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Hauptkommissar Paul Lander saß am Schreibtisch, mürrisch und unlustig wie so oft. „Ich finde, in meinem Beruf und bei meinem Alter wäre gute Laune verdächtig!”, so lautete sein gelegentlich laut geäußerter Wahlspruch. Heute früh war er wieder einmal erschrocken, als er das zerfurchte Gesicht im Badezimmerspiegel entdeckt hatte, das ihn in letzter Zeit immer häufiger morgens in Panik versetzte. Er betrachtete die Welt von innen mit den Augen eines Dreißigjährigen, der er vor über zwei Jahrzehnten einmal gewesen war, und wunderte sich über die Gleichaltrigen, die wie seine Eltern aussahen. Wie attraktiv und dynamisch hatte er doch damals gewirkt, als er voller Idealismus und einem unbändigen Drang nach Gerechtigkeit der Polizei beigetreten war.

Vielleicht gehörte auch seine äußere Erscheinung zu seinem negativen Selbstbild. Miriam ermahnte ihn öfter, sich jugendlicher zu kleiden. Andere sagten, er wäre der typische Anzugtyp, aber er hasste Krawatten und formelle Kleidung. Im Dienst erschien er meist im fast schon antiken Cordjackett, natürlich nicht zu der Cordhose passend, die er trug, und einem nahezu beliebig dazu ergriffenen Hemd. Den Schlips in einer zu allem kompatiblen neutralen Farbe hatte er für offizielle Gelegenheiten in der Schreibtischschublade deponiert.

Die Jacke wurde wie üblich über die Stuhllehne gehängt, was ihrer Form nicht sehr gut bekam, sofern überhaupt noch eine vorhanden war – so auch heute, als er sich gleich morgens auf den kommenden Tag vorzubereiten begann. Ein ruhiger Job, wie er hoffte. Er ahnte nicht, dass er an diesem Tag noch richtig Arbeit bekommen würde.

Im Zuge der so genannten Entbürokratisierungsmaßnahmen hatte es einen ungeheuren Wirbel gegeben, der auch sein beschauliches Leben verändert hatte. Unternehmensberater, junge Burschen in korrekten grauen Anzügen, hatten für exorbitante Honorare die Verwaltungsstrukturen durchkämmt und zum Teil groteske Empfehlungen gegeben. So war die Internet-Recherche-Gruppe aufgelöst worden ?­­ dafür musste nun jeder Beamte einmal im Jahr sein IKZ, das ”Internet-Kompetenz-Zertifikat”, erneuern. Zum Abbau von Bürokratie hatten die Aktionen allerdings nicht geführt, im Gegenteil. Aber so ist nun mal der Lauf der Welt: schon Shakespeare beklagte den Übermut der Ämter, und das zu Recht.

Die Dienstvorschriften, ein grandioses System, das Genies zur Benutzung durch Schwachköpfe ersonnen haben, war im Computer gespeichert, perfekt mit Hypertext verlinkt. Manche Beamten verwendeten es, um ihr Nichts­tun zu rechtfertigen. Wenn man wollte, konnte man aus den Vorschriften ein Netz von Handlungsanweisungen herstellen, die nur den Nachteil hatten, sich in letzter Konsequenz selbst zu widersprechen. Dann brauchte man gar nichts zu tun und hatte auch noch eine perfekte Entschuldigung dafür. Wenn Lander so etwas sah, konnte er sich kaum im Zaum halten.

