Читать книгу Im Malstrom - Jürgen Petry - Страница 15

VII

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Ich lief weiter mit um den Leipziger Ring, schrie auch, aber nicht mehr mit Inbrunst, denn ich wusste nicht mehr, wonach ich da schrie. Eine unbestimmte Angst vor der Zukunft schnürte mir immer mehr die Luft ab. Manchmal ging ich auch ohne zu demonstrieren allein durch die Stadt, um nachzudenken, sah die verfallenden, schmutzig-grauen Fassaden, die halbleeren Geschäfte und die teils verbissenen, teils fröhlichen Gesichter. Was richtig war und was falsch, wusste ich nicht mehr. Meist ging ich nach der Demo noch in die „Bodega“. Das war eine kleine Bar in einer der Leipziger Passagen. Heute würde man sagen eine Szenekneipe. Dort konnte man ein seltsames Schauspiel beobachten, wie es vielleicht nur in Deutschland, egal ob Ost oder West, möglich war. Links standen die noch erregten Demonstranten, rechts die müde und unsicher wirkenden Polizisten. Hier standen sie friedlich, wenn auch nicht gerade vereint, an der gleichen Theke. Sah ich das, glaubte ich immer weniger, dass das alles für mich etwas bringen würde. Den Begriff „Friedliche Revolution“ gab es ja noch nicht. Der wurde erst nachträglich erfunden. Und komisch, immer wieder beruhigte ich meine Bedenken. Weil ich sie beruhigen wollte.

Das Grundgesetz für den Ausbruch einer Revolution hatten wir im Osten ja alle gelernt. Widerwillig, zugegeben, weil es mit Penetranz ständig wiedergekäut wurde. Aber einiges davon war doch bei fast jedem hängengeblieben. Heute weiß ich nicht mehr, wer es aufgeschrieben hatte, das revolutionäre Grundgesetz. Marx vielleicht oder Lenin oder gar Mao, die rote Sonne? Egal, jedenfalls einer von ihnen muss es gewesen sein! Dort hieß es, die Revolution bricht aus, wenn die da unten nicht mehr so leben wollen (das traf ja erst einmal zu) und die da oben die Herrschaft zu ihren Bedingungen nicht mehr aufrechterhalten können (auch das war so). Trotzdem fehlte etwas. Wo wollten wir hin? Was, wenn sie verflogen sein wird, die Euphorie des spontanen Aufbruchs, und die langen Mühen der Ebenen begannen? Ja, ja, „die Gedanken sind frei“!

Eine Führungsmannschaft muss sein, im kommunistischen Vokabular „Vorhut“ genannt. Das ist die, die dem Volk sagt, wo es langgeht, und es nicht losstürmen lässt wie eine durch Wolfsgeheul aufgescheuchte Schafherde. Ja, auch das ist wohl von Marx, dem übergroßen Revolutionstheoretiker. Aber ist es deshalb schon falsch? Lehrbeispiele für kopflose Revolutionen gab es doch genug, nicht nur in Deutschland. Die erste hier bei uns fand sogar auf DDR-Gebiet statt. Vor genau 464 Jahren, von 1989 an gerechnet. Am 15. Mai 1525 waren die schlecht geführten Bauernhaufen von einem gut organisierten aber kleinen Ritterheer bei Bad Frankenhausen vernichtend geschlagen worden. Und das bei zehnfacher Überzahl der Bauernhaufen. Auch das hatten wir gelernt. Das leuchtete mir damals ein. Ich hatte ja auch gelesen, dass, ungefähr 300 weitere Jahre zuvor, ein kluger Chinese, der Name ist mit leider auch entfallen, mit anderen Worten das Gleiche gesagt hatte. Es war der Berater des bereits erwähnten Mongolenherrschers Dschinghis Khan. Der hatte ihm sinngemäß empfohlen: „Du kannst den Erdkreis im Sattel erobern, aber regieren kannst du ihn vom Sattel aus nicht.“

