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Sechsundzwanzigster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Wie hat sich mein Zustand in wenigen Tagen verwandelt! Wie viel Bitteres mischt sich in das süße Gefühl, Ihnen näher zu sein! Was für trübe Gedanken belagern mich! Was für Widerwärtigkeiten zeigt mir meine bange Ahnung in der Ferne! O Julie! was für ein unseliges Geschenk des Himmels ist eine empfindsame Seele! Wem eine solche zu Theil geworden, der sei darauf gefaßt, auf Erden nichts als Kummer und Schmerz zu haben! Ein elendes Spielzeug der Luft und des Wetters; Sonne oder Nebel, bedeckter oder heiterer Himmel machen sein Geschick, und er ist freudig oder traurig, je nachdem der Wind steht. Ein Opfer der Vorurtheile, findet er in abgeschmackten Grundsätzen ein unübersteigliches Hinderniß seiner gerechten Herzenswünsche. Die Menschen strafen ihn dafür, daß er ein richtiges Gefühl von jeder Sache hat und sie mehr nach dem beurtheilt, was wahrhaft, als nach dem, was herkömmlich ist. Alleinstehend hätte er schon daran genug, um elend zu sein, daß er sich unkluger Weise dem himmlischen Zuge des Rechten und Schönen überläßt, während die schweren Ketten der Nothwendigkeit ihn an die Schmach binden. Er trachtet nach dem höchsten Glücke, und bedenkt nicht, daß er ein Mensch ist; sein Herz und seine Vernunft sind in ewigem Streite, und schrankenlose Begierden legen ihm ewige Entehrungen auf.

Dies ist die grausame Lage, in welche ich gestürzt bin, ich, den das Schicksal niederdrückt, während mich mein Gefühl emporreißt, ich, den dein Vater verachtet, während du die Wonne und die Qual meines Lebens bist. Ohne dich, unselige Schönheit, würde ich niemals diesen unerträglichen Gegensatz von Hoheit im Innersten meiner Seele und Niedrigkeit in meiner äußerlichen Stellung empfunden haben; ich hätte ruhig gelebt und wäre zufrieden gestorben, ohne es des Blickes werth zu achten, welchen Rang ich auf der Erde eingenommen hatte. Aber dich gesehen haben und dich nicht besitzen können, dich anbeten und nichts sein als ein Mensch, geliebt sein und nicht glücklich sein dürfen, an demselben Orte leben und nicht mit einander leben dürfen! .... O Julie, der ich nicht entsagen kann! o Schicksal, das ich nicht bewältigen kann! welche furchtbaren Kämpfe regt ihr in mir auf, ohne daß ich jemals weder meiner Begierden noch meiner Ohnmacht Meister werden kann!

Wie wunderbar und unbegreiflich ist das! Seit ich Ihnen näher bin, wälze ich, nur finstere Ahnungen in meinem Geiste umher. Vielleicht trägt der Ort, an dem ich mich befinde, zu meiner Schwermuth bei: er ist trübselig und schauerlich; er stimmt nur desto besser zu dem Zustande meiner Seele, und ich würde an einem angenehmeren nicht so geduldig aushalten. Eine starre Felskette läuft am Ufer entlang und umgiebt meine Wohnung, die der Winter noch schauriger macht.. Ach, ich fühle es, wenn ich Ihnen entsagen müßte, meine Julie, würde kein anderer Wohnort mehr, keine andere Jahreszeit mehr für mich sein.

In der gewaltsamen Aufregung, in welcher ich mich befinde, habe ich nirgend Ruhe; ich laufe, steige mit Anstrengung, schwinge mich auf die Felsen, durchlaufe die Gegend mit hastigen Schritten und finde überall in den Gegenständen außer mir denselben Graus, der in meinem Innern herrscht. Man sieht kein Grünes, das Gras ist gelb und welk, die Bäume sind blätterlos, der Dürrwind [Séchard, Nordost.] und der grimmige Nord häufen Schnee und Eis, und die ganze Natur ist meinen Augen todt, wie die Hoffnung im Grunde meiner Seele.

Unter den Felsen an diesem Strande habe ich in einem einsamen Winkel eine kleine Bergplatte entdeckt, von wo man die ganze Stadt überblickt, die glückselige Stadt, in der Sie wohnen. Denken Sie, mit welcher Gierde meine Augen nach dem geliebten Orte späheten. Den ersten Tag machte ich unsägliche Anstrengungen, um Ihre Wohnung heraus zu erkennen; aber die große Entfernung machte es mir unmöglich, und ich nahm wahr, daß meine Einbildungskraft die ermüdeten Augen zum Besten halte. Ich lief zu dem Pfarrer, um mir ein Fernglas zu leihen, mit dessen Hülfe ich Ihr Haus sah oder zu sehen glaubte; und seitdem bringe ich die ganzen Tage damit hin, an dieser verborgenen Stätte nach den glücklichen Mauern zu schauen, welche den Quell meines Lebens umschließen. Ungeachtet der Jahreszeit gehe ich früh Morgens hin und kehre erst bei der Nacht heim. Laub und etwas dürres Reis, das ich anzünde, dient mir, nächst Auf- und Niederlaufen, mich vor der scharfen Kälte zu wahren. Ich habe mich so in diesen wilden Ort verliebt, daß ich sogar Tinte und Papier hinnehme; und ich schreibe dort jetzt diesen Brief auf einem Block, den der Frost vom nächsten Felsen losgesprengt hat.

