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Achtundvierzigster Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Ach, meine Julie, was habe ich gehört! Welche ergreifende Töne! was für Musik! welch eine köstliche Quelle von Empfindungen und Genüssen! Verliere keinen Augenblick, geschwind, lies alle deine Opern, deine Cantaten, deine ganze französische Musik zusammen; mach' ein großes, recht flackerndes Feuer an, und hinein mit dem ganzen Bettel! aber schüre das Feuer wohl, damit so viel Eis darin verzehrt werden könne und wenigstens einmal dazu diene, warm zu machen. Bringe dieses Sühnopfer dem Gotte des Geschmacks, um dein Verbrechen und das meinige zu büßen, daß wir deine Stimme mit dieser schwerfälligen Psalmodie entweiht haben, daß wir so lange für Sprache des Herzens hielten, was weiter nichts war als ein Lärm, die Ohren zu betäuben. O wie Recht hatte dein würdiger Bruder! In welchem seltsamen Irrthum habe ich bisher über die Wirksamkeit dieser bezaubernden Kunst gelebt! ich fühlte die geringe Wirkung und maß dieselbe ihrer Ohnmacht bei. Ich sagte: Musik ist nichts als leerer Klang, der dem Ohre schmeichelt und auf die Seele nur auf einem Umwege und nur schwach wirkt: der Eindruck der Harmonien ist etwas rein Mechanisches, Physikalisches: was hat er mit den Gefühlen zu schaffen? Und warum sollte ich erwarten, von einem schönen Zusammenklang lebhafter bewegt zu werden als von einem schönen Farbenaccord? Ich entdeckte in den Accenten der Melodie, welche sich denen der Sprache anfügen, nicht die mächtige, geheime Verwandtschaft der Leidenschaft mit den Klängen: ich bemerkte nicht, daß die Nachahmung der mannichfaltigen Töne, mit denen die Gefühle die redende Stimme beleben, ihrerseits wieder der singenden Stimme die Macht verleiht, das Herz zu rühren, daß das wirkungsvolle Gemälde der Bewegungen, welche in der Seele dessen vorgehen, der sich vernehmen läßt, eben das ist, worin für die Hörenden der wahre Zauber liegt.

Dies brachte mir der Sänger, den Milord hatte, zum Bewußtsein, der für einen Musikus auch recht leidlich über seine Kunst zu reden weiß. Die Harmonie, sagte er mir, ist in der nachahmenden Musik nur ein untergeordnetes Nebenmittel; in der Harmonie im eigentlichen Sinne liegt nicht das Prinzip der Nachahmung. Sie sichert allerdings die Intonationen; sie giebt Gewähr für deren Richtigkeit; und indem sie die Modulationen fühlbarer hervorhebt, giebt sie dem Ausdruck mehr Kraft und der Melodie mehr Anmuth. Aber von der Melodie allein geht jene unüberwindliche Macht der leidenschaftlichen Accente aus; von ihr rührt die ganze Gewalt der Musik über die Seele her. Bildet die gelehrtesten Folgen von Accorden ohne melodischen Fortschritt, und ihr werdet nach Verlauf einer Viertelstunde ermüdet sein. Schöne Melodien ganz ohne harmonische Unterstützung sind lange davor sicher, zu ermüden. Lasset den Ausdruck des Gefühls die einfachsten Melodien beleben, und sie werden fesseln. Dagegen eine Melodie, die nicht spricht, singt auch immer schlecht, und die bloße Harmonie hat nie zum Herzen zu sprechen gewußt.