Eine Frage beschäftigt mich bis heute. Warum war sie eigentlich so untypisch friedlich, diese Revolution? Weil wir Zehntausende waren, die jeden Montag friedlich um den Ring marschierten? Vielleicht! Aber siehe 1525. Oder weil wir laut und deutlich riefen: „KEINE GEWALT“? Vielleicht auch deshalb! Nur, fragte ich mich, haben je zuvor in der Geschichte, in der deutschen oder der anderer Völker, Herrschende ihre Macht abgegeben, nur weil Revolutionsmacher Gewaltlosigkeit für sich einforderten? Falls doch, dann muss ich in der Schule geschlafen haben. Möglich ist das schon, das mit dem Schlafen. Es soll ja vorgekommen sein. Nur, gelernt habe ich dort etwas ganz anderes. Und das habe ich nicht vergessen, weil es mich schon damals beunruhigte. Es war die glasklare Mahnung eines parteieigenen Dichters: „Seht, die Macht ist euch gegeben, dass ihr sie nie, nie mehr aus euren Händen gebt.“ Nein, das war nicht nur so dahergeschwätzt, sondern Parteidoktrin und damit die des Staates. Wer so spricht, denkt auch so, denn er will die Macht in seinen Händen behalten, egal wie, denke ich. Will man jemandem mit einer solchen Doktrin die Macht nehmen, dann braucht es Gewalt. Das ist doch deutlich genug. Trotzdem fiel kein Schuss. War es ein Wunder oder doch etwas ganz anderes?

Wunder sind allerdings selten in dieser aufgeregten Zeit! Wurde „Keine Gewalt“ möglich, weil das ganze sozialistische Fundament ins Rutschen kam? Möglich schon! Oder weil die Sowjetunion, die einst so ruhmreiche, ihrem Satelliten DDR die Unterstützung ihrer hier stationierten 50 Divisionen verweigerte? Auch das mag zutreffen. Oder weil die Volkspolizei bereits zögerlich agierte und die Armee des Volkes nicht mehr verlässlich war? Stimmt alles! Doch Gewalt wird ja nicht nur eingesetzt, wenn man sich des Sieges sicher ist und dafür wiederum gibt es genügend Beispiele in der Geschichte. Nein, ganz machtlos waren sie nicht, die Herrschenden der DDR im Herbst ’89. Da gab es ja noch die Truppe „Schild und Schwert der Partei“ und die stand ja wohl sicher zu ihren Auftraggebern!

Man hätte sie auf die Straße hetzen können, so wie es einst der israelitische König David mit seinen Krethi und Plethi, der Leibwache und dem Sicherheitsdienst, mit Erfolg getan hatte gegen eine riesige Übermacht der Aufständischen und seinen eigenen meuternden Heerscharen. Gut, David stand mit GOTT dem HERRN im Bündnis, sagt man. Krenz nicht, wie man weiß! Aber das entscheidet vielleicht über Sieg oder Niederlage, nicht aber über den Einsatz von Gewalt an sich?!

Im Kampf siegt ja keineswegs immer der, der im Recht ist. Und der mit den zahlreicheren Truppen, Gewehren und Unterstützern auch nicht. Oft aber der, der über die disziplinierteren Kämpfer verfügt. Wir haben es ja gelesen, was 1525 geschah auf dem Schlachtfeld bei Bad Frankenhausen. Doch der Sicherheitsdienst der DDR wurde nicht gegen das eigene Volk eingesetzt. Der Gedanke wurde gar nicht erwogen. Im Gegenteil, der Oberbefehlshaber aller Waffenträger des Landes, Egon Krenz, setzte sich mit allen Mitteln ein, dass kein Schuss fiel gegen uns, die Demonstranten. Warum wohl, bei einer Staatsdoktrin mit der eindeutigen Aussage: „Die Macht ist euch gegeben, dass ihr sie nie, nie mehr aus euren Händen gebt“? Ich kann es nicht beantworten, denn ich bin einfacher Elektriker und kein Historiker. Als Mensch denke ich mir aber, vielleicht war die „Friedliche Revolution“ ganz anders. Nicht nur eine von unten, sondern zugleich eine von oben, entgegen allen Lehren?

