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Dreiundzwanzigster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Kaum acht Tage habe ich dazu verwendet, ein Land zu durchstreifen, das Jahre erfordern würde, um es kennen zu lernen: aber abgesehen davon, daß der Schnee mich verjagt, habe ich dem Courier ein wenig entgegengehen wollen, der mir, hoffe ich, einen Brief von Ihnen bringt. Während ich seine Ankunft erwarte, will ich immer einstweilen einen Brief beginnen, und werde nachher, wenn es nöthig sein sollte, einen zweiten zur Beantwortung des Ihrigen schreiben. Ich will mit der Beschreibung meiner Reise und mit meinen Bemerkungen hier nicht ins Einzelne gehen; ich habe einen Bericht darüber aufgesetzt, den ich Ihnen mitzubringen gedenke. Unser Briefwechsel muß für das gespart werden, was uns beide näher angeht. Ich will mich damit begnügen, Ihnen von der Beschaffenheit meiner Seele Nachricht zu geben; es ist billig, daß Sie erfahren, wie mit Ihrem Gute umgegangen wird.

Ich war abgereist, betrübt über mein Leiden und getröstet durch Ihre Freude; dies erhielt mich in einer gewissen sehnlichen Stimmung, die nicht ohne Reiz für ein empfindsames Herz ist. Ich stieg langsam und zu Fuße auf ziemlich rauhen Fußpfaden aufwärts, von einem Manne geführt, den ich zu diesem Behuf angenommen hatte und an dem ich auf dem ganzen Wege mehr einen Freund als einen Lohnbedienten gehabt habe. Ich wollte meinen Träumen nachhängen, und immer zog mich irgend ein neues überraschendes Schauspiel davon ab. Bald hingen ungeheure Felsen in Trümmern über meinem Haupts nieder; bald benetzten mich hoch herabstürzende Wasserfälle mit ihrem dichten Staub; bald eröffnete sich neben mir ein endloser Strom, eine Kluft, deren Tiefe das Auge nicht ermessen konnte. Manchmal verlor ich mich in das Dunkel einer dicken Waldung; manchmal ward ich beim Austritt aus einer Schlucht durch den Anblick einer lachenden Wiese gelabt. Ein staunenswürdiges Gemisch von wilder und angebauter Natur verrieth überall die Hand des Menschen, wo man hätte glauben sollen, daß sie niemals hingedrungen wäre; dicht neben einer Höhle fand man Wohngebäude; man erblickte entblätterte Rebstöcke, wo man nichts als Dornen gesucht hätte, Weingärten auf zusammengestürztem Boden, herrliche Fruchtbäume auf Felsmassen und Aecker in Abgründen.

Nicht nur das Werk der Menschenhand schuf in dieses wundersame Land so abenteuerliche Gegensätze; auch die Natur schien sich darin zu gefallen, sich mit sich selbst in Widerspruch zu setzen, so mannigfaltig stellte sie sich an dem nämlichen Orte auf den verschiedenen Seiten dem Blicke dar. Im Osten die Blumen des Frühlings, im Mittag die Früchte des Herbstes, im Norden das Eis des Winters; sie vereinigte alle Jahreszeiten in dem nämlichen Augenblick, alle Himmelsstriche an der nämlichen Stelle, entgegengesetzte Erdarten auf dem nämlichen Boden und zeigte in einer Verbindung, die man sonst nirgends antrifft, die Erzeugnisse der Ebnen und Alpengewächse. Rechnen Sie zu dem allen die Täuschungen des Auges, die verschiedenartige Beleuchtung der Bergspitzen, das Wechselspiel von Sonnenschein und Schatten und alle die Lichtwirkungen, welche sich daraus am Morgen und am Abend entwickeln, so werden Sie sich einigermaßen eine Vorstellung machen können von den ewig neuen Bildern, die unablässig meine Bewunderung auf sich zogen und die sich mir auf einem ordentlichen Theater darzustellen schienen, denn die Perspective der Berge, in ihrem scheitelrechten Ansteigen, bringt Alles zugleich ins Auge, und weit gewaltiger als die der Ebenen, welche sich nur schräg und fliehend zeigt und wo immer ein Gegenstand den anderen verbirgt.