Man hatte sogar die Einzelbüros aufgelöst und mehrere Großraumbüros geschaffen, in denen man durch Stellwände getrennt zusammensaß. Manchmal gab es nicht einmal diese Abschirmung vor den Blicken und Ohren der Kollegen. Nun saß er mit seinen beiden Kollegen Clot Fillol und Heinz Bekovitch an einer Art Wagenburg, die aus drei Holzschreibtischen aus dem vorigen Jahrhundert gebildet wurde. Die darauf stehenden Flachbildschirme bildeten einen stilvollen Kontrast zu diesem Spitzweg-Idyll. Die Arbeitsplätze waren neckisch um ein Arrangement aus vier mickrigen Gummibäumen herum gruppiert, deren Suizidversuche man täglich beobachten konnte. Schränke gab es nur noch wenige: Die abgegriffenen Ermittlungsakten mit ihren wie geschwätzige Zungen heraushängenden Lesezeichen waren in den Tiefen von Computer-Fest­platten verschwunden. Nach Wochen von Staub und Dreck durch den Umbau sollten die Mitarbeiter die Früchte dieser Maßnahme ”genießen”: verbesserte Kommunikation in der Gruppe. In der Praxis hieß das, dass sich Lander nicht mehr konzentrieren konnte und zu vertraulichen Telefonaten in einen eigens dafür geschaffenen ”Rückzugsraum” gehen musste. Er ärgerte sich täglich aufs Neue über diesen Schwachsinn.

Die Arbeit der smarten Jungs hatte aber auch ihr Gutes gehabt. Sie hatten sich mit dem Problem des Wissensmanagements befasst, mit der Frage, wie das in den Köpfen der Ermittler vorhandene Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden konnte. Zu oft hatte es in der Vergangenheit Doppelarbeit gegeben und die Rechte nicht gewusst, was die Linke tut. Daher wurden nicht nur zentral geführte elektronische Ermittlungsakten eingeführt, ein Ersatz für den guten alten Notizblock à la Columbo. Es wurde zusätzlich eine Software namens KnowledgeNet auf allen Computern installiert. Sie zog Stichwörter, Namen und Daten aus allen Mails und Dokumenten und stellte sie in eine zentrale Datenbank. Dieser große Bruder las alles mit, und nichts entging ihm. Jeder konnte dort bei Bedarf herausfinden, ob jemand woanders an ähnlichen Fällen gearbeitet oder dieselben Verdächtigen im Visier gehabt hatte. Die informellen Plauschs am Kaffeeautomaten, bei denen man durch Zufall etwas erfuhr, waren nun überflüssig geworden. Man unterhielt sich dort nun nur noch über Fußball oder den Chef.

Der Einsatz der externen Berater hatte schließlich auch zum ”Gesetz zur leistungsabhängigen Beamtenbesoldung”, kurz ”GLeistBeBe”, geführt. Und dazu, dass jeder einmal im Jahr mit seinem Vorgesetzten ein ”BuF” führen musste. Das ”Beratungs- und Förderungsgespräch” diente dazu, zu prüfen, wie weit man seine vorher definierten Arbeitsziele erreicht hatte. Abhängig davon wurde das Gehalt festgesetzt.

So brütete Lander nun über Kriterien wie ”Selbständiges Arbeiten”, ”Kooperation mit anderen Behörden”, ”Kenntnis und Befolgung von Gesetzen und Vorschriften”, ”Beherrschung neuer Medien” und anderen Qualitätsmessern seiner Arbeit. Er überlegte, mit welchen Argumenten er eventueller Kritik seines Chefs an seinen diesbezüglichen Leistungsnoten begegnen könnte. ”Soziale Kompetenz” ?­­ auch ein Kriterium ?­­ hatte er ja genug, wenn auch eher von der barschen Art, sonst hätte er seinen Job gar nicht machen können.

Während er sich noch Stichworte notierte, um seine Leistungen in das rechte Licht zu rücken, klingelte sein Telefon. Der Chef war in der Leitung, ohne sich zu melden, wie immer. Kurz, knapp, etwas brummig.

„Wir haben da ein paar Hinweise auf Betrugsversuche, Stichwort ‚RFID’. Die Kollegen von der Wirtschaft haben mich darauf angesprochen, denn es gibt auch Hinweise auf Gewaltverbrechen. Also unsere Zuständigkeit. Irgendwas ist da im Gange! Und wir identifizieren Leute mit den neuen Ausweisen mit dieser Technik. Machen Sie sich doch mal sachkundig!”