Dies ist der Ort, meine Julie, wo dein unglücklicher Liebster vielleicht die letzten Tropfen der Freude trinkt, die ihm in dieser Welt bescheert war. Von da aus erkühnt er sich, durch die Luft und Mauern hindurch verstohlen bis in dein Gemach zu dringen. Deine lieblichen Züge treffen noch sein Auge; deine zärtlichen Blicke beleben noch sein sterbendes Herz; er vernimmt den Ton deiner süßen Stimme, wagt noch einmal in deinen Armen jenen Wahnsinn zu suchen, der ihn damals in jenem Gebüsche trunken machte: Eitles Trugbild einer aufgeregten Seele, die in ihrer Sehnsucht irre schweift! Bald gezwungen, wieder zu mir selbst zu kommen, will ich dich wenigstens in allen Einzelheiten deiner unschuldigen Lebensweise mir vergegenwärtigen: ich folge von fern deinen verschiedenen Beschäftigungen den Tag über, und stelle sie mir zu den Zeiten und an den Orten vor, wo ich manchmal so glücklich war ihr Zeuge zu sein. Stets sehe ich dich Verrichtungen nachgehen, die dich immer schätzenswerther machen, und mein Herz geht auf in Entzücken über die unversiegliche Güte des deinigen. Jetzt, sage ich mir am Morgen, erwacht sie aus friedlichem Schlummer; ihre Farbe hat die Frische der Rose, ihre Seele ist voll stiller Heiterkeit; sie bringt Dem, der ihr das Dasein gegeben, einen Tag zum Opfer, der für die Tugend nicht verloren sein wird. Jetzt geht sie zu ihrer Mutter; die zärtlichen Gefühle ihres Herzens ergießen sich gegen die Urheber ihrer

tage, sie ist ihnen behülflich bei den Mühwaltungen, die das Haus erfordert; sie erwirkt vielleicht Einem von der Dienerschaft, der unbesonnen war, Verzeihung, sie ertheilt vielleicht Ermahnungen im Stillen; sie erbittet vielleicht eine Gunst für irgend einen anderen. Zu einer andern Zeit beschäftigt sie sich ungelangweilt mit den Arbeiten ihres Geschlechtes; sie schmückt ihre Seele mit nützlichen Kenntnissen; sie fügt ihrem angeborenen Schönheitssinn die Ausbildung in den schönen Künsten und die im Tanze ihrer natürlichen Grazie hinzu. Bald sehe ich einen geschmackvollen und einfachen Putz Reize zieren, die dessen nicht bedürfen. Hier sehe ich sie einen ehrwürdigen alten Hirten über den nicht bekannten Kummer einer dürftigen Familie befragen; dort der betrübten Witwe oder der verlassenen Waise Trost oder Hülfe bringen. Bald entzückt sie eine achtbare Gesellschaft durch ihre sinnigen und sittsamen Reden; bald ruft sie, im Schäfern mit den Freundinnen, eine junge Ausgelassene zu dem Tone der Artigkeit und Schicklichkeit zurück. Einige Augenblicke, ach, verzeihe, wage ich selbst mit mir dich beschäftigt zu sehen: ich sehe deine Augen mit Rührung einem meiner Briefe durchlaufen: ich lese in ihrem sanften Schmachten, daß die Zeilen, welche du schreibst, an den beglückten Geliebten gerichtet sind; ich sehe, daß er es ist, von dem du so zärtlich bewegt mit deiner Cousine sprichst. O Julie, meine Julie! Und wir sollten nicht vereinigt sein? Unsere Tage sollten uns nicht mit einander verfließen? Und wir könnten auf ewig getrennt werden? Nein! O, möge sich nie dieser schreckliche Gedanke meinem Geiste darbieten! In einem Augenblick verwandelt er alle meine Wehmuth in Wuth; der Grimm jagd mich von Höhle zu Höhle; unwillkührlich stoße ich Gestöhn' aus und schreie laut; ich brülle wie eine gereizte Löwin; ich bin zu Allen fähig, nur nicht dich aufzugeben; und es giebt nichts, nein, nichts, was ich nicht thäte, um dich zu besitzen oder zu sterben.