Es gesellte sich während des ersten Tages zu der Annehmlichkeit dieser Abwechslungen die Ruhe, welche ich in meiner Seele wieder entstehen fühlte. Ich staunte über die Macht, welche auf unsere heftigsten Leidenschaften die unempfindlichsten Wesenheiten üben, und verächtlich kam mir die Philosophie vor, daß sie nicht einmal soviel über die Seele vermag als eine Reihefolge lebloser Gegenstände. Da aber dieser friedvolle Zustand die Nacht überdauert hatte und am andern Tage noch zunahm, so konnte ich nicht umhin, zu schließen, daß er noch eine andere mir unbekannte Ursache haben müßte. Ich gelangte an diesem Tage zu Bergen von der geringsten Erhebung, und dann, nachdem ich ihre Wellungen zurückgelassen hatte, zu solchen, welche die größte Höhe hatten, die mir erreichbar war. Nachdem ich durch die Wolken geschritten war, erreichte ich eine klarere Region, von welcher aus man zur Zeit Donner und Ungewitter unter seinen Füßen sich bilden sieht; ein leider eitles Bild der Seele des Weisen, welches nie verwirklicht worden oder nur an den Stätten allein zu verwirklichen ist, von denen man es entlehnt hat.

Da entdeckte ich allmählig in der Reinheit der Luft, worin ich mich befand, die wahre Ursache des Wechsels, der in meiner Stimmung vorgegangen war, und der Rückkehr jenes Innern Friedens, den ich seit so langer Zeit verloren hatte. In der That ist dies ein allgemeiner Eindruck, welchen alle Menschen empfinden, obwohl sie nicht alle darauf achten, daß man auf hohen Bergen, wo die Luft rein und dünn ist, mit größerer Leichtigkeit athmet, mehr Federkraft im Körper, mehr Heiterkeit im Geiste spürt; das Lustgefühl ist dort weniger hitzig, die Leidenschaften sind gemäßigter. Die Gedanken nehmen etwas Großes, Erhabenes an, wie es den Gegenständen entspricht, die uns vor Augen liegen, eine gewisse selige Ruhe, worin nichts Brennendes und Sinnliches ist. Es scheint, als ob man, sich erhebend über die Wohnstätten der Sterblichen, alle niederen, irdischen Gefühle zurückließe, als ob die Seele, je mehr man sich der ätherischen Region nähert, etwas von deren unwandelbarer Reinheit annähme. Man fühlt sich ernst gestimmt ohne Wehmuth, friedvoll ohne Schlaffheit, froh des Daseins und des Denkens; jede zu lebhafte Begierde dämpft sich ab, verliert den scharfen Stachel, der sie schmerzhaft macht, und läßt im Herzen nichts als eine leichte sanfte Erregung; und so bewirkt ein glückliches Klima, daß zur Glückseligkeit des Menschen die Leidenschaften dienen, welche ihm anderwärts zur Marter werden. Ich glaube nicht, daß irgend eine heftige Gemüthsbewegung, irgendein krankhafter Zustand, der aus dem Magen stammt, gegen einen längern Aufenthalt in solchen Gegenden Stich halten könnte, und ich wundere mich, daß nicht Luftbäder in heilsamer, wohlthätiger Bergluft zu einem Hauptmittel gegen leibliche und geistige Leiden gemacht werden:

Qui non palazzi, non teatro o loggia; Ma 'n lor vice un abete, un faggio, un pino Trà l' erba verde e 'l bel monte vicino Levan di terra al ciel nostr' inteletto.

[Nicht sind's Theater, Hallen und Paläste, Nein, etwas Eichen, Buchen oder Fichten, Die zwischen Wiesengrün und Berggelände Den Geist vom Staub empor zum Himmel richten.

Petrarca.]