Das hatte Vorrang vor seiner Vorbereitung auf das ‚BuF’, das war ihm klar. Wie er es inzwischen gewohnt war, suchte er zuerst Rat bei Google® im Internet mit dem Begriff RFID. Doch die Meldung, die er sah, motivierte ihn nicht, diesen Weg weiter zu verfolgen. 8 Millionen Fundstellen, dachte er, die haben wohl ‘nen Knall!

Wie gut, dass er einen Fachmann kannte. Mike, der siebzehnjährige Sohn seiner Lebensgefährtin Miriam, hätte wohl gerade Schulende.

Miriam wohnte mit Mike zwar seit einiger Zeit von ihm getrennt in einer eigenen Wohnung, von der Arbeitsagentur finanziert, aber sie waren noch immer eine Familie, im weitesten Sinne. Als zusammenwohnende ‚Bedarfsgemeinschaft’ wären sie finanziell nicht hingekommen, da Miriams Suche nach einer Arbeitsstelle bislang ohne jeden Erfolg geblieben war. So bekam sie wenigstens ein wenig staatliche Unterstützung. Auch Mike war gerade im Begriff, sich eine eigene kleine Wohnung zu suchen – eine attraktive Option für einen jungen Mann mit intensiven Kontakten zum anderen Geschlecht, und dazu ohne jede finanzielle Belastung. Und auch Lander entdeckte unbestreitbare Vorzüge eines gelegentlichen Alleinlebens: die wiedererlangte Herrschaft über die Fernbedienung ebenso wie die Selbstbestimmung, sich morgens sein Hemd und seine Hose selbst aussuchen zu dürfen. Was seine Erscheinung eher nicht positiv verändert hatte, aber das blieb ihm verborgen.

Jetzt hatten sie eine Wochenendbeziehung. Nicht die schlechteste Lösung für einen Mann und eine Frau, deren Temperament sich voneinander unterschied wie ein gemütlich tuckernder Schiffsdiesel von einem hochgezüchteten Formel-I-Motor. Und nichts lässt einen Mann schneller und nachhaltiger verstummen als die Aufforderung am Frühstückstisch: „Nun unterhalte dich doch ein bisschen mit mir!“ – vor allem, wenn man dabei die Lektüre der Sportseite unterbrechen und höchstes Interesse an Verdauungsproblemen und nächtlichen Schlafstörungen vorspiegeln muss.

Nun beschränkten sich morgendliche Vorträge über die Unterschiede zwischen einem Zwiebelmesser und einem Obstmesser auf das Wochenende, und er konnte die Feng-Shui-gerechte Veränderung seiner Wohnung weitgehend wieder rückgängig machen. Auf der anderen Seite bemerkte er, wie er durch die Trennung der Wohnungen eigenbrötlerischer und ungeselliger wurde und vor allem den Kontakt zur Jugend verlor – was nicht zuletzt auch für seine Arbeit schädlich war.

Es hatte damals, vor vier Jahren, einige Zeit gedauert, bis Mike die neue Beziehung seiner Mutter zu ‚dem Bullen’ akzeptiert hatte. Als Jugendlicher hatte er naturgemäß ein lockeres Verhältnis zu Recht und Ordnung gehabt, dann aber allmählich gemerkt, dass Lander kein sozialpädagogisches Weichei war, sondern ein Mann mit Prinzipien, der ihm zwar die notwendigen Freiheiten ließ, aber auch feste Grenzen setzte. Mike hatte auch begriffen, dass der neue Partner seiner Mutter nicht Skateboard-Fahrer in der Fußgängerzone schikanierte oder harmlose Bürger bespitzelte, sondern eine wichtige Funktion zum Schutz der Gesellschaft ausübte, die auch ein Dreizehnjähriger verstehen und gutheißen konnte.

So freute Lander sich, Mike nun auch einmal außerhalb des Wochenendes treffen zu können. Eine Verabredung im Starbucks an der Ecke war schnell getroffen. Was hatte man bloß vor zwanzig Jahren ohne Handy gemacht?

