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KRIEGSBEGEISTERUNG UND PAZIFISMUS

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Ein Herzenswunsch Tillas geht 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in Erfüllung – von Auguste Renoir gemalt zu werden. Der bereits gelähmte Maler wird im Rollstuhl von einer Pflegerin ins Atelier geschoben und nimmt mit seinem Interesse am Berliner Theaterleben der Schauspielerin die Befangenheit. Denn wieder hatte sie das Gefühl übermannt, nicht schön oder nicht schön genug zu sein. Diese Unzufriedenheit verschwindet, und während der Unterhaltung macht Renoir eine Bemerkung, die für Tilla nach eigenen Angaben zum Schlüsselerlebnis wird: „Tragik wird immer falsch verstanden. Solange noch Tränen fließen, ist der Höhepunkt des Schmerzes noch nicht erreicht. Erst wenn der Mensch schon wieder lächelt, dann ist der Schmerz unüberwindlich und unendlich geworden.“33

Jetzt erinnert sie sich, dass einige Kritiker an ihren Darstellungen die fehlenden Tränen bemängelt hatten, sie als „intellektuelle“ Tragödin bezeichnet und ihr als Person mangelnde Tiefe des Gefühls unterstellt hatten. Alfred Polgar hatte zu ihrer Interpretation der Maria Stuart geschrieben: „Das Defizit an Wärme liegt im Persönlichen der Durieux. Auch das Glühende ist bei ihr wie um einen eisigen Kern geschichtet, Weichheit ein Willensakt. Nur durch die Mutterschaft des Verstandes kommt, scheint es, diese Ergreiferin zur Ergriffenheit. Tränen, braucht sie welche, muss sie importieren.“34 Nun erhält sie von Renoir die Bestätigung ihrer eigenen Erfahrung, dass man Gefühle auch verschließen oder auf der Bühne ohne Tränen darstellen kann. Sie fühlt sich rehabilitiert. Renoir malt ein lebensgroßes Porträt und Paul Cassirer und Tilla sind überglücklich. Doch dann müssen beide überstürzt aus Paris abreisen. Der Erste Weltkrieg beginnt und das Bild35 bleibt zurück, es ist noch nicht trocken.

Wie auch in Wien feiert man in Berlin den Ausbruch des Krieges mit patriotischem Pathos. Menschenmengen jubeln den Soldaten zu, Bajonette werden mit Blumen geschmückt, man spricht von einem „reinigenden Stahlbad der Nation“. Selbst Thomas Mann empfindet im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich den Krieg als eine „Reinigung“ und als Ausstieg aus der „satten Friedenswelt“. Auch Paul Cassirer ist kriegsbegeistert. Er meldet sich als Freiwilliger, lernt Autofahren und muss Meldungen und Anordnungen an die Front befördern. Sein Einsatz wird mit dem Eisernen Kreuz belohnt. Tilla will als Krankenschwester arbeiten, aber nicht wie die Damen der Berliner Gesellschaft den Offizieren den Schweiß von der Stirn wischen, sondern in Buch, wo im Lazarett die Schwer- und Schwerstverletzten liegen. Ihre anfängliche Kriegsbegeisterung schlägt jedoch bald in Skepsis und schließlich in Pazifismus um:

„Der erste Transport traf ein. Da erlebte ich einen grässlichen Schock. Zum ersten Mal sah ich das Elend, das der Wahnsinn des Krieges über die Menschen brachte. Hatte ich bisher überhaupt darüber nachgedacht? Langsam kam ich zu der Erkenntnis, dass mein Leben bis dahin nur in engen Kurven um meine eigene Person gekreist war. Es war mir nie bewusst, wie viele Menschen hingeopfert werden für die Launen und Fehler von Machthabern.“36

Die bitteren Erfahrungen beider haben Einfluss auf ihre Beziehung. Paul, dem nun die Kontrolle über Tilla entzogen ist, schreibt böse und eifersüchtige Briefe. Tilla ist verstört, zeigt sie Pauls Bruder, dem Psychiater Richard Cassirer. Doch der meint beruhigend:„Du weißt ja, dass Paul immer ein bisschen verrückt war.“37 Als Tilla sich auf Weisung der Ärzte in Berlin erholen soll, da der zwölfstündige schwere Lazarettdienst ihre Gesundheit gefährdet, stürzt eines Abends Paul mit Gift in der Hand ins Zimmer, zertrümmert das Geschirr auf dem Tisch, schreit: „Ich nehme Gift!“ und schluckt es. Er unterstellt ihr ein erotisches Abenteuer und glaubt nicht an die Harmlosigkeit eines Ausflugs auf die Insel Rügen, wie Tilla es beschwört. Paul wird gerettet, seine Brüder aber misstrauen Tilla und geben ihr die Schuld an dem Vorfall. Paul Cassirer wird für dienstuntauglich erklärt und kehrt nach Berlin zurück. Auch er ist im Krieg Pazifist geworden. Im Kunstsalon werden nun Vortragsabende mit pazifistischer Literatur geboten, worauf die Zeitungen von einem „pazifistischen Schlupfwinkel“ berichten und eine Hausdurchsuchung durchgeführt wird. Paul, eben noch für dienstuntauglich erklärt, wird wieder einberufen und tritt in den Hungerstreik. Im Krankenhaus benimmt er sich derart auffällig, dass ihm die Ärzte völlige Dienstuntauglichkeit attestieren, doch bald darauf wird er wegen Fluchtgefahr verhaftet. Nach seiner Freilassung gelingt es dem Ehepaar Cassirer, in die Schweiz zu fliehen.

