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TRIUMPH UND TODESANGST

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Miss Senide wird nach ihren Auftritten in Berlin vom „Circus Halle“ engagiert, gibt Gastspiele in Österreich, tritt in Portugal, Spanien, Frankreich und Belgien auf. Eines ihrer spektakulären Kunststücke, mit dem sie in die Zirkusgeschichte eingeht, ist das „Diner africain“, ein Meisterstück der Dressurkunst, das sie erstmals in Lüttich vorführt, wo sich zur Novembermesse die bedeutendsten Tierbändiger versammeln. Vor ausverkauftem Zirkuszelt zeigt sie vorerst bekannte Tricks und erntet Bewunderung, schon allein aufgrund ihrer Jugend, und beeindruckt durch ihren sanften Umgang mit den Tieren. Dann betritt sie den Käfig zum zweiten Mal, wirft einem Panther ein Stück rohes Fleisch in den Rachen, aber bevor das Tier schlucken kann, greift sie ihm ohne eine andere Waffe als eine leichte Peitsche in der Hand ins Maul und reißt das Fleisch heraus. Die Situation droht zu eskalieren, weil die anwesenden Löwen sie am Ausgang hindern wollen. Das atemlos zusehende Publikum überschüttet sie mit Beifall, als sie glücklich wieder außerhalb des Käfigs steht.

Bei diesem Kunststück, das ihr Engagements in aller Welt einbringt, gibt es hin und wieder Verletzungen, was aber die Spannung und Bewunderung des Publikums nur steigert. Im „Zirkus Moritz Blumenfeld“ gibt sie täglich drei Vorstellungen von je einer halben Stunde, eine gewaltige Anstrengung und Leistung sowohl für die Dompteuse wie auch für die Tiere.

Miss Senide kleidet sich extravagant, liebt Fantasieuniformen und zeigt ihre Beine in Strumpfhosen und hohen Stiefeln wie ihre männlichen Kollegen. In Paris tritt sie in exotisch-freizügigem Kostüm im berühmten „Cirque d’Hiver“ auf, anschließend tourt sie durch Großbritannien und Irland. In Dublin kommt es am 3. Februar 1887 beinahe zur Katastrophe. Die Tierbändigerin soll bei einer Vorführung fotografiert werden, doch gerade in dem Moment, als sie den Kopf in den Rachen ihrer Löwin Fatima legt, geht das elektrische Licht aus, das damals in den Zirkusbauten noch eine Neuheit war. Die Löwin erschrickt und beißt zu. Schwer verletzt kann sich die Dompteuse aus dem Käfig retten. Sie erinnert sich:


Miss Senide am Höhepunkt ihrer Karriere

„Ich saß in einer kleinen Ecke vis-à-vis dem Käfig bei der trüben Gasflamme in meinem blutüberströmten Kostüm; die Tochter des Direktors hatte mir ihren Mantel über die Knie gebreitet und weinte bitterlich, neben mir kniend, und der arme Fotograf lief bald wie wahnsinnig auf der Bühne umher, bald flehte er mich wieder an, ihm zu verzeihen. Der Doktor hielt jetzt prüfend seine Nadeln an die Gasflamme, um die passendste auszusuchen. Dicht vor mir im Käfig stand die andere Löwin ,Cora‘ und wandte keinen ihrer Blicke von mir ab. Diese Situation zu beschreiben ist gar nicht möglich. Ich war kaum einundzwanzig Jahre alt und allein im fremden Lande. In dem festen Glauben, vollständig entstellt zu sein, wurde ich noch durch das Weinen und Jammern der Anwesenden bestärkt. Keine Träne und keinen Laut hörte man von mir. ,J’étais mortifié!‘ Dies ist wohl so zu erklären: Eine Stunde vorher glückstrahlend in der Mitte meiner Zöglinge beifallsumrauscht und dann blutüberströmt gegenüber den murrenden Tieren unter den Händen des Chirurgen.“6

Trotz der schweren Verletzungen im Gesicht und am Hals tritt sie nach kurzer Zeit wieder auf. Zum Glück ist ihr Gesicht nicht entstellt, denn neben der künstlerischen Leistung zählt in der Manege – ganz besonders bei Frauen – auch die physische Attraktivität. Eine Artistin mit entstelltem Gesicht ist ihr Engagement und damit ihre Existenz los. Mit verbundenem Gesicht absolviert sie erste Vorführungen, dann folgen Tourneen nach England und Russland. 1891 nimmt sie ein Engagement im „Circus Salamonsky“ auf, in Warschau gastiert sie mit dem „Grand Cirque français J. Godfroy“. Ihre größte Tiergruppe besteht aus neun Löwen, einem Tiger, einem Leoparden und einem Bären. Mit achtundzwanzig Jahren, Ende 1894, Anfang 1895, gründet Miss Senide ihren eigenen Zirkus und bereist mit ihm Russland und Asien. Um 1896 befindet sich der „Circus Miss Senide“ in Stawropol in Russland, 1904 reist sie mit Löwen, Leoparden, Hyänen, Wölfen und Bären durch Aserbaidschan.7

Alles, was ich wollte, war Freiheit

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