Mike, hochgeschossen wie ein Bambusrohr nach einem Monsunregen, saß schon da und sortierte seine Beine unter dem kippeligen Bistrotisch. Zuerst sprachen sie über die Schule, den Sport, Mikes Moped und andere Dinge, doch dann kam Lander zur Sache: „Sag’ mal, was weißt du über RFID?”

„Ahrrr-eff-ei-die”, wiederholte Mike mit rollendem ‚r’, um zu zeigen, dass er wusste, dass der Begriff aus dem amerikanischen kam. Dann die Gegenfrage: „Was weißt du denn über RFID?”

„Na ja, das sind die Chips in den Ausweisen, die die Personendaten enthalten. Wir haben ja die Lesegeräte in den Streifenwagen. Oder die neuen Etiketten – ich glaube, im Englischen nennt man sie Tags – an Luxuswaren, früher war das der Strichcode. Aber ich weiß nicht mal, was die Abkürzung bedeutet.”

Radio Frequency Identification, also auf deutsch etwa ‚Funkerkennung’. Eigentlich ist das nur ein herkömmlicher Mikrochip, egal welcher Art, kombiniert mit einer Datenübertragung durch Funk. Der Chip, der Fachausdruck ist ‚Transponder’, sendet Funksignale, nicht etwa Infrarot wie bei einer Fernbedienung am Fernseher. Du brauchst also keinen Sichtkontakt, das ist wichtig. Die Funksignale werden vom Lesegerät an der Ladenkasse oder an der Passkontrolle empfangen und in Daten umgesetzt. Bei aktiven Transpondern hast du eine eigene Stromversorgung und eine Reichweite von vielen Metern. Die OBU bei der Lkw-Maut ist ein Beispiel, der zugehörige Leser ist in der Autobahnbrücke installiert.”

„OBU?”

On-Board Unit, also ‚An-Bord-Kiste’, der RFID-Transponder im Lastwagen. Aber die ‚passiven’ Transponder ohne eigene Stromversorgung sind viel kleiner und sind in Etiketten, Schlüsselanhängern, Plastikröhrchen unter der Haut bei Tieren, auf Pappkarten oder Chipkarten zur Zutrittskontrolle, praktisch überall. Beim letzten Marathonlauf waren sie auf die Schuhe geklebt. Irgendwo auf der Strecke rannten die Läufer über Kunststoffmatten mit eingebetteten Lesegeräten und wurden so kontrolliert. Scheidungsanwälte und Detektive warten schon auf RFID-Tickets für die U-Bahn – ein besseres Beweismittel als die Bewegungsprofile der Fremdgänger ist kaum denkbar! In den USA bauen es besorgte Eltern mit kombinierten GPS-Chips in die Schuhe ihrer Kinder ein, damit die Kids nicht verloren gehen. In Südamerika kämpfen sie mit dieser so genannten Geolokalisierung gegen die blühende Entführungsindustrie. Doch die für die Industrie wertvollste Anwendung ist Supply-Chain Management, also das Managen und Überwachen von Warenflüssen. Aber der Mensch ist auch eine Ware im Sinne der Industrie, oder? Zumindest im Tourismus wird er so behandelt, von anderen Branchen oder den Behörden will ich gar nicht reden.“

„Und was ist daran so schlimm?”

„Beim alten Strichcode konntest du sehen, dass das Etikett gelesen wird, weil der Laserstrahl direkt über die Striche geführt werden musste. Meist mit der Hand, von einer Person. Hier wird über Funk gelesen, eventuell über größere Entfernung. Der Leser kann überall sein und du merkst es nicht! Im Türrahmen eines Geschäftes, im Teppich, über den du gehst, im Aktenkoffer des Mannes, der hinter dir steht.”

„Na, und?”

