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Einundfünfzigster Brief.
Antwort.

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Inhaltsverzeichnis

Es ist keine Zeile in Ihrem Briefe, die mir nicht das Blut gerinnen macht, und ich habe Mühe zu glauben, nachdem ich ihn zwanzig Mal gelesen, daß er an mich gerichtet ist. Was? Ich? Ich hätte Julie beleidigt? Ich hätte ihre Reize entweiht? Sie, der ich in jedem Augenblicke meines Lebens Anbetung darbringe, wäre Beschimpfungen meinerseits zum Ziele geworden? Nein! lieber hätte ich mir tausend Mal das Herz durchbohrt, ehe ihm eine so barbarische Absicht nahe gekommen wäre. Ach, wie schlecht kennst du es, dieses Herz, das dich vergöttert, dieses Herz, das fliegt und sich unter jeden deiner Tritte verehrend niederwirft, dieses Herz, das für dich neue, den Menschen unbekannte Huldigungen erfinden möchte, wie schlecht kennst du es, o Julie, wenn du es anklagst, gegen dich der alltäglichsten, gemeinsten Achtung zu ermangeln, die ein gewöhnlicher Liebhaber seiner Schönen zollen würde! Ich glaube weder unverschämt noch brutal zu sein, ich hasse unanständige Reden und werde in meinem Leben nicht Orte betreten, wo man sich daran gewöhnt, sie zu führen. Aber, daß ich es nach dir noch einmal sage, daß ich ihn überbiete, deinen gerechten Unwillen: wenn ich der niedrigste der Menschen wäre, wenn ich aufgewachsen wäre im Kothe der Lüste, wenn der Geschmack an schändlichen Vergnügungen Raum finden könnte in einem Herzen, worin du herrschest, o sage, Julie, Engel vom Himmel, sage, wie könnte ich vor deine Augen die Frechheit bringen, die man nur denen zu zeigen wagt, welche sie lieben. Nein, nein, es ist nicht möglich. Ein einziger deiner Blicke hätte meinen Mund gezügelt und mein Herz gereinigt. Die Liebe hätte meine gefesselten Begierden mit dem Zauber deiner Züchtigkeit bedeckt; sie hätte es besiegt, ohne es zu beschimpfen, und in der süßen Vereinigung unserer Seelen hätte nichts als der Wahnsinn, der aus ihr stammt, Vereinigung der Sinne erzeugen können. Ich berufe mich auf dein eigenes Zeugniß. Sage, ob ich in der Raserei maßloser Leidenschaft je aufgehört habe, dem bezaubernden Gegenstande derselben alle zarte Scheu zu erweisen. Wenn ich den Lohn empfing, den meine Flamme verdient hatte, sage, ob ich mein Glück mißbrauchte, um deine süße Scham zu beleidigen. Wenn mit schüchterner Hand die glühende, furchtsame Liebe manchmal an deine Reize rührte, sage, ob je eine rohe Verwegenheit dieselben zu entweihen wagte. Wenn den Schleier, der sie verhüllt, ein zu kühnes Selbstvergessen einen Augenblick lüftet, ersetzt ihn nicht die liebenswürdige Scham durch den ihrigen sogleich? Diese heilige Hülle, würde sie einen Augenblick von dir weichen, und wenn du keine andere hättest? Hat, unverderblich wie deine sittige Seele, alle Glut der meinigen je sie getrübt? Ist diese so rührende, so zärtliche Vereinigung nicht genug zu unserer Wonne? macht nicht sie allein das ganze Glück meines Lebens aus? kennen wir auf der ganzen Welt andere Freuden außer denen, welche die Liebe schenkt? wünschten wir je andere zu kennen? Kannst du es begreifen, wie dieser Zauber hätte zerstört werden können? Wie! ich hätte in einem Augenblick Alles vergessen, Sitte, Liebe, Ehre und die unüberwindliche Achtung, die ich stets für dich gehabt hätte, auch wenn ich dich nicht anbetete! Nein, glaube es nicht; das war nicht ich, der dich verletzen konnte; ich habe keine Erinnerung davon; und wenn ich einen Augenblick strafbar gewesen wäre, würde mich je die bittere Reue verlassen? Nein, Julie, ein Dämon, neidisch über ein Geschick, das zu glücklich ist für einen Sterblichen, hat meine Gestalt angenommen, um es zu trüben, und hat, um mich desto verächtlicher zu machen, nicht mein Herz dazu genommen.

Ich schwöre ab, ich verdamme eine Missethat, die ich begangen habe, da du mich ihrer anklagst, an der aber mein Wille keinen Theil hat. Wie will ich sie verabscheuen, diese unselige Unmäßigkeit, die mir dem Erguß des Herzens günstig schien, und die so grausam das meinige Lügen strafen kann! Ich beschwöre bei dir den unwiderruflichen Eid, von heute an entsage ich für mein ganzes Leben dem Wein, wie dem tödtlichsten Gifte; nie wird mir wieder dieses verderbliche Naß die Sinne trüben, nie meine Lippen beflecken, nie wieder sein bethörender Wahnsinn mich unwissentlich strafbar machen. Wenn ich dieses feierliche Gelübde breche, Gottheit der Liebe, züchtige mich, wie ich es verdient habe: möge im Augenblick das Bild meiner Julie auf ewig aus meinem Herzen weichen, und es der Gleichgültigkeit und Verzweiflung zur Beute lassen.

Denke nicht, daß ich mein Verbrechen mit einer so leichten Strafe abbüßen will; es ist eine Vorsichtsmaßregel, keine Strafe: ich erwarte von dir die, welche ich verdient habe, ich erflehe sie von dir, um meine Reue zu lindern. Möge sich die beleidigte Liebe rächen und besänftigen; bestrafe mich, aber hasse mich nicht, ich werde dulden, ohne zu murren. Sei gerecht und streng; es muß sein, ich willige darein; aber, wenn du mir das Leben lassen willst, nimm mir Alles, nur nicht dein Herz.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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