Hierin, fuhr er fort, liegt die Täuschung der Franzosen über die Kraft der Musik. Da sie in einer Sprache, die ohne Accent ist, keine Melodie haben und haben können, und über einer manierirten Poesie die nie von Natur gewußt hat, wissen sie nicht anders zu wirken als durch reiche Harmonie und brillante Stimmführung, wodurch kein angenehmerer Gesang, sondern nur mehr Getöse erreicht wird; und sie haben mit dem, was sie erreichen wollen, so viel Unglück, daß ihnen sogar die Harmonie selbst, um die es ihnen zu thun ist, entwischt; weil sie es auf Ueberladung absehen, treffen sie keine Auswahl, wissen nichts was Effect macht, machen lauter Ausfüllung; sie verderben sich das Ohr, und haben für nichts mehr Empfindung als für großen Lärm, so daß für sie die schönste Stimme diejenige ist, welche sich am lautesten vernehmen läßt. So haben sie, in Ermanglung eines eigenen Genre, stets nichts gethan, als schwerfällig und von weitem unseren Mustern nachgetreten; und seit ihrem berühmten Lulli, oder vielmehr unserem, der nur die Opern nachbildete, deren Italien zu seiner Zeit schon einen Ueberfluß hatte, hat man sie immer nur, um dreißig, vierzig Jahre hinterher unsere allen Autoren copiren, verderben, und es mit unserer Musik ungefähr so machen sehen, wie es die anderen Völker mit ihren Moden machen. Wenn sie sich ihrer Chansons rühmen, so sprechen sie damit ihre eigene Verdammung aus; wenn sie Gefühle zu singen verstünden, würden sie nicht witzige Einfälle singen. Aber weil ihre Musik nichts ausdrückt, so paßt sie besser für das Chanson als für die Oper; und weil die unsrige durch und durch Leidenschaft ist, so ist sie geeigneter für die Oper als für das Chanson.

Hierauf recitirte er mir ohne Gesang einige italienische Scenen, und ließ mich die Beziehungen fühlen zwischen der Musik und den Worten im Recitativ, zwischen der Musik und dem Gefühle in der Arie, und überall die Kraft, welche die genaue Maßhaltung und die Auswahl in den Accorden dem Ausdrucke verleibt. Endlich dann, nachdem ich mich außer meiner Bekanntschaft mit der Sprache, so gut ich irgend konnte, in den oratorischen und pathetischen Ausdruck hineingedacht hatte, d. h. in die Kunst, zu dem Ohre und zu dem Herzen in einer Sprache ohne articulirtes Wort zu reden, machte ich mich daran, diese bezaubernde Musik zu hören, und ich fühlte bald an der Aufregung, welche sie mir verursachte, daß diese Kunst eine weit gewaltigere Macht habe, als ich mir je gedacht. Ein unbeschreibliches Lustgefühl nahm mich allmählig ein. Nicht mehr eine leere Reihenfolge von Klängen vernahm ich wie bei unseren Recitativen. Bei jeder Phrase trat ein Bild in meine Vorstellung oder eine Empfindung in mein Herz; das Vergnügen blieb nicht beim Ohre stehen, es drang in die Seele; der Vortrag floß anstrengungslos, mit reizender Leichtigkeit dahin; alle Mitwirkenden schienen von Einem Geiste beseelt; der Sänger, der seine Stimme beherrschte, zog ungezwungen Alles, was Melodie und Worte erforderten, heraus; und es gewährte mir eine wahrhafte Erquickung, nicht die Schwere dieser Cadenzen, nicht diese peinliche Anstrengung der Stimmen, nicht den Zwang zu fühlen, welche bei uns der ewige Streit zwischen Melodie und Metrum dem Sänger auferlegt, wobei, weil Beides nie zusammen geht, der Zuhörer nicht weniger abgemattet wird als der Ausführende.