„Mann, hast du keine Fantasie? Al Capone kauft sich einen Armani-Anzug mit dem RFID-Chip, zahlt mit seiner schwarzen American Express, der Angeber, und schon hast du die Verknüpfung zwischen der Ware mit dem Smart Label und der Person. Denn was sie noch zusätzlich eingeführt haben, ist ein elektronischer Produktcode, Electronic Product Code, EPC. Jetzt haben nicht alle ähnlichen Anzüge dieselbe Nummer, wie bei der EAN, die als Strichcode auf den Waren aufgedruckt ist. Jetzt hat jeder einzelne Anzug seine eigene Nummer, jede Ketchup-Tube, jede einzelne Packung Hähnchenschenkel. Hast du schon mal den Ausdruck ‚Internet der Dinge’ gehört? Die Joghurtbecher kommunizieren mit dem Kühlschrank und dieser mit dem Supermarkt, wenn der Vorrat ausgeht. Schließlich können auf den Funkchips vollständige Prozessoren sitzen, also kleine Computerchen. Und im Kühlschrank mit Internetanschluss allemal.“

„Aha.“ Lander schnappte nach Luft.

„Zurück zu Al Capone: um drei geht er aus dem Laden, um zehn nach steigt er in die U-Bahn, die er dann am Skylounge Center wieder verlässt, dann geht er in die Bank und so weiter. Und am Abend ist er in der Oper. Mit seinem neuen Anzug, dessen Chip an tausend Stellen unauffällig gelesen wird. Vorher hat er an der Tankstelle fünfzig Liter getankt und eine Zeitung gekauft. Die Zapfpistole hat seinen Chip auf der Kundenkarte gelesen und den Betrag automatisch abgebucht. Das weißt du alles über seine Datenspur und die Vernetzung der Computer. In einem Wort: ein Bewegungsprofil.”

„Das wissen wir doch auch schon über seine Handy-Ortung!”

„Ja, wenn er es angeschaltet hat. Aber die Ortung ist erstens nicht so genau, denn du kennst ja nur die Funkzelle, in dem es ist, und das können einige Quadratkilometer sein. Und zweitens können wir ihn nun mit Dingen in Verbindung bringen: Waren, die er gekauft hat oder Gegenstände, die er benutzt. Oder er selbst, er kann sich das auch zunutze machen. Seine Leute fahren durch die Villenviertel und erfahren über ihr Lesegerät, in welchem Haus sich Luxusgegenstände mit RFID-Etiketten befinden, denn oft bleiben die ja unsichtbar in der Ware, zum Beispiel im Futter eines Anzugs. Dort schicken sie dann die Einbruch-Truppe hin. Wie find’ste das?”

„Also so habe ich das noch nicht gesehen. Das stimmt mich schon nachdenklich...”

Mike trank schlürfend einen Schluck Espresso und drehte auf: „Na, warte, es kommt ja noch besser: Mancher Leser kann nicht nur lesen, der kann auch schreiben. Das heißt, er kann die Daten auf dem Chip ändern! Du legst im Supermarkt eine Dose Kaviar in deinen Einkaufskorb, fummelst ein wenig an deinem Tablet herum ?­­ jeder denkt, du schreibst bloß eine E-Mail oder suchst eine Produktinformation ?­­ und an der Kasse, an der ja kein Mensch mehr sitzt, geht der Kaviar als billige Leberwurst durch! Natürlich ist das illegal, und Oma Hilde kann das technisch nicht.”

„Aber... aber sind die Daten denn nicht irgendwie verschlüsselt?”

„Die meisten nicht, nur ganz sensible Daten sind es. Zum Beispiel auf den Ausweisen. Na, und? Hast du schon mal gehört, dass eine Verschlüsselung von Hackern geknackt oder geklaut wurde?”

„Na sicher, neulich kam im Fernsehen, dass der E-Mail-Verkehr zwischen Regierungsstellen mitgelesen wurde, obwohl er ziemlich kompliziert verschlüsselt gewesen sein soll...”

„Sag’ ich doch! Wie bei Viren im Internet: Der Hacker ist immer einen Schritt voraus! Also geh’ davon aus, dass alles möglich ist. Zum Beispiel sitzt ein Kerl mit seinem Laptop im Flughafen-Café, stiehlt die Identität eines Mitreisenden aus dessen Pass und schreibt sie in seinen eigenen und fliegt dann mit einem ebenfalls gefälschten Erste-Klasse-Ticket nach Australien. Ich meine, es kann schwierig und tricky sein, aber es geht.”

