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VI

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Noch heute, unmittelbar vor meinem endgültigen Abgang, stelle ich mir immer wieder die Frage: Warum war es uns Ostdeutschen auf einmal, im Herbst ’89, so wichtig, spontan, sofort und geradezu kopf- und führungslos in die deutsche Einheit zu rennen? Gewiss, die Lage war angespannt in der DDR. Und die SED hatte ihren Kredit verspielt. Die Bevölkerung wollte nicht mehr, nicht mehr so. Alles richtig! Aber beginnt man deshalb ohne Führung eine Revolution? Immer vorausgesetzt, die „friedliche“ war eine solche! Selbst für den Zusammenschluss von zwei Handwerksbetrieben braucht man zumindest annähernd gleichberechtigte Verhandlungspartner. Das denke ich mir so als Nichtpolitiker und Nichtfachmann, aber vielleicht irre ich mich auch?

Wir, die Ossis, brauchten das bei der Aufgabe unseres Landes offenbar nicht. Wir hatten ja erfahrene Brüder und Schwestern da drüben. Die würden es schon richten. Was sie dann auch taten. Wir aber, wir wollten sie unbedingt und schnell, die Freiheit oder die D-Mark, was ein Synonym für das Gleiche war in den meisten unserer Köpfe. Na schön, heute wissen wir es besser. Ich auch. Man muss nur zuhören in den Wirtshäusern. Vielleicht erinnerst du dich an mein Erlebnis in der finsteren polnischen Bar. Das prägt. Jeder im Osten hatte damit Erfahrungen gesammelt, nicht nur im Ausland, auch im einheimischen Intershop, in den Nobelhotels und, zumindest in den letzten Jahren vor dem 3. Oktober 1990, sogar mit Handwerkern und anderen Dienstleistern. Die D-Mark war zur Zweitwährung im eigenen Land geworden. Wer sie besaß, war privilegiert, wer nicht … na, das hatten wir schon. Nein, so erzieht man keine Staatsbürger, im weitesten Sinne des Wortes.

Jeder, der in der DDR eine Schule besucht hatte, wusste, egal ob er es von Rousseau, Robespierre, Marx, Engels, Lenin, Napoleon oder sogar Stalin gelernt hatte, dass eine Revolution ohne Programm und Führung nicht gewonnen werden kann. Dafür gibt es tatsächlich kein Beispiel in der Geschichte. Doch das sind heute überflüssige Fragen. Damals hätten wir sie stellen müssen! Aber – niemand unter den „Deutschen Demokratischen Revolutionären“ war offen für kritische Überlegungen. Es gab nur eins, vorwärts, vorwärts, vorwärts. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob und wann bei einigen der Punkt erreicht war, von dem an sie die Veränderungen im Land kritisch zu sehen begannen. Falls überhaupt jemals. Auf jeden Fall war es zu spät. „Ist ein Pfeil einmal vom Bogen geschnellt, kann keine Macht der Welt ihn zurückholen“, sagte der große Mongolenführer Temudschin, der später zum Dschinghis Khan wurde. Und der wusste, wovon er sprach.

Ich jedenfalls fuhr von da an nur noch gelegentlich zur Montagsdemo nach Leipzig. Es war ja richtig, dass die Zeit reif für revolutionäre Veränderungen war. Nur die Ungeduld des immer unzufriedener werdenden Volkes war eine kaum noch zu beherrschende Triebkraft. Wer behielt da schon einen kühlen Kopf? Das fragte ich mich immer häufiger, bis es sich nicht mehr verdrängen ließ. Angst vor der Zukunft stieg in mir hoch. Niemand schien darüber nachzudenken, dass man bei einer eventuellen Wiedervereinigung nichts geschenkt bekommen würde. Kampf würde es bedeuten, nicht Kuschel-Kurs! Einen Einigungsvertrag aushandeln zumindest auf annähernder Augenhöhe! Wer sollte das tun, wenn alle Autoritäten und Fachleute des eigenen Landes unter Generalverdacht gestellt, beschimpft und schließlich abgewählt wurden? Auf welcher Rechtsgrundlage auch immer? Wer dachte schon darüber nach, dass die Früchte, selbst der friedlichsten der vorangegangenen Revolutionen, nie in den Taschen der Revolutionäre, sondern in denen der Geschäftemacher gelandet waren? Und was erst geschehen wird, dachte ich manchmal, wenn es aufseiten der Revolutionäre weder ein klares Ziel noch eine autorisierte Führung gibt? Wahrscheinlich ein böses Erwachen! Wir hätten es wissen können, wie es geht nach vergeigten Revolutionen, denn so ähnlich muss es schon 1848 gewesen sein, sinnierte ich. Georg Werth oder Heinrich Heine, jedenfalls einer der Achtundvierziger, glaube ich, schrieb damals: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht!“