Nehmen Sie alle die Eindrücke zusammen, welche ich geschildert habe, und Sie werden sich einigermaßen eine Vorstellung machen von dem köstlichen Zustande, in welchem ich mich befand. Denken Sie sich diese tausend Wunder von Größe, Schönheit, mannigfaltiger Pracht; das Vergnügen, sich von lauter ganz neuen Gegenständen umringt zu sehen, von seltenen Vögeln, wunderlich geformten, unbekannten Pflanzen, gewissermaßen eine andere Natur zu schauen und sich in einer neuen Welt zu befinden. Das alles stellt ein unbeschreibliches Gemisch vor Augen, dessen Reiz noch erhöht wird durch die Reinheit der Luft, welche die Farben lebhafter macht, die Formen schärfer hervorhebt, alle Gesichtspunkte näher bringt, die Entfernungen scheinen geringer als auf der Ebene, wo die Dicke der Luft das Land mit einem Schleier bedeckt, der Horizont bietet den Augen mehr Gegenstände dar, als er fassen zu können scheint: kurz, das Schauspiel hat etwas Zauberisches, Uebernatürliches, was den Geist und die Sinne hinreißt; man vergißt Alles, man vergißt sich selbst, man weiß nicht mehr, wo man ist.

Ich würde die ganze Zeit meiner Reise blos in dem Entzücken über die herrliche Landschaft hingebracht haben, wenn mich nicht der Umgang mit den dortigen Bewohnern in ein noch süßeres Entzücken versetzt hätte. Sie werden in meinem Berichte eine leichte Skizze von ihren Sitten, von ihrer Einfalt, von der gleichmäßigen Stimmung ihrer Seelen und von der friedlichen Ruhe finden, worin sie glücklich sind, mehr weil frei von Schmerzen, als vieler Genüsse wegen. Aber was ich Ihnen nicht schildern konnte, und was man sich gar nicht vorstellen kann, ist ihre uneigennützige Menschenfreundlichkeit und der gastliche Eifer, mit dem sie jedem Fremden entgegenkommen, den Zufall oder Neugierde zu ihnen führt. Ich hatte davon die überraschendsten Beweise, ich, den Niemand kannte, und der ich mich nur mit Hülfe eines Führers zurecht finden konnte. Wenn ich Abends in ein Dörfchen kam, so boten mir Alle mit so großer Beflissenheit ihre Häuser an, daß ich in Verlegenheit war, welches ich wählen sollte; und der, welcher endlich den Vorzug erhielt, schien dadurch so erfreut, daß ich hinter dieser Dienstfertigkeit das erste Mal Habgier suchte. Aber wie erstaunt war ich, als mein Wirth, bei dem ich mich beinahe wie in einem Gasthof benommen hatte, am anderen Morgen keine Bezahlung annehmen wollte, und sogar böse wurde, daß ich sie ihm anbot; und ebenso fand ich es überall. Es war also der lautere gastliche Sinn, den man sonst gewöhnlich lau genug findet, welchen ich seiner Lebhaftigkeit wegen für Gewinnsucht gehalten hatte. Ihre Uneigennützigkeit war so vollkommen, daß ich auf der ganzen Reise keinen Patagon [Münze des Landes.] habe anbringen können. In der That, wie sollte man zu Ausgaben kommen in einem Lande, wo die Herren für ihre Unkosten keine Wiedererstattung annehmen und die Diener nichts für ihre Mühwaltung und wo man keinen Bettler antrifft? Indessen ist das Geld in Hoch-Wallis sehr selten; eben deswegen sind die Bewohner in einer behaglichen Lage; denn die Lebensmittel sind in Ueberfluß vorhanden, ohne Abzugskanäle nach außen, ohne Verbrauch von Luxusartikeln im Innern und ohne daß deshalb der gebirgische Landmann minder fleißig sei, denn an seiner Arbeit hat er sein Vergnügen. Werden sie jemals zu mehr Geld gelangen, so werden sie unfehlbar ärmer werden. Sie sind klug genug, es einzusehen, und die Goldminen, die es im Lande giebt, dürfen nicht ausgebeutet werden.