„Obwohl...”, Mike wurde unsicher, „die Verschlüsselung der in der Automobilbranche in den USA eingesetzten RFID-Chips ist zwar schon geknackt worden. Die Chips sind in Autoschlüsseln eingebaut und deaktivieren die Wegfahrsperren. Aber ich glaube nicht, dass das so einfach gewesen ist. Ich würde ja den Code-Schlüssel täglich wechseln und so vom Datum abhängig machen. Ich habe mal gehört, dass das sogar schon gemacht wird. Da wär’ man auf der sicheren Seite!”

„Ja, aber...”, Lander gab noch nicht auf, „Wenn es so viele Möglichkeiten des Missbrauchs gibt, warum akzeptieren es die Leute dann? Ich meine, ich würde mich dagegen wehren! Und wer hat überhaupt etwas von dem ganzen System – nur die Industrie und die Behörden oder auch der Bürger?”

Mike wand sich ein wenig. Das waren ja Ausflüge ins Philosophische und somit nicht gerade seine starke Seite. „Das sind aber viele Fragen auf einmal...”

„Fang’ vorne an...”

„Nee, ich fange hinten an. Die Vorteile... ich erzähle dir eine kleine Geschichte: stell’ dir vor, du kommst in ein Geschäft und wirst freundlich empfangen”, illustrierte Mike seine Erläuterung und hob seine Stimme ein wenig, um diese Ansprache zu imitieren: „Guten Tag, Herr Lander, schön, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen! Sie waren ja längere Zeit nicht bei uns, aber ich erinnere mich an die leckere scharfe Toskana-Salami, die Sie das letzte Mal gekauft haben. Die ist jetzt im Angebot. Ihre bevorzugte Schokolade mit dem hohen Kakaoanteil hat übrigens einen neuen Platz bekommen, sie befindet sich jetzt direkt vor den Kassen.”

Lander blickte Mike etwas verständnislos an: „Na und?! So freundlich ist mein Türke an der Ecke immer zu mir!”

„O Mann, verstehst du nicht? Du bist im Supermarkt. Es ist dein Einkaufswagen, der zu dir spricht!”

„Du spinnst... Stell’ dir doch mal das Gequassel in einem vollen Supermarkt vor!”

„Nein, ich spinne nicht! Der Einkaufswagen hat deine RFID-Kundenkarte drahtlos und unbemerkt gelesen und weiß nun, wer du bist. Den Rest macht der Computer des Supermarktes, er kennt alle deine letzten Einkäufe und du hast dir sogar einmal ausgesucht, ob ein Mann oder eine Frau mit dir redet. Sozusagen ein männlicher oder ein weiblicher Einkaufswagen! Und vielleicht bist du ja auch nur in dem Laden, weil du vorher von der Supermarktkette eine Mail bekommen hast, dass deine Lieblingssalami gerade besonders preiswert ist? Vielleicht bekommst du auch als guter Kunde einen anderen Preis, so wie auf dem Markt in Tunesien, wo die Einheimischen nur ein Drittel der Preise der Touristen zahlen. Und dein Smartphone zeigt dir gleich den Weg zu deiner Salami, damit du dich in den Regalen nicht tot suchen musst. Wenn das keine Vorteile sind!”

„Du hast aber eine blühende Fantasie...”

„Ne, das machen die bereits im Feldversuch in mehreren Großstädten. Es nennt sich Future Store, der Laden der Zukunft. Die Leute finden es toll, denn sie müssen nicht mehr an den Kassen warten, wo eine genervte Kassiererin die Waren am Strichcodeleser vorbeiziehen muss und vor lauter ‚Piep’ gar nicht mehr lächeln kann.”

„Und wie zahle ich?”

„Wird von der Kundenkarte abgebucht, das kennst du doch. Oder von der Kreditkarte... oder, wenn du eine lächelnde Kassiererin sehen willst, auch in bar. Und natürlich bekommst du am Ausgang immer einen schönen Kassenstreifen zur Kontrolle vom Computer. Und sie senden dir Sonderangebote ins Haus... was du alleine durch diese Schnäppchen sparst!”