Dem muss es ähnlich ergangen sein wie mir, dachte ich. In unserer Euphorie schrien wir zwar laut: „Weg mit der SED-Herrschaft!“, „Stasi in den Tagebau!“, „Freiheit für Wort und Schrift!“ und so weiter und so fort. Forderungen, aber kein Programm für die Zukunft. Bereits zwei Jahre später wären ein paar Millionen Ostdeutsche glücklich gewesen, hätten sie wenigstens im Tagebau arbeiten dürfen.

„Reisefreiheit!“ – Wer wollte die nicht? Aber war das ein wichtiges Ziel in einer Revolution? Alle wollten alles. Möglichst sofort! Und alles sollte aus dem Westen kommen! Umsonst? Oder zu welchem Preis? Mir jedenfalls wurde es manchmal ganz schlecht, wenn ich auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz die Tiraden der selbsternannten Tribunen zu hören bekam. Nur wenig früher als die Geschäftemacher aus dem Westen, mithilfe der Treuhand, schleichend aber seelenruhig und unbehelligt ihre Claims absteckten.

Spontane Revolutionen sind chancenlos, wenn niemand sie führt. Das schrieb Altgenosse Lenin bereits 1905 als Lehre nach der vergeigten ersten russischen Revolution. Eine, die noch bürgerliche Ziele verfolgte. Wenn es stimmt, hat er wohl recht gehabt. Nicht nur in der DDR überschlugen sich die Ereignisse. Auch in Ungarn, Rumänien, Tschechien. Eine organisierte Führung gab es aber nur in Polen. Die Völker des Ostblocks wollten nicht weiter experimentieren an einem gescheiterten System, aber was sie stattdessen wollten, wussten sie nicht genau. In der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wusste man es: Absatzmärkte, preiswerte Produktionsstandorte und ein unerschöpfliches Arbeitskräftereservoir. „Wehe den Siegern?!“

Aber immer wieder verdrängte ich diese trüben Gedanken. Erst, als ich mit meiner Brigade „Stromschnelle“ im Schulterschluss um den Leipziger Ring marschierte, später dann im Wirtshaus zum „Roten Oktober“ in Wolfen Nord, wenn ich gemeinsam mit den anderen Arbeitslosen Zukunftspläne schmiedete.

Und dann war da plötzlich auch noch etwas Unvorhersehbares. In der „Hauptstadt der sozialistischen Weltbewegung“, also in Moskau, ging ein neuer, leuchtender roter Stern auf. Ein Messias, so schien es, der einen Sozialismus wollte mit freundlich lächelndem Gesicht. Selbstbestimmung der Völker auch und noch andere schöne Dinge. Ohne Alkohol zwar, aber vielleicht blieb das eine „nationale Besonderheit“? Wir hofften es. Zumindest glaubte das DDR-Volk, ich auch, mit ihm, dem Messias, werde Licht am Tunnelausgang erscheinen. Das wollten alle glauben, als sie „Gorbi, Gorbi“ schrien. Wie leichtgläubig sind die Völker eigentlich? Ähnlich geschrien haben bereits 2000 Jahre zuvor andere. „Hosianna“ schrien sie, nur um ihn, ihren Messias, kurze Zeit später ans Kreuz zu nageln.

Die bitteren Realitäten im Riesenland Sowjetunion nahm zunächst kaum jemand zur Kenntnis. Dass Gorbatschow lediglich, wenn auch zu spät, die realistischen Konsequenzen aus dem drohenden Zusammenbruch des eigenen Systems zog, wollte niemand sehen. Eine DDR am Tropf konnte schnell zum Mühlstein am Hals der Sowjetunion werden. Das war die Realität. Selbst sein Riesenreich konnte sich das nicht mehr leisten. Ihm selbst, dem Messias, stand das Wasser schon bis zur Halskrause. Weg mit dem Ballast, solange es noch etwas dafür gab. Nicht nur die DDR, auch Kuba, das täglich Millionen verschlang. Auch dort ging es nicht weiter, nur stundenlange Monologe des Revolutionsführers. Und dann das „sozialistische Weltsystem“, ein Verein, der immer mehr kostete als er einbrachte. Dafür schielten die Satellitenchefs ständig nach Westen, um sich auf Kosten der Brudervölker kleine Vorteile zu ergattern. Und dann waren da noch die Unruhen im eigenen Land. Und der verhängnisvolle Krieg in Afghanistan (Sowjetischer Truppenabzug 1989). Er musste amputieren, der relativ junge Genosse Generalsekretär, eins nach dem anderen, nur schnell, wenn er den Körper erhalten wollte.