Ich war anfänglich sehr überrascht von dem Gegensatze, welchen diese Gewohnheiten mit denen im Nieder-Wallis bilden, wo, auf dem Wege nach Italien, der Reisende täglich geschröpft wird; und ich konnte mir nicht recht erklären, wie doch ein und dasselbe Volk zu so verschiedenartigen Sitten käme. Ein Walliser erklärte mir die Ursache. Unten im Thale, sagte er mir, sind die Fremden, welche durchreisen, Kaufleute und andere Solche, die nichts weiter im Auge haben als ihr Geschäft und ihren Gewinn. Es ist billig, daß sie uns einen Theil von ihrem Nutzen lassen, und wir behandeln sie, wie sie die Anderen behandeln. Aber hier, wohin keine Geschäfte die Fremden locken, können wir gewiß sein, daß nicht Eigennutz sie heraufführt; so nehmen wir sie auch uneigennützig auf. Es sind Gäste, die uns besuchen, weil sie uns gut sind, und wir begegnen ihnen mit Freundschaft.

Uebrigens, setzte er lächelnd hinzu, ist diese Gastfreundschaft nicht kostspielig; es fällt wenig Leuten ein, Gebrauch davon zu machen. Oh, ich glaube es, antwortete ich ihm. Was sollte man bei einem Volke, welches lebt, um zu leben, nicht um zu erwerben oder um zu glänzen? Ihr Glücklichen, und werth, es zu sein, ich glaube gern, daß man euch in irgend einer Sache gleichen muß, um in eure Mitte zu kommen.

Was mir an ihrer Bewirthung am meisten gefiel, war, daß dadurch nicht die geringste Spur von Verlegenheit und Zwang weder auf der einen noch der andern Seite herbeigeführt wurde. Sie lebten in ihrem Hause, als ob ich nicht da gewesen wäre, und es kam nur auf mich an, es so darin zu haben, als ob ich allein da wäre. Sie wissen nichts von der unbequemen Eitelkeit, den Fremden die Honneurs zu machen, als ob man ihnen die Gegenwart eines Gebieters fühlbar machen wollte, von welchem man wenigstens hierin abhängt. Wenn ich nichts sagte, nahmen sie an, daß ich mit nach ihrer Art leben wollte; ich brauchte nur ein Wort zu sagen, um nach meiner eigenen leben zu können, ohne je von ihrer Seite die geringste Spur von Widerstand oder Erstaunen zu erfahren. Das einzige Compliment, das sie mir machten, als sie hörten, daß ich Schweizer wäre, bestand darin, daß sie mir sagten, wir wären Brüder und ich sollte mich bei ihnen wie zu Hause betrachten. Dann kümmerten sie sich weiter nicht um das, was ich that; denn es fiel ihnen gar nicht ein, daß ich in die Aufrichtigkeit ihrer Anerbietungen der geringsten Zweifel setzen oder daß ich das mindeste Bedenken haben könnte, Gebrauch davon zu machen. Mit derselben Einfachheit benehmen sie sich unter einander selbst; die Kinder, welche in das Alter der Vernunft getreten sind, stehen ihren Vätern gleich; die Knechte setzen sich mit ihrer Herrschaft zu Tische, die nämliche Freiheit herrscht in der Gemeinde wie in den Häusern und die Familie ist das Bild des Staates.

Das Einzige, worin ich nicht meiner Freiheit genoß, war die ungemeine Länge der Mahlzeiten. Ich brauchte mich freilich nicht mit zu Tische zu setzen; saß ich aber einmal, so mußte ich schon einen Theil des Tages aushalten und auch danach trinken. Wie sollte man denken, daß ein Mann und ein Schweizer kein Freund vom Trinken wäre? In der That, ich gestehe, daß mir ein guter Wein eine herrliche Sache scheint, und daß ich mich gar nicht ungern durch ihn erheitere, nur muß ich nicht dazu gezwungen werden. Ich habe immer bemerkt, daß die falschen Menschen mäßig sind, und große Zurückhaltung bei Tische verräth ziemlich häufig einen verstellten Charakter und Doppelherzigkeit. Ein offener Mann hat weniger Scheu vor der überfließenden Redseligkeit, den traulichen Ergießungen, welche der Betrunkenheit vorangehen; man muß aber auch einzuhalten und das Uebermaß zu vermeiden wissen. Das war mir aber nicht möglich mit so ausgemachten Trinkern, wie die Walliser sind, bei so starken Weinen, wie sie das Land erzeugt, und an Tischen, wo sich nie ein Tropfen Wasser blicken läßt. Wie hätte man es über sich gewinnen sollen, auf so dumme Art den Weisen zu spielen und solche gute Leute böse zu machen? Ich betrank mich also aus Dankbarkeit, und da ich meine Zeche nicht mit meinem Beutel bezahlen durfte, bezahlte ich sie mit meiner Vernunft.

