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Neunundzwanzigster Brief.
Julie an Clara.

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Inhaltsverzeichnis

Bleibe, o bleibe, komm nie zurück! du kommst zu spät. Ich darf dich nicht mehr sehen; wie könnte ich deinen Anblick aushalten?

Wo warest du, meine süße Freundin, mein Schirm, mein Schutzengel? Du hast mich verlassen und ich bin vernichtet. Wie! war sie so nöthig, oder so dringend, diese unglückselige Reise? konntest du mich mir selbst überlassen in dem gefährlichsten Augenblicke meines Lebens? Was für Leid hast du mir bereitet durch diese sträfliche Versäumniß! Es wird ewig sein wie meine Thränen. Dein Verlust ist nicht weniger unersetzlich als der meinige, und eine andere Freundin, deiner werth, ist nicht leichter wieder zu erlangen als meine Unschuld.

Was habe ich da gesagt, Elende ich? Ich kann nicht reden, nicht schweigen. Was nutzt schweigen, wenn das Gewissen schreit? Wirft nicht die ganze Welt mir meinen Fehltritt vor? Ist meine Schande nicht auf jedes Ding geschrieben? Wenn ich nicht mein Herz ausschütte in das deine, so muß ich ersticken. Und du, machst du dir keinen Vorwurf, leichtsinnige, allzu willfährige Freundin? Ach! warum verriethest du mich nicht? Deine Treue, deine blinde Freundschaft, deine unselige Nachsicht hat mich zu Grunde gerichtet.

Welcher böse Geist hat es dir eingegeben, ihn zurückzurufen, den Grausamen, der mich in die Schande stürzt? Mußten seine verrätherischen Bemühungen mir das Leben wiedergeben, um es mir verhaßt zu machen? Möge er fliehen, auf ewig, der Barbar! O, rührte ihn ein Rest von Mitleid; käme er nicht, um meine Qualen durch seine Gegenwart zu verdoppeln; entsagte er dem wilden Triumph, sich an meinen Thränen zu letzen! Wehe! was rede ich? Ach, er ist nicht strafbar; ich, ich bin es, ich allein; all mein Unglück ist mein Werk, und ich habe Keinem etwas vorzuwerfen als nur mir. Aber das Laster hat schon meine Seele angefressen; das ist die erste seiner Wirkungen, daß es uns reizt, Anderen unsere Verbrechen aufzubürden.

Nein, nein, nimmer war er fähig, seine Schwüre zu brechen. Sein tugendhaftes Herz weiß nichts von der verworfenen Kunst, das zu schänden, was er liebt. Ach, ohne Zweifel kann er besser lieben

als ich, da er sich besser bezwingen kann. Hundertmal waren meine Augen Zeugen seiner Kämpfe und seines Sieges; die seinigen funkelten von der Glut seiner Begierden, er stürzte auf mich zu mit dem Ungestüm einer blinden Raserei, blieb plötzlich stehen: eine unübersteigliche Schranke schien sich um mich zu erheben, und niemals hätte seine ungestüme, aber gesittete Liebe sie niedergestürzt. Ich wagte dieses gefährliche Schauspiel zu viel zu betrachten. Ich fühlte mich ergriffen von dem Schwindel, der ihn erfaßt hatte, seine Seufzer beklommen mir die Brust; ich theilte seine Qualen, die ich nur zu bedauern meinte. Ich sah ihn in krampfhaftem zittern, halb ohnmächtig sah ich ihn zu meinen Füßen. Die Liebe allein hätte mich vielleicht bewahrt o meine Cousine! Das Mitleid hat mich gestürzt.

Es ist, als ob meine verderbliche Leidenschaft, um mich zu bestricken, die Maske jeder Tugend angenommen hätte. An diesem Tage noch hatte er mehr als je in mich gedrungen, mit ihm zu fliehen. Hätte ich nicht den besten der Väter in Verzweiflung gestürzt, nicht den Dolch in das Herz meiner Mutter gestoßen? Ich widerstand, ich wies mit Abscheu seinen Vorschlag zurück. Die Unmöglichkeit, unsere Wünsche je in Erfüllung gehen zu sehen, das Geheimniß, das ich ihm aus dieser Unmöglichkeit machen mußte, der Schmerz, einen so ergebenen, so zärtlichen Geliebten zu täuschen, nachdem ich seiner Hoffnung geschmeichelt hatte, das alles beugte meinen Muth. Alles vermehrte meine Schwäche, Alles verrückte meine Vernunft; es blieb ja nichts übrig, als entweder dem Urhebern meiner Tage den Tod zu geben, meinem Geliebten oder mir. Ohne zu wissen, was ich That, wählte ich mein eigenes Unglück. Ich vergaß Alles, dachte nichts als nur Liebe, Liebe. So hat die Verirrung eines Augenblicks mich auf ewig vernichtet. Ich bin hinabgestürzt in den Abgrund von Schande, aus dem ein Mädchen nicht wieder aufersteht, und wenn ich leben bleibe, so ist es nur, um noch unglücklicher zu sein.

Ich suche mit Seufzen nach irgend einem Troste, der mir auf Erden noch übrig wäre. Ich sehe nichts als dich, meine liebenswerthe Freundin! Beraube mich nicht dieses einzigen Mittels, ich beschwöre dich; nimm mir nicht das Labsal deiner Freundschaft. Ich habe das Recht verloren, Anspruch darauf zu machen, aber nie, nie bedurfte ich ihrer mehr. Laß das Mitleid ersetzen, was die Achtung versagt. Komm, Liebe, um dein Herz meinen Klagen zu öffnen; komm, um die Thränen deiner Freundin aufzufangen; komm, schütze mich, wo möglich, vor der Verachtung meiner selbst, und gieb mir den Glauben, daß ich nicht Alles verloren habe, weil dein Herz mir noch bleibt.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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