Als aber nach einer Reihe von gefälligen Arien zu jenen großen handlungreichen Stücken übergegangen wurde, welche das Gewirr stürmender Leidenschaften schildern und in der Seele erwecken, da verlor ich mit jedem Augenblick mehr den Gedanken an Musik, Gesang, Nachahmung; ich glaubte die Stimme des Schmerzes, der Wuth, der Verzweiflung zu hören; ich glaubte jammernde Mütter, verrathene Liebende, tobende Tyrannen zu sehen, und in der Aufregung, in welche ich mich widerstandslos versetzt fand, hatte ich Mühe, am Orte zu bleiben. Da erkannte ich, warum die nämliche Musik, welche mich früher gelangweilt hatte, mich jetzt entzündete, rnich mir selbst entrückte; ich hatte angefangen, sie zu begreifen, und sobald sie auf mich wirken konnte, wirkte sie mit aller ihrer Macht. Nein, Julie, das sind Eindrücke, die man nicht halb empfangen kann; sie sind überwältigend oder gar nicht vorhanden, niemals schwach oder mittelmäßig; man muß entweder unempfindlich bleiben oder sich über alles Maß aufregen lassen; entweder ist es der Schall einer Sprache, die man nicht versteht, oder ein Ungestüm des Gefühls, von welchem man fortgerissen wird, und dem die Seele nicht widerstehen kann.

Ich hatte nur Ein Bedauern, aber das verließ mich nicht; nämlich, daß ein Anderer als du Töne gestaltete, die mich so angriffen, und daß ich aus dem Munde eines elenden Castrato die zärtlichsten Ausdrücke der Liebe hervorgehen sah. O meine Julie, ist es nicht an uns, dem Gefühle Alles, was sein ist, wieder zu erobern? Wer kann besser als wir sagen und fühlen, was eine schmelzende Seele sagen und fühlen muß? Wer kann mit rührenderem Tone das cor mio, l'idolo amato aussprechen? Ach! welchen Ausdruck wird das Herz der Kunst leihen, wenn wir je mit einander eines dieser entzückenden Duos singen, die so köstliche Thränen hervorlocken! Ich beschwöre dich, nur erst einmal eine Probe dieser Musik, entweder bei dir oder bei der Unzertrennlichen anzuhören, Milord wird, sobald du nur willst, alle seine Leute hinbringen, und ich bin gewiß, daß bei einem so empfänglichen Organ, wie das deinige ist, und bei größerer Bekanntschaft mit der italienischen Declamation, als ich hatte, ein einziger Abend hinreichen wird, dich auf den Punkt zu bringen, auf welchem ich selbst bin, und zu bewirken, daß du meinen Enthusiasmus theilest. Ich mache dir auch noch den Vorschlag und bitte dich, die Anwesenheit des Virtuosen zu benutzen, um Unterricht bei ihm zu nehmen, wie ich seit diesem Morgen thue. Seine Unterrichtsmethode ist einfach, nett und besteht mehr in Uebungen als in Erläuterungen; er sagt nicht, wie man es machen müsse, er macht es vor; und in dieser Sache wie in vielen andern ist das Beispiel mehr werth als die Regel. Ich sehe schon, daß es sich nur darum handelt, sich dem Rhythmus strenge zu unterwerfen, ihn richtig zu fühlen, mit Sorgfalt Athem zu nehmen und abzusetzen, die Töne gleichmäßig zu tragen und nicht zu drücken, um der Stimme das Schreiende und das ganze französische Pützelwerk zu benehmen, um sie rein, ausdrucksvoll und biegsam zu machen: die deinige, leicht und sanft wie sie von Natur ist, wird sich bald der neuen Manier bequemen; du wirst bald mit deinem richtigen Gefühle die Kraft und die Frische der Betonung finden, welche die italienische Musik verlangt.

E'l ecantar che nell' anima si sente. [Und den Gesang, der in die Seele dringet. Petrarca.]

Gieb also für immer den langweiligen und weinerlichen französischen Gesang auf, welcher mehr dem Gewimmer der Kolik als einem Ausströmen von Leidenschaften gleicht. Lerne die göttlichen Töne bilden, welche aus dem Gefühle stammen, die einzigen, die deiner Stimme, deines Herzens würdig sind und die allen Reiz und alle Glut empfindungsvoller Geister in sich tragen.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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