Von der genauen Höhe des DDR-Schuldenberges wusste man in Moskau erst, nachdem Egon Krenz bei seinem Antrittsbesuch in Moskau, am 31. Oktober 1989, Gorbatschow und Schewardnadse genügend reinen Wein über die wahre Lage der DDR-Wirtschaft, wie sie ihm der Saarländer hinterlassen hatte, einschenkte, schreibt Egon Bahr. Das muss dann wohl der Moment gewesen sein, der den Sowjetführern, denen selbst das Wasser schon bis zur Unterlippe stand, den Blick für die Realität frei machte. Das schreibt Bahr nicht, lässt es uns aber folgern. Besser Milliarden aus Bonn für den Verkauf der DDR, als Milliarden aus der Sowjetunion in die DDR. Das könnte man sich so gesagt haben, denn rechnen konnten sie, die Genossen im Kreml, immer schon. Nur eins leuchtet mir nicht ein, wenn es wirklich so war: Warum hat Egon Krenz dann nicht dazu in Moskau lieber geschwiegen?

Ich glaube eher, dass sie im Kreml und der Lubjanka recht gut wussten, wie es um die Bonität der DDR stand. Wozu waren denn ihre eigenen „Krethi und Plethi“ und deren zahllose deutsche Helfershelfer sonst nütze? In Moskau wusste man sehr genau, denke ich, dass sich nicht mehr viel rausholen ließ aus ihrem Satellitenstaat DDR. Nicht mit ihren, den sowjetischen Methoden! Mit denen unserer Brüder und Schwestern allerdings schon. Und zwar Milliarden, nur eben nicht auf direktem Wege. Und das war es, was man sich in Moskau sicher nicht vorstellen konnte. Und Krenz konnte es vielleicht auch nicht, wie wir alle damals. Aber was seine Moskauer Genossen über die DDR-Bonität wirklich wussten, das wusste ganz bestimmt auch er bei seinem Antrittsbesuch am 31. Oktober 1989, selbst wenn er es nicht aufschrieb in seinem Buch „Herbst ’89“. Er war jahrelang der Verantwortliche für die DDR-Sicherheitsdienste! Und die … na, lassen wir es lieber!

Vielleicht wollte er dort nur testen, woran er war? Vielleicht den Genossen in Moskau aber auch nur eine Brücke bauen, weil er ahnte, was sowieso kommen würde? Schön, das ist Politik. Also sagten sie, was sie dachten, seine Genossen Gorbatschow und Schewardnadse, damals in Moskau. Natürlich nicht ihm, ihrem treuen Verbündeten Egon Krenz, dafür aber dem guten Onkel Sam in den USA und später sogar dem Kanzler in Bonn. Auch Krenz ließen die Moskauer Freunde nicht lange im Regen stehen. Nein, nein! Nur ein paar Monate später sahen sie mit verschränkten Armen zu, dass er schnell ein dichtes Dach über den Kopf bekam, ein Gefängnisdach! So, wie sie auch beim Saarländer zusahen, der doch noch viel länger ihre Interessen vertreten hatte. Na, es wird ihm die Augen geöffnet haben, ich meine Krenz, der noch in dem bereits erwähnten Buch „Herbst ’89“ schrieb: „Die Sowjetunion ist meine zweite Heimat.“ Schöne Heimat! Wie schrieb doch dagegen ein zweifelhafter englischer Politiker? „England hat weder ewige Freunde noch ewige Feinde. Es hat nur ewige Interessen!“ Ja, auch vom Klassenfeind lernen, heißt siegen lernen!

Auch in der DDR-Führung und anderswo müssen die Zweifel an dem real existierenden Sozialismusmodel gewachsen sein. Logisch! Nicht bei allen. Nicht an allem. Aber am Dogma der Unfehlbarkeit der Partei wohl doch. Zumindest der Glaube an die These „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ war tief erschüttert. In Warschau und Bukarest, Prag, Budapest und vor allem in Moskau selbst. Nicht erst 1989 begannen einige eine neue These aufzustellen: „Rette sich, wer kann“ oder „Unser Hemd ist uns näher als das Sicherheitsbedürfnis der DDR“. Was dann vor sich ging, wissen wir nicht genau. Doch Ende Dezember ’89 nahmen Washington und Bonn das Heft des Handelns in die Hand. Das sagte Egon Bahr, richtig, aber man spürte es damals auch ohne es zu wissen. Was genau ablief, wird vielleicht erst die übernächste Generation erfahren, wenn wieder einmal die Archive gelüftet werden sollten. Nur für mich, den Leiter der Brigade „Stromschnelle“, war und ist es unvorstellbar, dass ohne ein Signal aus Moskau überhaupt etwas möglich gewesen wäre.