Lander hatte immer noch Schwierigkeiten, das Konzept zu verstehen: „Und diese ganze Information ist auf dem Chip gespeichert?”

„Nein, natürlich nicht, alle diese Chips senden immer nur wenige Informationen, wenn man von dem Ding in den Pässen mal absieht. Die Chips auf den Kundenkarten oder den Warenetiketten oder den Fußballtickets senden immer nur ein ‚ich bin der und der’ an den Empfänger in den Leseschleifen am Eingang oder Ausgang... oder wo sie auch immer sind. Also deine Kundennummer oder die Warennummer der Knödelpackung oder die Nummer der Eintrittskarte oder die Nummer des Geldscheines oder oder oder... Die Information, also die Bedeutung der Daten, entsteht erst durch die Verknüpfung der Einzeldaten im Computer...”

„Also Kunde Lander hat heute Knödel und Tütensuppe gekauft...”

„Genau! Und zwar im Laden Herrmannplatz, und er hat mit Kreditkarte von Visa bezahlt. Und es war heute früh um acht... der Computer hat dich damit als Frühaufsteher identifiziert...”

„Jetzt hab ich’s. Aber das ist dann ja durch die Verknüpfung der Einzeldaten ein komplettes Verhaltensprofil von mir!”

„Oder ein Bewegungsprofil... du sagst es! König Kunde ist jetzt durchsichtig bis auf die Knochen... Na, also, ist doch nicht so schwer!”

„Und dafür der ganze Aufwand mit einem neuen Chip?” Lander war sich über die gesellschaftlichen Implikationen immer noch nicht ganz klar.

„Ja. Der Witz ist erstens, dass der Chip unbemerkt gelesen werden kann, ohne einen einzigen Handgriff, wie etwa an der Supermarkt-Kasse, wo bisher wenigstens die Ware mit dem Barcode in den Laserstrahl gehalten werden musste. Zweitens, dass sie jetzt nicht eine Produktgruppe identifizieren – Schweinekoteletts 500-gr-Packung – sondern das einzelne Produkt, die Packung direkt, die du gerade in der Hand hast. Bei den Koteletts ist das wahrscheinlich egal, aber bei der Eintrittskarte zur Fußball-WM gerade nicht. Da wollen sie wissen, dass diese einzelne Karte genau dir gehört! So können sie Warenströme überwachen oder die Verbindung von Individuen zu einzelnen Waren. Bei den Koteletts, wenn ich darüber nachdenke, ist es ja auch ein Vorteil für den Verbraucher, genau dieses Stück Fleisch bis zum Erzeuger zurückverfolgen zu können. Vielleicht stammt das Schweinekotelett je vom Pferd?! Und wenn Bargeld irgendwann einmal den Chip bekommt, dann kann der Weg jedes einzelnen Geldscheines kontrolliert werden... aus ist’s mit Schwarzgeld!”

Lander war hartnäckig: „Waren sind doch aber schon alle durch den Strichcode gekennzeichnet, wozu brauchen wir dann noch ein neues Prinzip?!?”

Mike verdrehte ein wenig die Augen und fing an, sich wie in der Schule zu fühlen – nur mit vertauschten Rollen. Der begriffsstutzige Schüler, das war auf einmal Lander, sein Patchwork-Vater. „Mann, denk’ doch mal mit! Das ist ein Milliardengeschäft! Erstens sparst du die Arbeitskräfte, die die Ware am Leser vorbeiziehen müssen... Da ist die Industrie ganz scharf drauf. Zweitens kannst du jeden einzelnen Artikel identifizieren, nicht nur die Gattung, jede einzelne Wurst kann ihr Herstellungsdatum, ihre Zusammensetzung, ihre Chargennummer speichern... Drittens kannst du die Daten unbemerkt und ohne menschliche Arbeitskraft lesen, darauf kann man gar nicht oft genug hinweisen! Das eröffnet doch ungeahnte Möglichkeiten, findest du nicht? Hast du’s jetzt gerafft?”