Hier war ich mit meinem Briefe und erwartete nur eine sichere Gelegenheit, um ihn Ihnen zu schicken, als ich von Sion den letzten erhielt, den Sie mir von dort geschrieben haben. Wie hat der Trübsinn, den er athmet, dem meinigen wohlgethan! Wie fand ich darin ein schlagendes Beispiel dessen, was Sie mir sagten von der Uebereinstimmung unserer Seelen in der Ferne! In Ihrer Betrübniß, ich gestehe es, ist mehr Geduld; die meinige ist heftiger; aber es muß ja auch das nämliche Gefühl seine Färbung von den Charakteren annehmen, in denen es wirkt, denn es ist so natürlich, daß der größte Verlust die größten Schmerzen verursacht. Was sage ich, Verlust? Ha! wer könnte ihn ertragen! Nein, erkennen Sie es endlich, o meine Julie! ein ewiger Beschluß des Himmels hat uns für einander bestimmt; dies ist das vornehmste Gesetz, dem man gehorchen muß; dies die vornehmste Sorge des Lebens, sich demjenigen Wesen zu verbinden, welches es uns versüßen soll. Ich sehe wohl, ich sehe es mit Seufzen, du verwirrt dich in deinen eitlen Plänen, du willst Schranken überspringen, die unübersteiglich sind, und vernachlässigst die einzigen möglichen Mittel; die Begeisterung für das, was ziemlich ist, raubt dir die Besinnung und deine Tugend ist nur noch ein Wahnsinn.

Ach, wenn du immer jung und schön bleiben könntest wie jetzt, so würde ich um nichts den Himmel bitten, als dich ewig glücklich zu wissen, dich nur einmal jedes Jahr in meinem Leben zu sehen, ein einziges Mal und meine übrigen Tage damit hinzubringen, von ferne deinen Wohnsitz zu betrachten, unter diesen Felsen dich anzubeten. Aber, ach! siehe den schnellen Lauf dieses Gestirns, das nimmer still steht; es fliegt dahin und die Zeit entflieht, die Gelegenheit entrinnt: deine Schönheit, deine Schönheit selbst wird ihrvZiel haben; sie muß abnehmen und einst welken wie eine Blume, welche dahin sinkt, ohne gebrochen zu sein; und ich indessen seufze, leide, meine Jugend verzehrt sich in Thränen und verblüht im Schmerz. Bedenke, Julie, bedenke, daß wir schon nach Jahren die für den Genuß verlorene Zeit zählen können. Bedenke, daß sie nicht wiederkehren werden; daß es mit denen ebenso sein wird, die uns noch übrig sind, wenn wir sie wieder entschlüpfen lassen. O blinde Geliebte! Du suchst ein erträumtes Glück für eine Zeit, wo wir nicht mehr sein werden; du hast eine entfernte Zukunft im Auge und siehst nicht, daß wir uns unaufhörlich verzehren, und daß unsere Seelen, erschöpft von Liebe und Schmerz, zerfließen und verrinnen wie Wasserbäche. [Sicut aqua effusus sum. (Ich bin ausgeschüttet wie Wasser.) Psalm XXII, 15 – Omnes morimur et quasi dilabimur in terram. (Wir sterben des Todes, und wie das Wasser in die Erde verschliefet, das man nicht aufhältII. Reg. (Samuel) 14, V. 14.] Kehre um, noch ist es Zeit, kehre um, meine Julie, von diesem verderblichen Irrthum. Laß deine Pläne fahren und sei glücklich! Komm, meine Seele du, komm, in den Armen deines Freundes die beiden Hälften unseres Wesens zu vereinigen: komm, um im Angesichte des Himmels, der unsere Flucht leite und Zeuge unserer Schwüre sei, einander Treue in Leben und Tod zu schwören. Du, o, ich weiß es wohl, du hast nicht nöthig, daß man dich über die Furcht vor Dürftigkeit erst noch beruhige. Laß uns glücklich und arm sein, ach! welchen Schatz werden wir gewonnen haben! Aber laß uns nicht der Menschheit diesen Schimpf anthun, zu glauben, daß die ganze Erde keinen Zufluchtsort für zwei unglücklich Liebende haben werde. Ich habe Arme, ich bin rüstig; das mit unserer Arbeit erworbene Brot wird dir köstlicher dünken als die Leckerbissen der Schmäuse. Kann eine Mahlzeit, welche die Liebe würzt, je unschmackhaft sein? O, meine zärtliche, theure Geliebte! sollten wir auch nur einen einzigen Tag glücklich sein, willst du denn dieses kurze Leben verlassen, ohne das Glück geschmeckt zu haben?

Ich habe Ihnen nur noch Ein Wort zu sagen, Julie! Sie kennen den alten Dienst des Felsens der Leucate, der letzten Zuflucht so vieler unglücklich Liebenden. Dieser Ort hier gleicht ihm in vieler Hinsicht: der Felsen ist steil, das Wasser ist tief und ich bin in Verzweiflung.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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