Und nun? Das Volk der DDR stand auf der Straße. Sollten sie den „real existierenden Sozialismus“ der Welt allein verteidigen, die Herrschenden der DDR? Ohne dieses Volk? Vielleicht mit einem neuen, wie Brecht einst geraten hatte? Mit einer unsicheren Volksarmee und einer sich bereits vorsichtig umorientierenden Volkspolizei? Gestützt allein auf die Staatssicherheit? Gesetzt den Fall, der Kampf wäre gewonnen worden, ein paar tausend Tote als Kollateralschaden eingerechnet! Was dann? Die Löcher in der Mauer waren bereits groß. Und Verbündete? Wer wäre da geblieben? Albanien? Nordkorea? Kuba? China? Nein, China nicht! Die Chinesen setzen nie auf das schlechtere Pferd.

Der Sieg hat viele Väter! Daran, dass Krenz sich 1989 den Realitätssinn bewahrte, denkt heute niemand. Vielleicht hätten wir Grund, auch ihm zu danken, zumindest dafür, dass „Keine Gewalt“ möglich wurde? Das glaube ich heute und wiederhole mich! Vielleicht war ja die „Friedliche Revolution“ von 1989 eine von unten und zugleich eine von oben? Eine Theorie dafür gibt es nicht. Die Frage stellte ich mir ja auch nicht damals im Herbst 89, sondern heute kurz vor meinem Abgang ins Jenseits. Na, ich bin sicher, dass irgendwann auch das, was wirklich zu dieser „Friedlichen Revolution“ führte einmal objektiv untersucht werden wird, etwa so, wie man heute, nach 100 Jahren, vorsichtig beginnt, die wahren Ursachen für den Ausbruch des I. Weltkrieges offenzulegen. Schade, dass ich das nicht miterleben kann, denn interessieren würde es mich schon. Ich war ja ein direkt Betroffener, denn mitrevolutioniert habe ich. Das streite ich nicht ab.

Freiheit für alle und Gerechtigkeit forderten wir 1989! Lächerlich! Ja, so naiv kann man sein im Rausch der Ereignisse. Als hätte je eine Revolution Gerechtigkeit für alle gebracht und auch noch Freiheit. Stolz zitierten wir auf unseren Transparenten das Wort der Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Heute auch noch? Na, dann versuchen wir es doch mal! Vielleicht zuerst in der eigenen Firma?

Gehörte sonst noch etwas dazu zur Freiheit, die wir im Herbst 1989 hätten fordern sollen? Ja! Das Recht auf Arbeit. Erst später fiel mir ein, dass ich diese Forderung auf keinem Plakat gelesen habe. Na ja, und weil es keiner gefordert hat, haben wir es eben auch nicht bekommen. So einfach ist das!

Missbraucht hat dieses Grundrecht auf Arbeit in der DDR am meisten der Saarländer selbst. Zumindest hat er indirekt die Grundlagen für den massenhaften Missbrauch geschaffen. Das war, als er zu Beginn seiner Herrschaft populistische Reformen einführte, auf deren Grundlage der Disziplinverfall in den Betrieben zu wuchern begann. Dazu zähle ich das schrittweise Untergraben der Autorität der Leiter, die Stärkung des Einflusses gesellschaftlicher Organisationen in den Betrieben oder die Arbeitsplatzbindung von Kriminellen, Asozialen und Arbeitsscheuen. Womit kann die Arbeitsmoral eigentlich schneller untergraben werden als mit einer garantierten Straflosigkeit für chronische Faulpelze? Ich weiß es nicht. Andere, die es hätten wissen müssen und ändern können, taten nichts. So fuhr das Staatsschiff DDR in aller Gemütsruhe auf den Malstrom zu und was dort geschieht, kann man nachlesen. Am besten bei Edgar Allan Poe, dem amerikanischen Schriftsteller.

Im Malstrom

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