„Der Starke ist am mächtigsten allein“, schrieb Schiller im Tell, glaube ich. Den musste er gelesen haben, der glücklose Messias in Moskau. Doch es nützte ihm nichts mehr. Er kam zu spät und so bestrafte ihn das Leben mit dem eigenen politischen Ende. Nein, die ursprüngliche Absicht des Reformers war es wohl nicht, das sozialistische Weltsystem aufzulösen und sicher auch nicht, der Verkauf der DDR an die Bundesrepublik Deutschland. Nur, seine Reformen kamen zwei Jahrzehnte zu spät. Inzwischen war das Fundament so marode, dass nicht mehr reformiert oder umgestaltet, sondern nur noch aufgegeben werden konnte, bis hin zur Sowjetunion selbst. Was für eine schöne steile Vorlage, sagten sich unser guter Onkel Sam in Übersee und der deutsche Einheitskanzler natürlich auch.

Kaum wurden die Bande ein wenig gelockert, kam sie plötzlich mit Macht hoch, die empfundene Entmündigung durch die SED und ihre Subalternen. Das Volk der DDR wollte frei sein, wie seine Brüder und Schwestern vom Rhein es waren. Aber was verstanden wir unter „Freiheit“? Die D-Mark und Reisen, nicht nur nach Prag und Budapest, auch durch Europa weit westlich von Spree und Pleiße wollte es fahren, das Volk. Natürlich am Steuer von Westautos und mit harter Währung in der Tasche. Na ja, und 16 Jahre warten auf einen Wartburg wollte es auch nicht mehr. Unkontrollierte Reden wollte es hören und schreiben, was und wie jeder wollte. Zumindest der intellektuelle Teil des Volkes wollte das. Und der war groß, dank eines durchgehend funktionierenden Systems von Bildung und Ausbildung in der DDR. Aber viele, sehr viele wollten einfach nur lesen. Nicht, was geschah, sondern was geschehen sein könnte, nicht trocken und langweilig wie im ND, dem „Neuen Deutschland“, sondern volksnah, wie es zum Beispiel BILD so schön konnte. Ein wahres Kuriosum der Geschichte.

Führer brauchte es nicht, das deutsche Volk im Osten. Die hatte es lange genug gehabt in seiner Geschichte. Solche und andere! Nur betrogen wurde es immer. Jetzt endlich sollte damit Schluss sein. Wir hatten ja die Brüder und Schwestern da drüben und die würden es schon richten. Davon waren die meisten irgendwann überzeugt und so wurde aus der Losung „WIR SIND DAS VOLK“

bald „WIR SIND EIN VOLK“. Von wem sie stammte war egal, selbst wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte nachzulesen. Das ist natürlich Quatsch. Ich bitte um Entschuldigung. In der DDR konnte man es ja nicht nachlesen! Darum ging es aber nicht. Irgendwie entlarvender war dann schon eher die Losung: „KOMMT DIE D-MARK NICHT ZU UNS, GEHEN WIR ZU IHR!“ Das riefen sie, die Demonstranten, die einmal die Freiheit auf ihr Banner geschrieben hatten. Laut und fordernd, beim Marsch um den Leipziger Ring und anderswo. Das war ein wenig später. Da war auch ich dabei, trotz aller Bedenken in der Nacht. So ist das wohl. Wer im Malstrom schwimmt, schwimmt mit ihm. Ein rettendes Ufer gibt es für ihn nicht. Nein, ein Entschuldigungsversuch für mich ist das nicht! Nein! Nein! Nein! Nur die späte Erkenntnis, dass vor allem wir selbst es waren, die den Druck auf die noch Regierenden aufgebaut haben, nicht nur die Anderen.

Im Malstrom

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