktivitäten aufgegeben. Bei ihm nimmt Tilla Klavierstunden, nicht mehr unter Zwang, wie in der Kindheit, sondern jetzt mit Begeisterung. Als er sie einmal fragt, ob sie ihn vielleicht bei seinen Vorträgen für Arbeiter unterstützen wolle, sagt sie sofort zu. An Sonntagvormittagen fährt sie nun mit ihm hinaus in die Hasenheide und in andere Arbeiterviertel Berlins und rezitiert Lyrik von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Richard Dehmel und Georg Herwegh. Dazwischen spielt Kestenberg am Klavier klassische Musik. Bei einem dieser Vorträge lernt sie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kennen, die später von ihr finanziell unterstützt wird. Der gewaltsame Tod der beiden in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg wird sie tief erschüttern.

Dass die mondäne Schauspielerin, die in den exzentrischen Kreisen der Kunstwelt verkehrt, gleichzeitig eine engagierte Sozialdemokratin ist, findet Paul Cassirers Anerkennung, aber nicht die seiner Familie. Besonders die Frauen seiner erfolgreichen und in der Berliner Gesellschaft angesehenen Brüder finden seine Verbindung mit einer mittellosen Schauspielerin unpassend und behandeln sie daher mit herablassender Nonchalance.

Nach sechs Jahren des Zusammenlebens heiraten Tilla Durieux und Paul Cassirer am 24. Juni 1910. Die gefeierte Diva der Berliner Bühnen und der reichste Kunsthändler Deutschlands sind eines der Traumpaare der Weimarer Republik. Ihre Wohnung in der Margarethenstraße mit Bibliothek, Steinway-Flügel und Gemälden von Manet, Renoir, Cézanne und van Gogh wird zum Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde. Sie ist glücklich, Pauls Frau zu sein, genießt die Kontakte mit Künstlern und linken Intellektuellen, verspürt aber bald auch die Schattenseiten dieser Ehe. Paul Cassirer, narzisstisch und jähzornig, ist patriarchalisch anspruchsvoll, verlangt von Tilla, dass der Haushalt problemlos funktioniert und er seinen Aktivitäten ungehindert nachgehen kann. Dass auch sie einen Beruf hat und dafür hart arbeitet, interessiert ihn nicht. Ebenso wenig interessiert es ihn, dass sie oft stundenlang auf ihn wartet und dann weinend zu Bett geht, wenn er mit seinen Künstlerfreunden nächtelang debattiert und dabei vergisst, dass er mit ihr verabredet war. Auch wenn er sie immer wieder melodramatisch seiner Liebe versichert, gibt er seine zahlreichen Affären nicht auf, verfolgt Tilla aber mit quälender Eifersucht. Dennoch sagt sie, dass sie nie einen Menschen so geliebt habe wie ihn.

„Ich verdanke Paul Cassirer die schönsten und die bittersten Stunden, meine geistige Entwicklung, meine wachsenden Erfolge an der Bühne, eine unendliche innere Bereicherung, aber auch den tiefsten Kummer. Meine Augen hatten durch ihn die Herrlichkeit der Welt gesehen, aber auch die verzweifeltsten Tränen geweint.“29

Alles, was ich wollte, war Freiheit

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