Lander kam zum Ausgangspunkt seiner Frage zurück, ganz der Kommissar, der sich durch keine Unverschämtheit seines Gesprächspartners von seinem Ziel abbringen ließ: „Warum wehren sich die Leute nicht gegen diese Überwachung? Es müsste doch ein Aufschrei durch die Presse gehen!”

„Das kann ich dir sagen, ich habe darüber mal eine interessante Fernsehsendung gesehen, da wurden die Geheimnisse des Schnüffelstaates beleuchtet.”

Infotainment? Die inszenierte Bedeutungslosigkeit?”

„Nein, ein drittes Programm, wirklich interessant! Meistens reagiert der Benutzer darauf ähnlich wie bei schon bekanntem elektronischem Gefahrenpotential wie zum Beispiel auf die Betrugsmöglichkeiten beim Internet, beim Online-Banking, bei den Kredit- und EC-Karten und so weiter. Erstens weiß er es nicht oder er denkt vorher nicht daran. Zweitens handelt er nach der Devise Mir wird schon nix passieren!, was angesichts von Betrugsquoten im einstelligen Prozent-Bereich ja auch nicht so falsch ist. Und drittens ist er der Meinung, er habe nichts zu verbergen... oder er resigniert. Eric Schmidt, der CEO von Google, sagte mal: »Wenn Sie nicht möchten, dass Ihre Geheimnisse im Internet bekannt werden, dann sollten Sie erst gar keine haben!« Über siebzig Prozent der US-Bürger stört es nicht, dass ihre E-Mails gelesen werden, dass ihre Post fotografiert wird, dass ihre Telefone lokalisiert werden und alle ihre Verbindungen gespeichert werden. Von ihren Blogs, Posts und Tweets ganz zu schweigen. Die Angst vor einem bösen Terroristen ist größer als mit einer der zweihundert Millionen Waffen in den Händen ihrer Mitbürger erschossen zu werden. Jedes Jahr trifft das mehr als elftausend Menschen. Viele denken auch: man kann ja doch nichts machen! Es gibt nur kleine Gruppen, die gesellschaftlichen und politischen Druck zur Verhinderung von Missbrauch und zur Erhöhung der Sicherheit des Systems gegen unrechtmäßige Verwendung fordern oder organisieren. Und du weißt doch, Technikfolgenabschätzung – übrigens Thema meines letzten Referates – findet beim normalen Bürger immer erst statt, wenn das Kind schon lange im Brunnen liegt. Die Einführung solcher Systeme erfolgt ja grundsätzlich unbemerkt und scheibchenweise, nach der bekannten Salamitaktik.”

„Hm!”, Lander war erst einmal überladen mit Informationen und schwieg.

Mike hatte von seinem ungewöhnlichen Redeschwall einen ganz trockenen Mund bekommen und benötigte dringend einen weiteren Espresso, doppelt. Eine kleine Pause trat ein, dann fuhr er fort: „Und denke doch mal weiter: wenn erst mal alle Dinge einen RFID-Chip haben, dann gibt es kein Gammelfleisch unbekannter Herkunft mehr, keine wilden Müllkippen im Wald und kein Schwarzgeld. Jedes einzelne Ding kann zurückverfolgt und zugeordnet werden. Und du könntest alle Verbrecher fangen. Ist das nicht toll?!“

Das ist grauenhaft, dachte Lander und schwieg weiter.

Als Mike sich dann nach einem Blick auf seine Uhr relativ schnell verabschiedete, war er ganz dankbar und blieb noch eine Weile alleine sitzen. Er dachte nach... die Wörter berührungslos und unbemerkt hatten sich in sein Gedächtnis gegraben und ließen ihn nicht mehr los.

So sollte man Pässe heimlich auslesen können? Er weigerte sich, das wirklich zu glauben. Da gäbe es bestimmt technische und vor allem gesetzliche Hürden – das wäre sicher nicht legal. Und er würde dabei garantiert nicht mitmachen.

Der Schnüffel-Chip

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