Ein anderer Brauch, der mich nicht weniger peinigte, war, daß ich überall, selbst bei Magistratspersonen, die Frau und die Töchter vom Hause hinter meinem Stuhle stehend wie Lakaien den Tisch bedienen sah. Eine französische Galanterie würde sich um so mehr gequält haben, diese Unangemessenheit wett zu machen, als mit dem Gesichtchen der Walliserinnen selbst Mägde durch ihre Dienste in Verlegenheit setzen würden. Sie können es mir wohl glauben, daß sie hübsch sind, da sie sogar mir hübsch schienen. Augen, die gewohnt sind, Julie zu sehen, machen Ansprüche im Punkte der Schönheit.

Ich für mein Theil, der ich immer die Bräuche des Landes, in welchem ich lebe, höher achte, als die der Galanterie, lasse mich stillschweigend von ihnen bedienen, so gravitätisch wie sich Don Quixote von der Herzogin bedienen ließ. Ich betrachtete oft mit Lächeln den Abstich zwischen den großen Bärten und den groben Gesichtern der Tischgenossen und der glänzenden und zarten Farbe dieser jungen schüchternen Schönen, die ein Wort schamroth und nur desto anmuthiger machte. Aber ich nahm einigen Anstoß an dem Ungeheuern Umfang ihrer Brust, die nur einen der Vorzüge in ihrer blendenden Weiße von dem Modell hat, an welchem ich sie zu messen wagte, dem einzigen, obwohl verhüllten Modell, dessen verstohlen abgelauschte Umrisse mir ein Bild von jener berühmten Schale geben, welcher der schönste Busen der Welt zum Muster gedient hatte [Der Busen der Helena. Minerva temlum habet … in quo Helena sacravit calicem ex electro; adjicit historia, mammae suae mensura. („In dem Minerventempel ist eine Bernsteinschale, Weihgeschenk der Helena, und wie die Sage hinzufügt, nach dem Maße ihres Busens geformt“).Plin. Hist. Nat. lib. XXXIII, caq. 23.].

Staunen Sie nicht, mich so genau von Mysterien unterrichtet zu finden, welche Sie so gut verbergen: ich bin es ohne Ihren Willen; der eine Sinn giebt wohl bisweilen dem andern Aufschluß: bei aller eifersüchtigen Wachsamkeit entschlüpfen der Kleidung, schließe sie noch so gut, doch hin und wieder kleine Zwischenräume, bei denen das Gesicht den Dienst des Tastsinns übernimmt. Das lüsterne und kühne Auge stiehlt sich ungestraft unter die Blumen eines Straußes; es lauscht unter Chenille und Gaze und verschafft der Hand die Empfindungen des elastischen Widerstandes, den sie selbst nicht zu erproben wagt.

Parte appar delle mamme acerbe c crude: Parte altrui ne ricopre invida vesta, Invida, ma s' agli occhi il varco chiude L' amoroso pensier già non arresta.

[Ein Theil blickt vor der herben jungen Brüste, Das andr' entzieht neidisch Gewand dem Blicke. Neidisch, doch hält's, wenn auch der Augen Lüste, Den lüsternen Gedanken nicht zurücke.

Tasso.]

Ich bemerkte auch einen großen Fehler an der Kleidung der Walliserinnen, nämlich sie haben an ihren Röcken so hohe Rückentheile, daß sie wie bucklig aussehen; das macht in Verbindung mit ihrem kleinen schwarzen Kopfzeuge und dem übrigen Anzuge eine sonderbare Wirkung, die übrigens doch auch etwas Einfaches und Geschmackvolles hat. Ich bringe Ihnen einen vollständigen Walliser Anzug mit, und ich hoffe, er soll Ihnen gut stehen; er ist auf die hübscheste Taille des Landes gemacht.