Zürich ist während des Krieges Treffpunkt zahlreicher Künstler und Intellektueller, gleichzeitig auch Zentrum von Spionage und Spekulantentum. Paul und Tilla leben, als gäbe es keinen Krieg. In Gesellschaft von Freunden und einflussreichen Persönlichkeiten genießt man Theaterabende und Konzerte, macht Ausflüge und feiert Feste. Paul kann geschäftliche Beziehungen anknüpfen, doch immer wiederkehrende Depressionen und Selbstmordgedanken werfen dunkle Schatten. Der renommierte Schweizer Psychiater Eugen Bleuler gibt Tilla den Rat, Paul nie allein zu lassen.

Nach Ende des Krieges kehrt Cassirer nach Deutschland zurück, in ein Berlin, das Max Liebermann folgendermaßen beschreibt: „Berlin ist zerlumpt, schmutzig. Abends dunkel und eine tote Stadt, dazu Soldaten, die Streichhölzer oder Zigaretten in der Friedrichstraße verkaufen, blinde Drehorgelspieler in halbverfaulten Uniformen, mit einem Wort: jammervoll.“38 Tilla Durieux wird vom „Münchner Nationaltheater“, dem ehemaligen Hoftheater, für vier Monate engagiert. Bayerns Ministerpräsident, der Schriftsteller und Politiker Kurt Eisner, hat sich persönlich für sie verwendet. Am 21. Februar 1919 geht Tilla zur Probe ins Theater, Eisner ist auf dem Weg zum Landtag. Er wird mit zwei Schüssen – in den Kopf und in den Rücken – getötet. Tilla erlebt es aus nächster Nähe mit. Es folgt die Ausrufung der Münchner Räterepublik und über die Stadt wird der Ausnahmezustand verhängt. Tilla erkrankt schwer und liegt drei Monate lang in der Münchner Klinik von Prof. Ferdinand Sauerbruch.

Ein weiteres Unglück trifft Paul Cassirer. Sein Sohn Peter erschießt sich mit achtzehn Jahren im Berliner Tiergarten. Das Motiv ist unbekannt.

Als das Ehepaar wieder gemeinsam in Berlin lebt, ist es nicht mehr das Berlin, das es einmal war. Die Stadt hat sich verändert, Freunde haben sich zurückgezogen. Neureiche und Kriegsgewinnler prägen das Stadtbild. In dieser Zeit kommt es zu einer Beziehung zwischen Tilla Durieux und dem jüdischen Unternehmer Ludwig Katzenellenbogen, einem Freund des Paares. Katzenellenbogen ist Generaldirektor eines großen Konzerns, zu dem die Ostwerke-Schultheiss-Patzenhofer Brauereien sowie Zement-, Glas- und andere Fabriken gehören. Gleichzeitig ist er auch einer der Hauptaktionäre. Paul, der natürlich merkt, dass das Verhältnis seiner Frau zu Katzenellenbogen mehr als Freundschaft ist, quält sie mit seiner Eifersucht und seinen Besitzansprüchen. Die Spannungen mehren sich, werden unerträglich und steigern sich bis zur Katastrophe.

Tilla hat sich in ein kleines Hotel in Potsdam zurückgezogen, um sich Klarheit über ihre Gefühle zu verschaffen. Noch immer fühlt sie sich Paul, ihrem Geliebten und Ehemann, der auch ihr Lehrer war, verbunden, aber sie kann seine verletzenden und demütigenden Eifersuchtsszenen nicht mehr ertragen. In diesem quälenden Hin und Her erhält sie von Paul Pakete. Sie vermutet Versöhnungsgeschenke, täuscht sich aber: Paul hat mutwillig Gegenstände, die Tilla besonders teuer waren, zertrümmert und schickt sie ihr mit Briefen, in denen er sie beschimpft und verdächtigt. Nun weiß sie, dass eine Versöhnung nicht möglich ist und reicht die Scheidung ein.

Am Tag des Scheidungstermins liegt im Zimmer des Anwalts der Scheidungsvertrag zur Unterschrift bereit. Paul murmelt eine Entschuldigung und verlässt den Raum. Dann fällt im Nebenzimmer ein Schuss. Tilla stürzt hinaus und findet Paul blutüberströmt auf dem Boden liegend.„Nun bleibst du aber bei mir“, stöhnt er.39 Am nächsten Tag stirbt Paul Cassirer im Alter von fünfundfünfzig Jahren im Krankenhaus.

Eine Welle der Empörung bricht über Tilla Durieux herein, Pauls Brüder geben ihr die Schuld an dessen Tod, man versucht sogar, sie vom Begräbnis fernzuhalten. Bei der Trauerfeier am 10. Jänner 1926 ist das ganze künstlerische Berlin versammelt. Die Witwe steht tief verschleiert abseits. Keiner der Verwandten habe ihr die Hand gereicht, berichtet Harry Graf Kessler.

Nach Cassirers Tod unternimmt Tilla eine bereits vorher geplante Gastspielreise. In einem Interview mit dem Wiener Journal sagt sie: „Die Arbeit ist wie ein Rausch. Verfliegt er, dann sieht man sich mit schmerzhaft wachen Augen in der Welt um und fragt sich: Was bleibt? Nichts bleibt. Man ist einsam.“40

Alles, was ich wollte, war Freiheit

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