Während ich mit Entzücken diese so wenig bekannte und der Bewunderung doch so werthe Gegend durchwanderte, was ward aus Ihnen indeß, meine Julie? Waren Sie von Ihrem Freunde vergessen! Juli, vergessen! Würde ich nicht eher mich selbst vergessen? Und was wäre ich auch nur einen Augenblick allein, ich, der ich Alles nur noch durch Sie bin? Ich habe mehr denn je bemerkt, mit welchem Instinkt ich an verschiedene Orte unser gemeinsames Dasein je nach der Stimmung meiner Seele verlege. Wenn ich traurig bin, so flüchtet sie sich zu der Ihrigen und sucht an den Orten Trost, wo Sie sind; dies empfand ich, als ich Sie verließ. Wenn ich froh bin, so ist es mir unmöglich, allein zu genießen, und damit Sie meine Lust theilen, zaubere ich Sie mir dahin, wo ich bin. So ist es mir auf dieser ganzen Wanderung ergangen; weil mich die Abwechslung der Gegenstände unaufhörlich an mich selbst erinnerte, so nahm ich sie überall mit hin. Ich that nicht einen Schritt, den wir nicht mit einander thaten; ich bewunderte keine einzige Aussicht, ohne sie geschwind Ihnen zu zeigen. Alle Bäume, denen ich begegnete, gaben Ihnen Schatten; jeder Rasen diente Ihnen zum Sitze. Bald an Ihrer Seite betrachtete ich mit Ihnen die Gegenstände umher; bald zu Ihren Füßen betrachtete ich einen der Blicke eines gefühlvollen Menschen würdigeren Gegenstand. Kam ich auf einen schwierigen Pfad, so sah ich Sie darüber hinhüpfen mit der Leichtigkeit eines Rehs, das neben seiner Mutter herläuft. Mußte ich durch einen Gießbach, so erkühnte ich mich, mit meinen Armen die so süße Last zu umschließen; ich ging langsam, langsam durch das Wasser, wonnevoll, und sah mit Trauer, daß wir schon am Ufer waren. Alles erinnerte mich an Sie in diesen stillen, friedlichen Gegenden, und die ergreifenden Schönheiten der Natur, die unwandelbare Reinheit der Luft, die einfachen Sitten der Bewohner, ihr gleichmäßiges, verständiges und festes Wesen, die liebenswürdige Schamhaftigkeit des weiblichen Geschlechts, seine unschuldvolle Anmuth und Alles, was angenehm meine Augen und mein Herz berührte. Alles malte ihnen nur Die ab, die sie beständig suchen.

O meine Julie! rief ich gerührt aus, warum kann ich nicht meine Tage mit dir an dieser unbekannten Stätte hinbringen, beglückt durch unsere Glückseligkeit und nicht durch die Aufmerksamkeit der Menschen! Warum kann ich nicht hier meine ganze Seele auf dich allein sammeln und auch dir dein Alles sein! Angebetete Reize, dann, dann würdet ihr der Huldigungen genießen, deren ihr würdig seid! Liebeswonne, ohne Ende würden dich unsere Herzen schlürfen! In langer süßer Trunkenheit würden wir der Flucht der Jahre vergessen; und wenn endlich das Alter unsere erste Glut gemildert hätte, würde die Gewohnheit, mit einander zu denken und zu empfinden, an die Stelle ihres Dranges eine nicht minder zärtliche Freundschaft setzen. Alle edeln Gefühle, in der Jugend mit denen der Liebe zugleich genährt, würden einst die unendliche Leere ausfüllen; wir würden im Schoße dieses glücklichen Volkes und nach seinem Beispiel alle Pflichten der Menschlichkeit erfüllen; unablässig würden wir unsere Kräfte vereinigen. Gutes zu thun, und würden nicht sterben, ohne gelebt zu haben.

Die Post kommt an; ich muß meinen Brief schließen und nach dem Ihrigen laufen. Wie schlägt mir das Herz, bis ich ihn habe! Ach! ich war so glücklich in meinen Träumen; das Glück flieht mit ihnen; was wird in der Wirklichkeit aus mir werden?

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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